Die Phänomenologie des Lesens

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Jörn Budesheim
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Mo 16. Sep 2019, 18:52

Hier soll es um unseren Lese-Erfahrungen selbst gehen. Wie ist das, wenn man einen philosophischen Text liest bei euch? Das ist eine Auskopplung aus einem anderen Faden.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 22. Jul 2019, 11:44
Ich lese gerne Texte, bei denen ich das Gefühl habe, sie seien "für mich" geschrieben, bzw. das Gefühl habe, die Stimme des Autoren zu hören. [...] in eine Art Zwiesprache mit ihm zu kommen, so als wenn man "direkt" mit ihm reden würde. Man sagt manchmal: das spricht mich an.
Nauplios hat geschrieben :
Mo 16. Sep 2019, 17:06
Ich höre bei keinem Text den Autor so "als wenn man `direkt´ mit ihm reden würde" - nicht mal bei Blumenberg, den ich über Jahre in seinen Vorlesungen gehört habe. [...] "Zwiesprache"? - Hm ...
Ich höre mir seit jeher regelmäßig Vorlesungen zur Philosophie an. Nach dem Studium (der Kunst) noch an der Uni, später dann bevorzugt Mitschnitte. Eine der ersten Sachen, die ich gehört habe (damals noch auf CD-ROM), waren mehrere Vorlesungs-Mitschnitte von Wolfgang Welsch. Wenn ich danach oder dazu Texte von ihm gelesen habe, hatte ich das Gefühl, ihn direkt "bei mir" zu haben, ja als würde ich seine Stimme und seinen Rede-Rhythmus hören.

Zwiesprache heißt, dass man mit dem Text mitgeht, Einwände erhebt, zu stimmt, manchmal das Buch beiseite legt und versucht, die Gedanken fort zu spinnen. Wenn der Autor gut schreibt und das Thema interessant ist, dann ist das ein regelrechtes Hochgefühl. Wenn es sehr gut ist, dann passiert es leider auch oft, dass man das Buch öfter zur Seite legt, als vielleicht gut ist, um selbst herum zu spinnen... es kann aber auch das Gegenteil passieren, wenn er "zu gut" schreibt, dann ist man zu begierig voranzukommen und liest zu schnell.

Ein interessantes Beispiel ist Paul Feyerabend. Ich habe mal Texte von ihm gelesen, die von einem Übersetzer vom Englischen ins Deutsche übertragen wurden. Der Übersetzer hat es geschafft, alles Lebendige aus den Texten zu tilgen. Das war Mord! Und dann habe ich die Texte von Feyerabend gelesen, die er selbst auf Deutsch geschrieben hatte - ein Unterschied wie Tag und Nacht. Hier hat man Feyerabend sprechen hören, in der Übersetzung war er stumm.

Was ich nur sehr schwer ab kann ist, wenn der Autor prätentiös, manieriert, bemüht, gestelzt, gespreizt oder zu fett (sucht euch davon was aus) schreibt. Am besten mit einem Ausdruck von "Seht her, wie gut ich schreiben kann!" ...
Nauplios hat geschrieben :
Mo 16. Sep 2019, 17:06
Ich höre bei keinem Text den Autor so "als wenn man `direkt´ mit ihm reden würde" - nicht mal bei Blumenberg, den ich über Jahre in seinen Vorlesungen gehört habe.
Aber immerhin verstehe ich jetzt, warum meine Versuche z.b. über das "üh" in dem Gute Nacht Lied zu sprechen, zu nichts geführt haben.




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Nauplios
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Di 17. Sep 2019, 01:03

Ich habe die Frage nach meinen "Leseerfahrungen" und die weitere danach wie es ist, wenn ich einen philosophischen Text lese jetzt ein Weilchen hin und her gewendet. Das Ergebnis ist Ratlosigkeit. Ich kann jetzt besser verstehen, was gemeint ist mit der Wendung, ein Text ist ansprechend oder nicht ansprechend. Auch der Gedanke der "Zwiesprache" erschließt sich daraufhin nun besser. - Ich persönlich kenne das nicht.

Was ich vielleicht sagen kann: Angesichts meines Alters lese ich etwas selektiver als in früheren Jahren.




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Jörn Budesheim
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Di 17. Sep 2019, 07:45

Allein für sich selbst zu lesen ist kulturgeschichtlich ein relativ junges Phänomen. In unserem Kulturkreis galt es in gewissen Phasen sogar als anstößig und soweit ich weiß, war es teilweise sogar verboten. Lesen ist also ursprünglich eine Gemeinschaftserfahrung, das rührt sicherlich auch daher, dass zu den meisten Phasen unserer Geschichte nur Wenige lesen konnten. (Und man bedenke auch, dass wir über die weitesten Teile unsere Geschichte in oralen Kulturen gelebt haben.)

Wenn wir für uns selbst lesen, lesen wir uns dann nicht den Text selbst innerlich "leise" vor? (Wir spielen dann diese Gemeinschaftserfahrung in gewisser Hinsicht nach!) Ich habe auch schon gesehen, dass andere beim Lesen sanft ihre Lippen bewegen oder sich selbst den Text zeigen, um in der Zeile zu bleiben. Das sind doch bereits in einem weiten Sinne Dialogerfahrungen.

Man kann sich doch auch Gespräche mit anderen ausmalen und sich dabei ihre Stimme vorstellen. Und der Text ist schließlich die Stimme eines anderen. Wie ist das, wenn man den Brief einer bekannten Person erhält? Spielt nicht die Stimme (und eigentlich die ganze Erscheinung) der Person beim leisen Selbstvorlesen eine Rolle? Und "Bücher sind nur dickere Briefe ..." sagt Jean Paul.

Ich habe letztens in einem Chat zu einer befreundeten Künstlerin gesagt, "schade, dass du gerade mein breites Grinsen nicht sehen kannst." Woraufhin sie entgegnete, "ich sehe es!" Und ich glaube, genau so ist es. Die Phänomenologie der Präsenz des Anderen im Lesen ist relativ schwierig zu beschreiben, und vielleicht ist sie auch von Person zu Person verschieden, vielleicht sogar völlig verschieden. Aber es ist natürlich ein reales Phänomen. Unsere ganz allgemeine Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen, könnte hier eine gewisse Rolle spielen.




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Jörn Budesheim
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Di 17. Sep 2019, 07:51

Manchmal muss man auch nachhelfen. Wenn ich in ein Gedicht nicht reinkomme, aber das Gefühl habe, es würde lohnen, dann lese ich es mir laut vor. Dann höre ich zwar die eigene Stimme, aber das ist trotzdem ein erster Schritt...

Von Günter Grass habe ich mal gelesen, dass er sich alle seine Texte selbst laut vorliest, bis sie stimmig sind. Mit etwas Fantasie könnte man sagen, er spricht sie direkt zu uns. (Er nimmt für sich selbst unsere Höhrerfahrung vorweg!) Die Stimme spielt also ohne Frage eine große Rolle! Der Ton macht die Musik, heißt es ja.




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Jörn Budesheim
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Di 17. Sep 2019, 09:49

Ich erinnere mich noch als ich das erste mal einen Text von John Searle gelesen habe, wie ich da das Bild eines energischen jungen Mannes, der sich was traut im Kopf hatte. Aber da muss er mindestens schon 70 gewesen sein :-)




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Stefanie
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Di 17. Sep 2019, 17:55

Wie Nauplios habe auch ich die Frage hin und her gewendet.
Das Lesen von Romanen ist anders, als das Lesen von Sachtexten, speziell von philosophische Texten.
Bei Romanen spricht auf keinen Fall der Autor oder die Autorin zu mir, sondern die in der Geschichte handelnden Personen. Was genau es bewirkt, warum ein Roman mich anspricht oder nicht, kann ich gar nicht sagen. Mal weiß ich es nach den ersten Sätzen, mal nach 20 Seiten, und wenn es nicht klickt macht, lese ich nicht weiter.
Sachtexte aus meinem beruflichen Bereich lese ich sehr schnell, und vom Autor bzw. Autorin interessiert mich nur, wer das ist, aus welcher Ecke er oder sie kommt, und was es für ein Gericht ist. Reine Informationsbeschaffung. Wie übrigens auch bei Geschichte.

Bei philosophischen Texten und Inhalten wird es schwierig. Mitschnitte und Videos von Vorlesungen sind nicht für mich geeignet. Die Informationen kann ich in der rein gesprochenen Weise nicht verarbeiten. Es ist mühsam, macht in der Regel keine Spass, und ich mag es nicht, wenn mir ein Tempo vorgegeben wird. Gilt auch für Hörbücher, geht gar nicht.
Also bitte nur in Textform. :- )
Ich brauche einen Textmarker, Kugelschreiber und Post it. Manchmal ist das Unterstreichen von Stellen simultan mit dem lesen, manchmal erst nach dem lesen, dann gehe ich lesend zurück. Das wäre ein Dialog, aber nicht mit dem Autor, sondern mit Inhalt. Das Lesen wird auch durchaus mal unterbrochen, um etwas woanders nachzulesen. Wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin, oder nicht verstehe, frage ich, wie ist das gemeint, und nicht wie meint er das. Dazu eine Anmerkung mit Kugelschreiber und ein Post it.
Ich lese nicht laut.
Die Wir-Form mag ich nicht, ich werde nicht gerne vereinnahmt. Ebenso ein Stil, von dem man merkt, es ist mit Absicht hochtrabend und kompliziert geschrieben worden um das Ganze mehr intellektuell erscheinen zu lassen. Das war bei Herrn Rödel der Fall. Der Stil von Schmitz, den wir bei den Gefühle Themen hatten, ist mir zu...Sorry, kitschig. Der Text sollte klar sein, schnörkellos und die Position muss klar erkennbar sein, wie bei popper und Arendt, und nicht in Wort- und Satzgebilden untergehen.
Von meiner Mutter weiß ich, dass sie mir, als ich sprechen lernte, zu allem ein Wort sagen musste, ich zeigte auf was, und Mutter musste dann sagen was es ist und das nicht nur einmal. Vorlesen mochte ich als Kind nicht, daran hat sich bis heute nichts geändert.
Wenn wir für uns selbst lesen, lesen wir uns dann nicht den Text selbst innerlich "leise" vor? (Wir spielen dann diese Gemeinschaftserfahrung in gewisser Hinsicht nach!)
Zum ersten Satz...kann ich wirklich nicht sagen, ob das so bei mir ist. Aber eine gemeinschaftserfahrung nach spielen, wohl nicht. Ich möchte zu aller erst meine eigene Erfahrung mit dem Text machen, und dann beim sprechen über einen Text, werden diese Erfahrungen geteilt.

Die Beispiele mit dem Chat, oder dem Brief einer bekannten Person, sind sehr unterschiedlich zum lesen eines Sachtextes. Das ist ein Gespräch, und nicht das Erlernen und Erfassen von philosophischen Inhalten.



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Jörn Budesheim
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Di 17. Sep 2019, 19:25

Wenn du dir die Texte innerlich vorliest, dann spielst du die Gemeinschaftserfahrung des Lesens nach insofern du zugleich die Vorleserin als auch die Zuhörerin bist.




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Stefanie
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Di 17. Sep 2019, 19:41

Das hatte ich so auch verstanden, wie Du es meinst. Nur ...Ich empfinde es nicht so, dass ich mir den Text innerlich vorlese.



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Di 17. Sep 2019, 19:58

Stefanie hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 17:55
Bei Romanen spricht auf keinen Fall der Autor oder die Autorin zu mir, sondern die in der Geschichte handelnden Personen.
Was meinst du dann hiermit?




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Stefanie
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Di 17. Sep 2019, 20:28

Wenn ich einen Roman lese stelle ich mir anhand der geschriebenen Beschreibungen die Personen, die Orte usw. vor. Es ensteht ein Bild im Kopf, das Bild was ich mir mache. Wie das halt jeder so macht. Und man leidet eventuell mit den Personen mit.
Du "hörst" beim Lesen, wenn ich das richtig verstanden habe, den Autor reden, Rythmus etc. , das es spricht Dich an. Bei mir ist das bei Romanen und auch bei anderen Texte nicht so und schon gar nicht beim Autor bzw. Autorin. Das wollte ich sagen, da habe ich mich wohl ungenau ausgedrückt.



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Di 17. Sep 2019, 20:57

Es ist gar nicht leicht, auf die Schnelle etwas dazu zu finden: in dem Text heißt es, dass ca 80% der Menschen beim Lesen eine innere Stimme vernehmen.

https://ze.tt/hoerst-du-auch-beim-lesen ... inem-kopf/

Aber das ist eigentlich noch nicht 100%, das was ich meine... Gehört aber sicherlich zu den Voraussetzungen.




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Stefanie
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Mi 18. Sep 2019, 19:13

Woran merkt man denn diese Stimme beim lesen?



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Mi 18. Sep 2019, 19:22

Wenn dir das Phänomen unbekannt ist, dann ist es ziemlich schwierig zu erklären :) die Metapher von der inneren Stimme ist nicht schlecht.




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Alethos
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Mi 18. Sep 2019, 20:49

Also ich höre diese Stimme klar und deutlich. Und wenn ich da ganz tief im Text bin, weil er mich packt, dann höre ich sie zwischen durch auch nicht mehr.. dann ist alles nur noch ein Stimmenwirrwarr, ein lautes Brummen. Aber es ist ein tolles Brummen, eines mit viel Drive :) Ein Gemisch aus Stimme und Bild, sich überlagernd in einer imaginierten Welt.

Natürlich höre ich diese Stimme, was für eine Frage :)

Und manchmal lese ich mir meine Texte auch selber vor, weil sie klingen können müssen. Da geht es mir wie Günter Grass.



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Stefanie
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Do 19. Sep 2019, 20:31

Also diese Erlebnisse kenne ich wirklich nicht.



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Alethos
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Fr 20. Sep 2019, 06:32

Stefanie hat geschrieben :
Do 19. Sep 2019, 20:31
Also diese Erlebnisse kenne ich wirklich nicht.
Wie liest du denn? Ist das ein rein optisches Verfahren?



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Fr 20. Sep 2019, 06:41

Ja, genau die Frage habe ich mir auch gestellt.




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Stefanie hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 17:55
Die Wir-Form mag ich nicht, ich werde nicht gerne vereinnahmt.
Es gibt auch eine Wir-Form, bei der der Autor nur sich selbst meint...




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Stefanie
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Fr 20. Sep 2019, 09:40

Na, ich lese. Irgendwann gelernt.
Aber ein Stimmengewirr, Brummen, eine Gemisch aus Stimme und Bild, kenne ich wirklich nicht.
Das würde mich, glaube ich, extrem stören, wie kann man denn sich dabei konzentrieren?



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Jörn Budesheim
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Fr 20. Sep 2019, 09:57

Stefanie hat geschrieben :
Fr 20. Sep 2019, 09:40
Na, ich lese.
Ja, aber wie ist es? Kannst du das beschreiben?




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