Relativismus

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Alethos
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Sa 5. Dez 2020, 15:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 4. Dez 2020, 07:54
Gemäß dem Relativismus handelt man richtig, einfach gesagt, wenn man nach den Gepflogenheiten handelt. Die Gepflogenheiten können demnach nicht falsch sein, und man hat also keine Erklärung dafür, wie es kommt, dass wir heute zumindest versuchen, auf Gleichberechtigung zu setzen und das, was früher die Gepflogenheit war, als falsch erkennen. Der Realismus hingegen hat für diese Entwicklung eine Erklärung, nämlich den - hier im Forum so verpönten - moralischen Fortschritt :)

Zudem hat der Realismus eine gute Erklärung dafür, wie es kommen kann, dass wir uns manchmal in unserem moralischen Urteilen unsicher sind, denn "in konkreten komplexen Handlungssituationen handelt man immer unter Bedingungen der Ungewissheit" (Markus Gabriel). Ungewissheit heißt, dass man nicht weiß, was richtig ist. Das ist aber nur möglich, wenn man überhaupt annimmt, dass etwas richtig ist! Es gibt Situationen, wo man gezwungen ist zu entscheiden, ohne wirklich sicher sein zu können, ob man das Richtige getroffen hat. Diese Wirklichkeit, die jeder sicherlich jederschon mal erfahren hat, kann nur der Realismus nachzeichnen. Der Regel-Nihilismus kann so eine Situation nicht richtig rekonstruieren.
Ich stimme mit dem zweiten Abschnitt überein, dass wir "in konkreten komplexen Handlungssituationen" auch einmal falsch liegen können. Aber ich stimme nicht mit dem ersten Abschnitt überein, wo du Relativismus als die Art und Weise nach Gepflogenheiten zu handeln charakterisierst. Das ist im besten Fall nämlich ein Fall des Relativismus, nämlich der Konventionalismus.

Für mich bedeutet Relativismus das Gegenteil von Absolutismus. Relativismus kommt - nach meiner Definition - immer dort vor, wo in Abhängigkeit von x der Wert von y bestimmt wird. Relativismus ist eine Art von Variabilität des moralischen Werts. Der moralische Wert stellt sich ein oder nicht ein - abhängig von der Situation kommt er als graduelle, variable Grösse vor.

Wenn Gabriel meint, dass wir in komplexen Handlungssituationen unter Bedingungen der Ungewissheit handeln, dann kann das meines Erachtens nicht heissen, dass der moralische Wert variabel ist, sondern dass die Situation nicht eindeutig durchscheinen lässt, welcher der absolut geltenden moralischen Werte in ihm vorkommen resp. welche Werte miteinander in Widerstreit sind. Es kann aber nicht heissen, dass ein moralisches Urteil in diesem Fall wahr und im anderen Fall falsch ist.



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Jörn Budesheim
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Sa 5. Dez 2020, 18:54

Alethos hat geschrieben :
Sa 5. Dez 2020, 15:43
Für mich bedeutet Relativismus das Gegenteil von Absolutismus. Relativismus kommt - nach meiner Definition - immer dort vor, wo in Abhängigkeit von x der Wert von y bestimmt wird. Relativismus ist eine Art von Variabilität des moralischen Werts. Der moralische Wert stellt sich ein oder nicht ein - abhängig von der Situation kommt er als graduelle, variable Grösse vor.
Mit dem Grünen bin ich einverstanden. Und das Rote verstehe ich nicht. Was heißt es, dass sich ein moralischer Wert einstellt? Auch das mit der geraduellen variablen Größe verstehe ich nicht.

Relativismus ist das Gegenteil von Absolutismus und Universalismus. Im Prinzip so wie es in dem Lexikonartikel steht. Wenn wir in einer gegebenen Situation tatsächlich wissen, was zu tun ist, dann gilt das absolut und universell. Es hängt in aller Regel nicht von einer Zeit, einer Kultur, einer Sprache, einer Machtkonstellation, einen System, einem Paradigma, einer Konvention, was jemand glaubt oder für richtig hält oder was auch immer ab. Es hängt nur davon ab, was in der fraglichen Situation geboten, verboten oder erlaubt ist.




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Alethos
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Sa 5. Dez 2020, 19:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Dez 2020, 18:54
Es hängt nur davon ab, was in der fraglichen Situation geboten, verboten oder erlaubt ist.
Aber was soll es heissen, dass in einer fraglichen Situation etwas absolut geboten ist?

Nehmen wir eine überaus komplexe, verstrickte Situation: was hat Moral denn für einen Wert, wenn wir sie in einer solchen Situation gar nie praktikabel anwenden können, weil sich uns nicht erschliesst, was das moralisch Richtige ist?
Anders gefragt: Was hat ein universal geltendes moralisches Urteil für einen Sinn, wenn wir es jeweils auf die fragliche Situation anwenden sollen müssen?



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So 6. Dez 2020, 02:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Dez 2020, 18:54
Relativismus ist das Gegenteil von Absolutismus und Universalismus. Im Prinzip so wie es in dem Lexikonartikel steht. Wenn wir in einer gegebenen Situation tatsächlich wissen, was zu tun ist, dann gilt das absolut und universell. Es hängt in aller Regel nicht von einer Zeit, einer Kultur, einer Sprache, einer Machtkonstellation, einen System, einem Paradigma, einer Konvention, was jemand glaubt oder für richtig hält oder was auch immer ab. Es hängt nur davon ab, was in der fraglichen Situation geboten, verboten oder erlaubt ist.
Mit dem Faktor Zeit habe ich arge Probleme.
Wir können ohne Schwierigkeiten sagen, dass unsere heutigen moralischen Werte richtig sind, und dass vergangenes Handeln entsprechend zu bewerten ist. So kommen wir dann zu dem Urteil, dass sich Menschen in vergangenen Zeiten unmoralisch verhalten haben (auch wenn wir ihnen zugestehen müssen, dass sie es einfach nicht besser wussten). Wie aber verhält sich das mit der Zukunft? Ist es richtig zu sagen dass das was wir heute für moralisch geboten halten auch in Zukunft moralisch geboten sein wird?
Wie können wir das wissen? Und lehrt uns nicht die Erfahrung, dass gerade das nicht der Fall ist?

Du sprichst weiter oben von "moralischem Fortschritt", und ja, wenn alles relativ ist, dann ist auch nichts wirklich falsch. Im Relativismus gibt es die Urteile "richtig" und "falsch" ja nur in Abhängigkeit (in Relation) zu dem jeweiligen gedanklichen System aus dem heraus diese Urteile entstehen. Eine übergeordnete (von Systemen und Perspektiven unabhängige) Wahrheit sucht man vergebens, und zwar deshalb weil die Existenz eines von Perspektiven unabhängigen, universellen "Erkenntnisgrundes" bestritten wird.

Das ist im Absolutismus anders.
Als Beispiel für eine solche Art von Moral würde ich die Menschenrechte ansehen. Diese gelten für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder sonstiger Unterschiede. Sie stehen allen Menschen zu. Absolut und universell.
Nun kann aber - finde ich - auch der Absolutismus keinen Forstschritt im Urteilen für sich beanspruchen, wenn die aus ihm gewonnenen Urteile nicht zumindest relativ zu einem Faktor wären. Nämlich zum Faktor Zeit, genauer zur Zukunft.
Was morgen sein wird können wir heute nicht wissen. Es ist davon auszugehen, dass kommende Generationen über unser Handeln im selben Maße urteilen werden wie wir über z.B. mittelalterliche Gesellschaften. Das was wir heute als "richtig" beurteilen wird man uns im Nachgang vielleicht als Irrtum ausweisen.
Eine ewig geltende Wahrheit hat mit wachsender, an Irrtümern reifender Erkenntnis nicht viel zu tun. Das ist Dogmatismus.

Auch der Absolutismus muss also, wenn er nicht zum Dogma werden will, die Möglichkeit des Irrtums anerkennen. Und das soll ja auch sein Vorteil sein aus dem sich der Erkenntnisfortschritt ergibt. Dieses Anerkennen der Abhängigkeit der Urteile vom Faktor Zeit ist aber - finde ich - kein Absolutismus mehr. Das ist Relativismus. Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Mit der Zeit mag sich jede Wahrheit ändern.

Zusammenfassend behaupte ich: Ohne Relativierungen kommt auch der Absolutismus nicht aus, wenn er an die Möglichkeit eines Erkenntnisfortschritts glaubt. Gewissermaßen muss der Absolutismus seine Urteile mit Blick auf den Faktor Zeit (genauer: die Zukunft) selbst relativeren um das zu sein, was er behauptet zu sein: Der Erkenntnisgrund von dem aus wahre, universelle Urteile möglich werden.

Ein Widerspruch? Vielleicht.



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Jörn Budesheim
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Mo 7. Dez 2020, 06:09

Wir können uns genauso irren, wie frühere Generationen. Das heißt, dass wir das, was ohnehin wahr ist, nicht richtig erkennen. Dass etwas wahr ist und dass etwas absolut wahr ist, besagt aber dasselbe.




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Mo 7. Dez 2020, 06:14

Alethos hat geschrieben :
Sa 5. Dez 2020, 19:45
Was hat ein universal geltendes moralisches Urteil für einen Sinn, wenn wir es jeweils auf die fragliche Situation anwenden sollen müssen?
Tja, was hat es für einen Sinn, zu versuchen das Richtige zu tun? Wonach fragt das überhaupt? Nach etwas hinter dem Richtigen, was uns sagt, dass es richtig ist, das Richtige zu tun?

Man könnte die Frage auch so verstehen: Warum ist es manchmal so schwierig, ein Mensch zu sein?




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Alethos
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 06:09
Wir können uns genauso irren, wie frühere Generationen. Das heißt, dass wir das, was ohnehin wahr ist, nicht richtig erkennen. Dass etwas wahr ist und dass etwas absolut wahr ist, besagt aber dasselbe.
Nach vielem Theoretisieren bleibt für mich die Frage offen: Wäre es moralisch richtig gewesen, Adolf Hitler zu ermorden?
Können wir sagen, dass das Urteil "Mord ist richtig" in diesem Zusammenhang wahr ist?



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Jörn Budesheim
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Ich hab mich damit noch nicht eingehend beschäftigt. Ich meine aus dem Bauch heraus, "Tyrannenmord" muss nicht unbedingt Mord sein, sondern kann eine legitime Form der "Selbstverteidigung" sein. Ich würde sogar sagen, auch wenn es zynisch ist, dass Tyrannenmord zum Berufsrisiko von Tyrannen zählt.




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Mo 7. Dez 2020, 15:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 06:09
Wir können uns genauso irren, wie frühere Generationen. Das heißt, dass wir das, was ohnehin wahr ist, nicht richtig erkennen. Dass etwas wahr ist und dass etwas absolut wahr ist, besagt aber dasselbe.
So richtig verstehe ich es nicht.
Wenn wir jetzt, also in der Gegenwart, Etwas für absolut wahr halten, dann meinen wir doch: Es ist so und nicht anders. Wir meinen damit ja nicht "Könnte sein, könnte aber auch anders sein", sondern wir meinen "Es ist so!", und wer anderes behauptet liegt falsch.
Gleichzeitig müssen wir aber die Möglichkeit des Irrtums einräumen und das ist dann eben nicht "Es ist so", sondern eher: "Wir tun jetzt mal so als wäre es so, aber sicher sein können wir uns nicht". Das ist dann "absolut wahr" unter Vorbehalt... was meiner Ansicht nach eine Relativierung des Absolutheitsanspruches ist.

Oder verstehe ich hier "absolut wahr" und "Irrtum" falsch?



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Jörn Budesheim
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Mo 7. Dez 2020, 15:50

Mit "Absolutismus" meine ich oben: Der Wahrheitswert steht fest. Ich meine damit nicht, dass man generell absolute Wahrheitsansprüche erhebt.




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Mo 7. Dez 2020, 19:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 15:50
Mit "Absolutismus" meine ich oben: Der Wahrheitswert steht fest. Ich meine damit nicht, dass man generell absolute Wahrheitsansprüche erhebt.
Aber dass der Wahrheitswert feststeht meinen Relativisten ja auch... er steht fest in Relation zum jeweiligen Anschauungssystem.
Also ist doch dann der Unterschied nur, dass die eine Seite verschiedene Anschauungssysteme (aner)kennt, die andere nicht.



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Jörn Budesheim
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Mo 7. Dez 2020, 20:08

Der Relativist glaubt gerade nicht, dass der Wahrheitswert feststeht. Er sagt: heute denken wir vielleicht, dieses oder jenes sei geboten, aber vor 500 Jahren hat man noch ganz anders gedacht. Er sagt, hier im Westen haben wir westliche Werte, aber die Taliban urteilen ganz anders. Der Wahrheitswert steht also nicht fest, sondern er hängt von Zeit und Kultur etc ab.

Viele Relativisten sind sogar, so seltsam das klingen mag, moralisch empört darüber, wenn man annimmt, dass etwas über alle Zeit hinweg moralisch geboten sein könnte. Manche von ihnen lehnen die Moral sozusagen aus moralischen Gründen ab.




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Alethos
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Mo 7. Dez 2020, 20:28

Ich habe verstanden, dass du den Begriff des Mordens gerne flexibel halten würdest, sodass er einmal legitim (moralisch okay) erscheint und einmal nicht.
Aber es gibt mit Bezug auf den Begriff des Mordes nur eine relativ enge Definition, ohne den Inhalt völlig zu verwässern.

Nehmen wir einmal den Begriff „Blau“. Tatsache, dass eine Vielzahl von Schattierungen und Farbtönen unter diesen Begriff fällt. Keine strahlende Farbe ist „reines“ Blau, der Begriff (auch in seinen Variationen als Hellblau, Grünblau, Marinblau etc.) trifft die Wirklichkeit des jeweiligen Blauseins von etwas nie ganz. Aber bei Mord, da sprechen wir ja nicht von Selbstverteidigungsmord, von halbem Mord oder von teilweise gerechtfertigtem Mord, weil die Wirklichkeit des absichtsvollen Tötens aus dem Hinterhalt entweder gegeben oder nicht gegeben ist. Es gibt nicht Hellblau oder Dunkelblau - es gibt nur Mord oder Nichtmord.
Die Absicht hinter dem Mord kommt nicht als „schattierende“ Komponente hinzu, weil sie immanent der Tatsache des Mordens innewohnt - ohne Absicht kein Mord. Wo Mord, da absichtliche Tötung.

Wir können im Fall der Selbstverteidigung also nicht einfach die Absicht zu töten aus dem Sachverhalt herausrechnen und behaupten, es handle sich deshalb nicht um Mord, weil keine Absicht zu töten dahinter stand. Wenn sie nicht die „Absicht zu töten“ war, dann war es auch kein Mord, sondern die Absicht sich zu wehren, den Angriff abzuwehren in Kaufnahme aller Konsequenzen, auch des Tods des Angreifers. Das war dann kein Mord, sondern vielleicht ein Töten wider Willen: Wider Willen, weil der Wille ja nicht war zu töten, als vielmehr einen Angriff abzuwehren.

Ein Mord kennt viele Motive, aber ich meine, dass keiner ihn als moralisch richtig erscheinen lassen kann. Wenn wir das auf das Hitler-Beispiel anwenden: Es gibt kein Motiv, auch keines unter dem Aspekt der Selbstverteidigung, das den Mord rechtfertigen könnte, weil wir sonst zwei wichtige Probleme einfahren: Zum einen verwässern wir den Begriff des Mordes (und überhaupt alle moralisch relevanten Begriffe). Wir könnten bei ihm und allen anderen Übeltaten nirgends eine „rote Linie“ ziehen, ab der ganz vorbehaltlos der reale moralische Sachverhalt wirksam würde, jede moralische Tat könnte irgendwie durch die Umstände legitimiert werden. Beispiel Diebstahl: Stehlen ist zwar böse, aber der Diebstahl eines Laibs Brot ist okay, wenn wir damit unser hungerndes Kind ernähren müssen. Es ist vielleicht auch okay, wenn wir die hungernde Grossmutter ernähren wollen, aber es ist schon dubios, wenn wir damit unsere Hausente füttern wollen. Diebstahl ist vielleicht gut, wenn man es von den ganz Reichen nimmt, aber nur, wenn man es für das eigene Kind nimmt, nicht für die Ente, und wenn die Bestohlenen nicht zu reich sind, aber ein bisschen reich. Das Stehlen von Brot ist auch dann vielleicht irgendwie okay, wenn der Bestohlene genug Brot hat. So zwei Kilo vielleicht, aber es ist dann nicht gut, wenn er weniger hat. Oder vielleicht drei Kilo hat, weil das ist ja dann objektiv gesehen genug. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht müsste man Brot nur stehlen dürfen, wenn jemand drei Kilo hat und zudem reich ist, z.B. 100‘000 Euro auf dem Konto hat und man selbst nur einen. Vielleicht aber wäre der „Diebstahlfreibetrag“ doch eher bei 50‘000 Euro und mehr anzusetzen, die Zeiten sind ja heute besonders schwierig und der Winter hart. Der Freibetrag gilt aber nur, wenn man unter dem Existenzminimum lebt, nicht aber, wenn man darüber liegt.

Wir sehen, dass wir nicht nur nicht wissen können, was das Richtige ist, weil die Sachlage viel zu komplex wäre, sondern die Sachlage erscheint gar nicht nach nicht-willkürlichen moralischen Merkmalen geordnet, damit sie uns durch sich selbst sagte, was richtig sei. Die Sachlage erscheint moralisch irrelavant, wenn wir sie nach den moralisch mildernden oder verstärkenden Umständen befragen.
Entweder der moralische Wert spricht durch die Tat selbst als eigenständige an der Tat selbst vorkommende Dimension aus ihr heraus, und erscheint somit unter der Kategorie des Richtigen und Falschen an ihr, und wir erkennen diese Dimension. Oder aber es sind die Tatumstände, die den moralischen Wahrheitswert bestimmen: Dann aber kommen die Umstände nicht als objektiv gültige, alle Menschen verpflichtende Grössen vor.

Wir können die Umstände nicht als moralisches Maß nehmen, sondern wir müssen die Moralität der Tat selbst als Richtschnur nehmen. Sie ist real und wirklich und objektiv genug.
Wenn wir die Umstände heranziehen wollten, um anzugeben, zu welchem Grad eine Tat moralisch gut oder schlecht ist, werden wir aufgefordert anzugeben, wann, d.h. unter welchen Umständen genau eine Tat moralisch richtig oder falsch ist. Und wir sind aufgefordert anzugeben, warum es diese Umstände sein sollen und nicht andere, d.h. wir müssen gewichten und begründen, warum wir so gewichten. Hierbei handeln wir uns nicht nur das Problem der Fehlbarkeit ein, dass wir falsch gewichten, sondern handeln uns darüberhinaus Begründungsprobleme ein bei der Rechtfertigung dieser Umstände als legitimierende (es könnten ja auch andere ins Feld geführt werden, die unserer Einschätzung widersprechen). Wir verlieren jede objektive Basis, die uns in unseren Urteilen eint: Denn nicht die Sache lassen wir entscheiden (die Tat selbst), sondern unsere Bewertungen und inneren Einstellungen.

Diesem ‚Relativismus von Gewichtungen’ steht ein Realismus der moralischen Begriffe gegenüber, durch die sich so und so geartete Taten als diese Taten auszeichnen, die wir, ungeachtet der Umstände, als solche anerkennen, z. B. Mord als Mord, Diebstahl als Diebstahl und jene beide als „schlecht“. In diesem moralischen Begriffsrealismus kommt der Realismus des Werts zum Tragen, durch den sich Mord und Diebstahl als falsch auszeichnen: immer und unter allen Umständen.

Aber das heisst nun auch, dass wir Mord manchmal begehen dürfen. Hitler hätte seinen Anschlagstod verdient. Das macht das Attentat an ihn bloss nicht zu etwas moralisch Gutem, auf keinen Fall und aus keinen Gründen. Es bleibt etwas Falsches, das wir zugunsten von etwas Richtigerem taten. Der Zweck heiligt die Mittel nie, er kann sie bloss begünstigen.



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Jörn Budesheim
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Mo 7. Dez 2020, 21:06

Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 20:28
Ich habe verstanden, dass du den Begriff des Mordens gerne flexibel halten würdest, sodass er einmal legitim (moralisch okay) erscheint und einmal nicht.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 4. Dez 2020, 05:59
Töten ist halt, wie die Beispiele zeigen, nicht in jedem Fall falsch. Für Töten, welches in jedem Fall falsch ist, nutzen wir auch einen anderen Ausdruck, nämlich Mord.




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Mo 7. Dez 2020, 21:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 20:08
Der Relativist glaubt gerade nicht, dass der Wahrheitswert feststeht. Er sagt: heute denken wir vielleicht, dieses oder jenes sei geboten, aber vor 500 Jahren hat man noch ganz anders gedacht. Er sagt, hier im Westen haben wir westliche Werte, aber die Taliban urteilen ganz anders. Der Wahrheitswert steht also nicht fest, sondern er hängt von Zeit und Kultur etc ab.
Ja. Weil das alles unterschiedliche Anschauungssysteme sind.
Der Bereich "Westen" ist halt ein anderer als der Bereich "Taliban".
Aber wie stehts innerhalb eines Bereiches?
Der Relativismus sagt doch nicht, dass innerhalb eines Anschauungssystems Wahrheit beliebig ist.
Wenn im Westen dieses oder jenes gilt, dann gilt das natürlich.
Viele Relativisten sind sogar, so seltsam das klingen mag, moralisch empört darüber, wenn man annimmt, dass etwas über alle Zeit hinweg moralisch geboten sein könnte. Manche von ihnen lehnen die Moral sozusagen aus moralischen Gründen ab.
Klar. Ich finde es auch empörend zu behaupten etwas könne über alle Zeiten hinweg gelten. Das wissen wir ja gar nicht. Es besteht ja immerhin die nicht eben geringe Möglichkeit, dass das, wovon wir meinen es gelte über alle Zeiten hinweg, sich morgen als Irrtum herausstellt.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Mo 7. Dez 2020, 22:13, insgesamt 1-mal geändert.



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Mo 7. Dez 2020, 22:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 21:06
Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 20:28
Ich habe verstanden, dass du den Begriff des Mordens gerne flexibel halten würdest, sodass er einmal legitim (moralisch okay) erscheint und einmal nicht.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 4. Dez 2020, 05:59
Töten ist halt, wie die Beispiele zeigen, nicht in jedem Fall falsch. Für Töten, welches in jedem Fall falsch ist, nutzen wir auch einen anderen Ausdruck, nämlich Mord.
Ich gebe zu, meine Einleitung war nicht ganz fair. Aber der Begriff, der beim Attentat auf Hitler zur Anwendung kommen muss, ist Mord.
Wenn wir diese Tat unter dem Aspekt des Motivs der Selbstverteidigung als etwas anderes als Mord einordnen, dann irren wir einfach. Oder siehst du das anders?



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Mo 7. Dez 2020, 22:06

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 21:51
Klar. Ich finde es auch empörend zu behaupten etwas könne über alle Zeiten hinweg gelten. Das wissen wir ja gar nicht. Es besteht ja immerhin die Möglichkeit, dass das, wovon wir meinen es gelte über alle Zeiten hinweg, ein Irrtum ist.
Es könnte ein Irrtum sein, dass Mord in allen Zeiten falsch ist. Aber es könnte sein, dass er immer falsch war und immer sein wird.

Wenn die Realität universaler Werte Tatsache ist, dann wohl auch ihre Zeitlosigkeit.



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Mo 7. Dez 2020, 22:14

Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 22:06
Wenn die Realität universaler Werte Tatsache ist, dann wohl auch ihre Zeitlosigkeit.
Dann aber hat man die Möglichkeit des Irrtums eliminiert. Man sagt dann: Darüber können wir uns nicht irren.
Und das ist eine ziemliche Anmaßung.

Ich denke man muss unterscheiden zwischen der Annahme, dass es Werte gibt die zeitlos sind (was durchaus sein kann), und der Frage ob und wie wir etwas über sie wissen können.



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Mo 7. Dez 2020, 22:30

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 22:14
Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 22:06
Wenn die Realität universaler Werte Tatsache ist, dann wohl auch ihre Zeitlosigkeit.
Dann aber hat man die Möglichkeit des Irrtums eliminiert. Man sagt dann: Darüber können wir uns nicht irren.
Wenn wir behaupten, dass es universale und zeitlose moralische Urteile gibt, sagen wir ja nicht zugleich, dass wir sie kennen. Es wäre aber sonderbar, ein moralisches Urteil über den Tatbestand von Mord deshalb für unangebracht zu halten, weil es eine Möglichkeit gibt, dass wir uns irren können. Wir könnten ja auch richtig liegen bei Dingen, über die wir uns niemals abschliessende Urteile bilden können.

Dass wir immer nur falsifizieren können, heisst ja nicht, dass wir immer zu konträren Ergebnissen kommen, sondern nur zu nie abschliessenden. Das Induktionsproblem ist kein Hindernis für das Haben von Gewissheiten. Dass die Sonne morgen ebenso am Horizont erscheinen wird wie gestern oder die letzen drei Milliarden Jahre, das dürfte ebenso gewiss sein, wie dass Mord oder Diebstahl falsch sind, auch wenn es keine Begründungsmöglichkeit für die behauptete Ewigkeit dieser Wahrheit gibt.



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Mo 7. Dez 2020, 23:13

Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 22:30
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 22:14
Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Dez 2020, 22:06
Wenn die Realität universaler Werte Tatsache ist, dann wohl auch ihre Zeitlosigkeit.
Dann aber hat man die Möglichkeit des Irrtums eliminiert. Man sagt dann: Darüber können wir uns nicht irren.
Wenn wir behaupten, dass es universale und zeitlose moralische Urteile gibt, sagen wir ja nicht zugleich, dass wir sie kennen.
Wenn wir uns aber immer irren können, besteht auch immer die Möglichkeit, dass ein als zeitlos angenommener Wert nicht zeitlos ist und das wiederum bedeutet dann eben, dass das was heute moralisch richtig ist morgen moralisch falsch (und umgekehrt) sein kann.
Es wäre aber sonderbar, ein moralisches Urteil über den Tatbestand von Mord deshalb für unangebracht zu halten, weil es eine Möglichkeit gibt, dass wir uns irren können.
Das sagt ja auch keiner. Es ging um die Frage nach dem "feststehenden Wahrheitswert", den es wohl geben mag, aber von dem wir uns nie sicher sein können ihn zu kennen.
Wir könnten ja auch richtig liegen bei Dingen, über die wir uns niemals abschliessende Urteile bilden können.
Die Ewigkeit ist eine ziemlich lange Zeit.
Dass die Sonne morgen ebenso am Horizont erscheinen wird wie gestern oder die letzen drei Milliarden Jahre, das dürfte ebenso gewiss sein,
... wie dass sie das eines Tages nicht mehr tun wird. Da hast Du ja Dein "Induktionsproblem".
:-)
wie dass Mord oder Diebstahl falsch sind, auch wenn es keine Begründungsmöglichkeit für die behauptete Ewigkeit dieser Wahrheit gibt.
Warum sollte das so sein?
Ich denke, zu behaupten etwas gelte ewig ist das selbe wie zu behaupten wir können uns nicht irren. Und das ist eine ziemlich krasse Anmaßung, die sich weder mit der menschlichen Realität noch Erfahrung deckt.



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