Relativismus

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Alethos
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Di 5. Jan 2021, 16:08

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 15:26
Kultur A behauptet sie würde sich an Gottes Gebote halten, tut das aber nicht.
Kultur A begeht da einfach einen Fehler.
Entweder Kultur A muss die Behauptung, sie würde sich an Gottes Gebote halten fallen lassen, oder sie muss sich einfach an die Gebote halten.
Oder sie muss Logik komplett über den Haufen werfen.
Nochmals mein Punkt an dieser Stelle: Wir können gegen oder für etwas nur argumentieren, wenn die Kriterien dafür, was als Argument gelten kann, für beide gilt: Kultur A und Kultur nicht-A. Das heisst, beide Kulturen müssen sich vorgängig darüber verständigen können, unter welchen Umständen sie gelten lassen können, dass die Gegenseite recht hat. Das sind aber die Grundannahmen. Wir müssen diese Grundannehmen als wahre Urteile über die Wahrheit anerkennen, wenn wir voneinander Rechenschaft einfordern wollen. Sonst müssen wir einfach schlucken, dass die andere Kultur so vorgeht, wie sie vorgeht. Denkt, wie sie denkt. Und handelt, wie sie handelt.

Für alle Parteien gültige Grundannahmen sind daher universalistische Prämissen des gelingen könnenden Austauschs. Moralische Tatsachen sind solche Grundannahmen über die Wahrheit des Sollens.



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Jörn Budesheim
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Di 5. Jan 2021, 16:32

Wenn man überhaupt redet und diskutiert auf Augenhöhe, dann hat man schon ziemlich viele moralische Tatsachen akzeptiert. Mehr noch, wenn man bereit ist, sich dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes zu beugen. Das sind ja keine Selbstverständlichkeiten, dass jede Stimme zählt und sich überhaupt artikulieren darf. Warum sollte die Logik entscheiden (wenn man denn eine universelle Logik unterstellt - sie soll ja angeblich bloß gesetzt sein) und nicht etwa das Geschlecht, die Herkunft, der Rang im Clan, der Reichtum oder vieles andere? Warum überhaupt Gründe konsultieren, wenn es möglich ist, die Wahrheit den Schriften zu entnehmen? Und warum sollte man die, die Rede wollen, überhaupt hören, statt sie zu steinigen, weil sie die Schriften anzweifeln oder die Autorität des Oberhaupts?




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NaWennDuMeinst
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Di 5. Jan 2021, 16:36

Alethos hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 15:56
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 13:51
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 13:48


Das kann er nur, wenn er seinen Relativismus aufgibt. Für Relativisten gibt es keine höheren Maßstäbe. Wenn eine Kultur selbstwidersprüchliche Regeln bevorzugt - dann ist das eben so.
Nein. Was denn für "höhere Maßstäbe"? Es geht um eine Bewertung nach den Maßstäben der jeweiligen Kultur.
Wenn eine Kultur auf die Logik schwört, und ihre Moral Logikprobleme aufweist, dann ist das ein innerer Widerspruch der sich aus den (eigenen) Maßstäben der jeweiligen Kultur ergibt. Das hat mit "höheren Maßstäben" gar nichts zu tun.
Ja, aber um das als Grund anzuführen, musst du die die Regeln der Logik akzeptieren.
Nein. Ich muss zunächst die Regeln der jeweiligen Kultur akzeptieren.
Das heißt ich muss mich auf sie einlassen, und dann aus ihrer Perspektive argumentieren.
Verstehst Du was damit gemeint ist?
Du kannst nämlich kein Argument der Art aufstellen "Ihr handelt selbstwidersprüchlich, wenn ihr euch nicht an die eigenen Regeln haltet", wenn du und sie nicht der Meinung seid, dass es richtig ist, nicht selbstwidersprüchlich zu sein.
Logik ist doch nur ein Beispiel (wobei ich mir keine funktionierende Gesellschaft ohne Logikregeln vorstellen kann. Du etwa?). Entscheidend ist, dass man das jeweilige Moralsystem nicht von aussen kritisiert, sondern von innen, aus dem jeweiligen System heraus. So wie es Mitglieder dieser Kultur tun würden.
So wie wir es ja mit unserem Moralsystem auch immer wieder machen. So wie Jörn versucht den Relativismus mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten zu konfrontieren.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Di 5. Jan 2021, 16:55, insgesamt 1-mal geändert.



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NaWennDuMeinst
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Di 5. Jan 2021, 16:43

Alethos hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 16:08
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 15:26
Kultur A behauptet sie würde sich an Gottes Gebote halten, tut das aber nicht.
Kultur A begeht da einfach einen Fehler.
Entweder Kultur A muss die Behauptung, sie würde sich an Gottes Gebote halten fallen lassen, oder sie muss sich einfach an die Gebote halten.
Oder sie muss Logik komplett über den Haufen werfen.
Nochmals mein Punkt an dieser Stelle: Wir können gegen oder für etwas nur argumentieren, wenn die Kriterien dafür, was als Argument gelten kann, für beide gilt:
Ja, die gibt es doch zuhauf.
Ich sag's jetzt mal ganz platt: Auch ein Taliban muss fressen, scheissen, schlafen, atmen.
Und auch ein Taliban verwendet Logik.
Es gibt genug Ansatzpunkte. Wir reden hier doch nicht über eine ausserirdische Zivilisation deren Vertreter überhaupt nichts mit uns gemeinsam haben und nur wirres, für uns unverständliches Zeug von sich geben.



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Jörn Budesheim
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Di 5. Jan 2021, 16:59

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 16:43
Ja, die gibt es doch zuhauf.
Na klar gibt es die zuhauf. Der Relativismus ist schließlich falsch.




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NaWennDuMeinst
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Di 5. Jan 2021, 17:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 16:32
Warum sollte die Logik entscheiden
Himmel. Jetzt verbeisst Euch doch nicht in der Logik.
Das ist nur ein Beispiel. Es kann auch irgendwas anderes sein das dieses Argumentieren ermöglicht.
Was natürlich richtig ist, ist dass beide Seiten an einer Lösung, oder zumindest einem Austausch, interessiert sein müssen.
Wenn das nicht gegeben ist, dann hilft gar nichts. Dann fliegen halt, wenn es hart auf hart kommt, die Fäuste.
Aber dann spielt auch Moral keine Rolle mehr.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Di 5. Jan 2021, 17:06, insgesamt 1-mal geändert.



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NaWennDuMeinst
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Di 5. Jan 2021, 17:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 16:59
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 16:43
Ja, die gibt es doch zuhauf.
Na klar gibt es die zuhauf. Der Relativismus ist schließlich falsch.
Aha. Weil der Relativismus Gemeinsamkeiten unter den Menschen leugnet?
Das wäre mir neu.
Warte ich gucke mal.
Nein, kein Relativist behauptet, dass jeder Mensch eine andere Biologie hat. Nein, das behauptet keiner.
Also eigentlich gar keiner. Weder Relativisten noch Nicht-Relativisten.



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Alethos
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Di 5. Jan 2021, 17:28

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:02
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 16:32
Warum sollte die Logik entscheiden
Himmel. Jetzt verbeisst Euch doch nicht in der Logik.
Das ist nur ein Beispiel. Es kann auch irgendwas anderes sein das dieses Argumentieren ermöglicht.
Was natürlich richtig ist, ist das beide Seiten an einer Lösung, oder zumindest einem Austausch, interessiert sind.
Wenn das nicht da ist, dann hilft gar nichts. Dann fliegen halt, wenn es hart auf hart kommt, die Fäuste.
Aber dann spielt auch Moral keine Rolle mehr.
Es ist unerheblich, ob wir als Beispiel die Logik oder sonst etwas anführen.
Wir können (gegen oder für etwas) nur argumentieren, wenn wir uns über die Regeln des Argumentierens einig sind, d.h. wenn wir die Bedingungen gelten lassen, unter denen ein Argument ein solches sein kann. D.h. man muss eine Wirklichkeit akzeptieren, nämlich die der Gültigkeit des Arguments, sonst gibt es da kein Argumentieren.

Wenn du z.B. sagst, dass du die Kultur A mit den "eigenen Waffen schlagen" willst, also z.B. ihre Selbstwidersprüchlichkeit gegen sie wenden willst, dann muss Kultur A wenigstens gelten lassen, dass Selbstwidersprüchlichkeit gegen sie verwendet werden kann, sonst hast du nichts zu melden. Ihr müsst euch also auf einer sehr grundsätzlichen Eben einig sein, dass etwas Geltung hat. Dasselbe für einen moralischen Sachverhalt: Wenn du nicht gutheissen willst, dass Kultur A Mädchen beschneidet, dann musst du Kultur A angeben können, warum das so ist und Kultur A wird das nur gelten lassen können, wenn für sie dieselben Grundannahmen gelten. Oder dein Argument dringt nicht durch.

Und hier scheitert der Relativist, wenn er behauptet, die Grundannahmen seien nur wahr relativ zu einer Kultur-A-Situation und zu einer Kultur-B-Situation, weil er dann gleichzeitig sagt, dass es keine vermittelbaren Grundannahmen gibt. Dann aber fällt alles hin, was er selber glaubt, sobald man es entkräftet z.B. mit dem Hinweis, dass das, was er über Beschneidung glaube, nur falsch sei für ihn. Das muss er dann schlucken und schweigen, weil es unter der Voraussetzung seines eigenen Relativismus wahr ist, dass er nichts zu melden hat.

Der Realist kann sich wenigstens irren und für etwas einstehen, das falsch ist. Aber er kann immerhin für etwas einstehen, was schon ziemlich viel ist. Er kann es, weil er Gründe für etwas Reales hält, weshalb er unterstellen kann, dass sie für alle Menschen gelten. Er behauptet die Wahrheit seiner Gründe - Wahrheit, die er wiederum unter Einbezug eines Systems vernünftiger Urteile, begründen kann.



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NaWennDuMeinst
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Di 5. Jan 2021, 17:52

Alethos hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:28
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:02
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 16:32
Warum sollte die Logik entscheiden
Himmel. Jetzt verbeisst Euch doch nicht in der Logik.
Das ist nur ein Beispiel. Es kann auch irgendwas anderes sein das dieses Argumentieren ermöglicht.
Was natürlich richtig ist, ist das beide Seiten an einer Lösung, oder zumindest einem Austausch, interessiert sind.
Wenn das nicht da ist, dann hilft gar nichts. Dann fliegen halt, wenn es hart auf hart kommt, die Fäuste.
Aber dann spielt auch Moral keine Rolle mehr.
Es ist unerheblich, ob wir als Beispiel die Logik oder sonst etwas anführen.
Wir können (gegen oder für etwas) nur argumentieren, wenn wir uns über die Regeln des Argumentierens einig sind, d.h. wenn wir die Bedingungen gelten lassen, unter denen ein Argument ein solches sein kann. D.h. man muss eine Wirklichkeit akzeptieren, nämlich die der Gültigkeit des Arguments, sonst gibt es da kein Argumentieren.
Ja und? Das ist doch nicht spezifisch für den Relativismus. Das gilt ja immer. Wenn der Andere nicht zuhören will, will er nicht zuhören.
Das wäre ja im Realismus auch nicht anders. Denn in so einer Situation würde ein Realist zum anderen Realisten sagen: Ich habe die Wahrheit und Du irrst Dich. Aus die Maus.
Wenn du z.B. sagst, dass du die Kultur A mit den "eigenen Waffen schlagen" willst, also z.B. ihre Selbstwidersprüchlichkeit gegen sie wenden willst, dann muss Kultur A wenigstens gelten lassen, dass Selbstwidersprüchlichkeit gegen sie verwendet werden kann
Das ist im Realismus nicht anders.
Und hier scheitert der Relativist
In einer solchen Situation, in der beide Parteien auf ihren Positionen beharren, scheitern Relativisten und Realisten gleichermaßen.
Der Realist kann sich wenigstens irren und für etwas einstehen, das falsch ist. Aber er kann immerhin für etwas einstehen, was schon ziemlich viel ist. Er kann es, weil er Gründe für etwas Reales hält, weshalb er unterstellen kann, dass sie für alle Menschen gelten. Er behauptet die Wahrheit seiner Gründe - Wahrheit, die er wiederum unter Einbezug eines Systems vernünftiger Urteile, begründen kann.
Was für "vernünftige Gründe"? Der Realist auf der anderen Seite akzeptiert Deine Vernunft nicht. Du liegst einfach falsch, weil der Andere die Wahrheit gepachtet hat.
Und nun?

Vergiss es. Der Realismus steht bei im Konflikt stehenden Moralsystemen genauso blöd da wie alle anderen Ansichten auch. Er hat da einfach nichts voraus.
Er dient einzig und allein der Rechtfertigung vor uns selber: Wir haben die "Tatsachen" auf unserer Seite und sind deshalb berechtigt dem anderen den Schädeln einzuschlagen.
Das sagen die Realisten auf der anderen Seite aber auch. Die Moral die daraus resultiert kannst Du getrost in die Tonne kloppen.



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Alethos
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:52
Wir haben die "Tatsachen" auf unserer Seite und sind deshalb berechtigt dem anderen den Schädeln einzuschlagen.
Es geht ja in erster Linie darum, überhaupt anzunehmen, dass es Tatsachen gibt und in zweiter Linke darum zu prüfen, ob diese „auf unserer Seite“ sind. Der Relativist scheitert aber bereits an den Tatsachen, weil er ja behauptet, es gebe sie in moralischen Dingen nicht. Er hat bezüglich Wahrheitsbehauptungen schon verloren, bevor er angefangen hat, sich zu fragen, ob es denn wahr sei, dass p.



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NaWennDuMeinst
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Di 5. Jan 2021, 18:34

Alethos hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 18:31
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:52
Wir haben die "Tatsachen" auf unserer Seite und sind deshalb berechtigt dem anderen den Schädeln einzuschlagen.
Es geht ja in erster Linie darum, überhaupt anzunehmen, dass es Tatsachen gibt
Aber wozu? Was soll das bringen?
Also Tatsachen ja. Aber wozu moralische Tatsachen?
Wozu soll das gut sein? Ich sehe darin weder Sinn noch Nutzen.



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Jörn Budesheim
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:04
Nein, kein Relativist behauptet, dass jeder Mensch eine andere Biologie hat. Nein, das behauptet keiner.
Also eigentlich gar keiner. Weder Relativisten noch Nicht-Relativisten.
Ist das wirklich so?

Keine Kultur, das würde und sollte ein Relativist einwenden, ist dazu verpflichtet, unseren naturwissenschaftlichen Kanon und unsere Einteilung der wissenschaftlichen Bereiche zu übernehmen. Ebensowenig ist unsere Aufteilung in Sein und Sollen universell verpflichtend. Wir erinnern uns: alles gilt immer nur relativ auf eine bestimmte Kultur. Alles Universelle ist ausgeschlossen.

Daher ergibt sich, in relativistischer Sicht, dass keineswegs alle Menschen für allen Kulturen die gleiche Biologie haben, da dies unsere "westliche" Aufteilung der wissenschaftlichen Bereiche schließlich voraussetzt. Andere Kulturen können geltend machen, dass Männer und Frauen ganz und gar verschieden sind, also nicht dieselbe Biologie haben, wenn man überhaupt von Biologie reden darf, so dass es für sie gerechtfertigt ist, Frauen einen niedrigeren Rang in jeder Hinsicht zuzuweisen. Gott selbst hat sie schließlich als minderwertiges Wesen geschaffen, könnten sie behaupten. Ihr geringerer Wert ergibt sich für diese Kultur aus ihrer von Gott geschaffenen "Biologie", in ihr Sein selbst ist ihr geringerer Wert direkt eingeschrieben. Solche Kulturen sind, wie man zugeben muss, keineswegs einfach fiktiv ...

Wir könnten uns auch eine Kultur vorstellen, die nach postmoderner Art geltend macht, dass das Geschlecht kein biologisches Datum ist, sondern eine soziale Konstruktion, so dass die Rede von biologischen Tatsachen als freie Erfindung ausgezeichnet wird.




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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 18:34
Ich sehe darin weder Sinn noch Nutzen.
"Leider" ist die Wirklichkeit jedoch nicht durchgängig so eingerichtet, dass es das, was es gibt, nur dann gibt, wenn einzelne darin Sinn oder Nutzen sehen. Vielleicht schaust dir noch mal die Bemerkung von Julian Nida-Rümelin und Freud dazu an. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, das ist eine Tatsache. Ob du darin einen Sinn oder einen Nutzen siehst, ist völlig egal.




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Di 5. Jan 2021, 20:07

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 18:34
Alethos hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 18:31
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:52
Wir haben die "Tatsachen" auf unserer Seite und sind deshalb berechtigt dem anderen den Schädeln einzuschlagen.
Es geht ja in erster Linie darum, überhaupt anzunehmen, dass es Tatsachen gibt
Aber wozu? Was soll das bringen?
Also Tatsachen ja. Aber wozu moralische Tatsachen?
Wozu soll das gut sein? Ich sehe darin weder Sinn noch Nutzen.
Einen minimalen Nutzen kann man vielleicht darin erkennen, dass die Alternative (dass es keine moralischen Fakten geben soll) noch viel unnützer ist.

Damit meine ich nicht, dass dies der Hauptnutzen oder gar der einzige Nutzen wäre. Man überlege nur, was es in lebenspraktischer Hinsicht bedeuten würde, wenn der Relativismus recht hätte. Es wäre moralisch sozusagen gleichgültig (irrelevant), ob ein Vater sein Kind im Bus misshandelt. Es dürfte uns jedenfalls nicht einfallen, diesen Vater zu stoppen, seinen Arm zu packen und zu sagen: „So etwas macht man nicht!“. Der Vater, unterstützt durch relativistische Thesen, würde sich einfach auf seinen Glauben oder seine Kultur berufen können. Er könnte sagen, für dich sei es nicht okay, für ihn aber schon. Ist das eine praktikable Haltung? Ist das eine Haltung, die unserem moralischen Empfinden (den Sinn für moralische Tatsachen, z.B. den Sinn für Gerechtigkeit) Rechnung trägt? So funktionieren wir Menschen nicht, wir haben Empfindungen, wir erkennen Unrecht, wir fühlen mit: Das sind alles Fähigkeiten mit grossem Nutzen unabhängig davon, in welcher Kultur wir uns bewegen.

Bei allem Theoretisieren über naturalistische Fehlschlüsse oder Sinnieren über das Recht eines jeden, relativ zu seinem Glauben zu tun, was immer er möge: Wir würden so ein Verhalten nicht gutheissen, weil es nicht gut ist. Punkt.
Da nützt es nichts zu sagen, eine andere Kultur sehe das vielleicht anders. Denn ja, sie sieht es vielleicht anders, aber sie sieht es dann objektiv falsch.

Wenn man nun denkt, das sei eine Anmaßung, das sei ein autoritäres Imponieren eines moralischen Werts, das sei sozusagen ein philosophisch nicht legitimierbares Behaupten des Vorrangs der eigenen moralischen Position, dann irrt man einfach - ganz lebenspraktisch gesehen. Man irrt nämlich in jedem Fall weniger, wenn man einem Missbrauchsopfer hilft, als wenn man den Missbrauch mit Verweis auf das Recht auf relative Wahrheit des gewalttätigen Vaters geschehen lässt.

Moralische Tatsachen haben einen ganz praktische Nutzen: Weil sie unseren Urteilen Wahrheitswert geben und sie wiederum unser Handeln anleiten. Da kann der Relativismus nichts bieten, tut mir leid.



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Nauplios
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Di 5. Jan 2021, 20:34

Alethos hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 17:28

Es ist unerheblich, ob wir als Beispiel die Logik oder sonst etwas anführen.
Wir können (gegen oder für etwas) nur argumentieren, wenn wir uns über die Regeln des Argumentierens einig sind, d.h. wenn wir die Bedingungen gelten lassen, unter denen ein Argument ein solches sein kann. D.h. man muss eine Wirklichkeit akzeptieren, nämlich die der Gültigkeit des Arguments, sonst gibt es da kein Argumentieren.

(...)

Ihr müsst euch also auf einer sehr grundsätzlichen Eben einig sein, dass etwas Geltung hat.
An dieser Stelle lohnt ein kurzes Innehalten mit anschließendem Blick in den Rückspiegel:

"Schönheit liegt entgegen der allgemeinen Annahme nicht im Auge des Betrachters. Vielmehr sind die Kriterien für Schönheit (...) kulturunabhängig." (Jörn Budesheim)

"Ich bin nach wie vor der Meinung, daß die Schönheit objektiv vorkommt für den, der sie wahrnimmt ... " (Alethos)

"Aber genau deswegen kann es in der Kunst auch keine Objektivität geben - zumindest wenn es um Schönheit geht." (NaWennDuMeinst)

Das war im August des vergangenen Jahres im Thread "subjektiv, objektiv". - Es folgten Tauchgänge in die Tiefen dessen, was überhaupt Kunst ist, was empirische Methoden sind, was Argumente sind, was eine Begründung ist, begleitet von Kämpfen mit Meeresungeheuern wie: Nach welchen Regeln hat überhaupt eine philosophische Diskussion über Schönheit zu erfolgen? Auch damals ging es immer wieder um das, was Alethos heute die "Regeln des Argumentierens" nennt und im weiteren Verlauf dann um die "sehr grundsätzliche Ebene", auf der man sich "einig sein muß", um gemeinsam Geltungsansprüche auf argumentativem Wege aushandeln zu können.

Damals war es die Objektivität des ästhetisch Schönen und sein kulturunabhängiger Geltungsanspruch auf Universalität; heute ist es die Objektivität des moralisch Guten und sein Geltungsanspruch auf Universalität. Hier die schöne Kunst, dort die richtige Moral. Auf die Anabasis zu den Gebirgszügen des Wahren, Schönen und Guten, folgt die Katabasis in die Unterwelt des Grundsätzlichen. -

Die Strukturähnlichkeit dieser Stränge ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck einer grundsätzlichen Disparität im philosophischen Geschäft. Der Handel dieses Geschäfts verfügt über keine einheitliche Währung, welche den Argumenten- und Begründungstausch zu einem unkomplizierten Handelsverkehr machen würde. Die Vorstellung, der Warenverkehr mit Erkenntnissen des Wahren, Guten und Schönen sei im gesamten Königreich der Philosophie zollfrei zu haben, erhebt seinerseits einen Hegemonialanspruch. Im Binnenmarkt des Realismus mag das angehen. Der philosophische Welthandel ist davon unbeeindruckt. -

Unter der Voraussetzung, daß man multilaterales Philosophieren will, können Begründungen und argumentative Verläufe das, was man sich von ihnen verspricht, nur halten, wenn sie sich auf wenige Umdrehungen beschränken. Dreht man immer weiter werden diese Schrauben dull. Die Folgen sind Pirrouetten, zwar mit Anspruch auf Haltungsnoten, aber unter Verschleiß von Substanz.

Ende des Innehaltens. ;)




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Jörn Budesheim
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Di 5. Jan 2021, 21:07

Ich für meinen Teil habe kein Interesse an selbsternannten Supervisoren.




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Di 5. Jan 2021, 21:55

Nauplios hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 20:34
zollfrei
Was meinst du mit zollfrei?

Das Einzige, was von Zollfreiheit im Wahren-Handel profitieren kann, ist die geschmuggelte Ware. Jeder faire Handel hat mindestens zum Preis die natürliche Gebühr der Kooperation mit anderen Ländern, unter anderem den Preis der Einhaltung von Regeln. Aber sie gelten für den Exporteur und den Importeur gleichermassen, setzen also voraus, dass man sich einigen muss auf einen Handel, der nicht zum Händel werden will.



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Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 21:07
Ich für meinen Teil habe kein Interesse an selbsternannten Supervisoren.
Das ist nachvollziehbar. Denn es führt ins Zentrum eines Zusammenhangs, der von Philosophien herausgearbeitet wurde, die der Neue Realismus mit einem Handelsembargo belegt. Dieser Zusammenhang ist der von Moral und Macht. Stellvertretend und prominent: Michel Foucault. Epochal und lehrbuch-beglaubigt: Friedrich Nietzsche. Anthropologisch ausgewiesen: Hans Blumenberg, gesellschaftskritisch: Philippe Murays "Reich des Guten" und als Damnatio memoriae: Carl Schmitt. (Historische Vorläufer: insbesondere die französische Moralistik des 16./17. Jahrhunderts, Descartes' morale par provision u.a.)

Die Spuren der Macht im Moraldiskurs zu invisibilisieren, ist die logische Konsequenz eines Realismus, der sich dem moralischen Fortschritt verschreibt und diesen den weniger Fortschrittlichen auf dem Verordnungswege beizubringen sich verpflichtet fühlt. - Paravision. ;)




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Nauplios hat geschrieben :
Di 5. Jan 2021, 23:02
Dieser Zusammenhang ist der von Moral und Macht.
Und genau dieser Zusammenhang macht mir hier - und auch bei der Objektivität der Schönheit - Bauchschmerzen.
Man lässt zwar den Irrtumsvorbehalt gelten, aber mit der Flucht ins Metaphysische will man nur sicherstellen, dass der Andere sich irren muss.
Wie von Geisterhand ist plötzlich alles eine "Tatsache" das gefällt, und viel wichtiger: Nun kann endlich alles Andere keine "Tatsache", sondern ein Irrtum sein.

Ich bezweifle ernsthaft, dass das so funktionieren kann.
Aber ja, das wurde alles schon zigmal durchgekaut.
Das steht sich einfach unversöhnlich gegenüber.
Und dabei bleibt es vorerst für mich.
Einem Realismus in dieser Form werde ich mich nicht anschliessen, weil mich das in keiner Weise überzeugt.
Sorry.



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