Relativismus

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Jörn Budesheim
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Fr 14. Feb 2020, 05:28

Was versteht ihr unter Relativismus?

Vor mir steht eine Tasse Kaffee, die Tasse steht auf dem Tisch, der Tisch ist im Zimmer, das Zimmer ist im Haus und so weiter und so fort. Dabei handelt es sich um verschiedene Relationen. (Stehen auf, enthalten sein in, etc.)

Gestern habe ich mich mit einem Freund unterhalten und für den war genau das Relativismus.

Ich verstehe unter der Relativismus etwas anderes. Der Ausdruck meint nach meinem Verständnis, das Wahrheit nicht absolut, sondern eben relativ ist. Z.b. relativ auf eine Sprache, Bräuche Paradigmen und ähnliches.




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Paradox
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Fr 14. Feb 2020, 16:00

So allgemein formuliert, macht die Frage wenig Sinn. Dein Freund denkt wohl an das, was man in der Logik als Relationslogik behandelt, dir geht es um den Gegensatz des Begriffspaares absolut-relativ. Beides hat seine Berechtigung. Man könnte auch noch die physikalische Relativität von Raum und Zeit anführen - eine direkte Konsequenz aus der Tatsache, dass es eine absolut höchste Geschwindigkeit gibt.



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Karl Valentin

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Alethos
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Fr 14. Feb 2020, 22:48

Relativität und Relationalität bezeichnen beide das Verhältnis zweier oder mehrerer Dinge, Grössen, Einheiten. Es scheint so zu sein, dass letzterer Begriff viel weniger geläufig ist als ersterer, der oft in vergleichender Tendenz verwendet wird. Die Aussage 'Das Haus ist relativ gross' will sagen, dass es mit Bezug auf ein anderes Objekt und im Vergleich mit diesem gross ist, aber man impliziert auch das Gegenteil, dass es relativ klein ist mit Bezug auf das (wesentlich) Grössere. Man will damit angeben, dass die herausgestellte Grösse des Hauses kein 'Wert an sich', keine absolute Angabe ist. Es ist gross (oder klein) im Verhältnis zu etwas anderem, was soviel heisst, dass seine Eigenschaften (hier: der Grösse) durch das Andere definiert werden, womit die Selbstständigkeit der Eigenschaften relativiert werden und sozusagen miteinander aufgerechnet sind. Auch relative Zahlen, d.h. Prozente sind mathematisch gesehen dividierte resp. multiplizierte Faktoren, also miteinander verrechnete Grössen.

Relationalität hingegen scheint mir eher die Positionalität zweier oder mehrerer Dinge in der Bezogenheit aufeinander herauszustellen, wobei die Aufeinanderbezogenen durch ihre individuelle Eigenständigkeit die Bezugnahme des einen auf das andere in der Form der Relation erst herstellen. Die Relation ist eine feste Grösse insofern, als sie sich ergibt aus den mehreren, die sie bilden und sie verändert sich mit ihnen, aber sie gilt, sofern sie gelten. Die Gegenstände, die eine Relation bilden, haben keine korrelative Bezogenheit, d.h. die Veränderung der einen 'Grösse' bewirkt nicht die proportionale oder disproportionale Veränderung der anderen, was bei der Relativität zwingend so ist, weil die mehreren eine neue, durch die Relativität verbundene Einheit bilden.

Und nun zum Relativismus: Wenn wir sagen, dass z.B. moralische Richtigkeit relativ sei, dann meinen wir damit, dass sie abhängig sei von einem Wertesystem, dass sie vielleicht nicht bestünde in einem anderen Wertesystem. Diese Ansicht ist weit verbreitet, aber sie unterliegt dem folgenden Fehlschluss: Moralische Richtigkeit kommt nur vor dem Hintergrund eines Wertesystems vor, wobei man das System für das Grundlegendere hält und nicht die Werte, die es bilden, und zwar durch Werterelation (und nicht Werterelativität).
Das System bildet keine Werte, es besteht aus ihnen.



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Feb 2020, 07:30

Paradox hat geschrieben :
Fr 14. Feb 2020, 16:00
So allgemein formuliert, macht die Frage wenig Sinn.
@Paradox: Die Frage, wie jemand einen bestimmten Begriff versteht, macht auch ganz allgemein genommen durchaus Sinn, finde ich. Wenn der Gesprächspartner den Begriff vieldeutig findet, kann er das ja ausführen. Wir untersuchen in diesem Philosophie Forum ja ziemlich oft Begriffe, und da geht es fast genauso oft darum, zu erläutern, welche unterschiedlichen Verwendungsweisen es davon gibt.




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Feb 2020, 07:32

@Alethos:


Ich denke, ich bin mit relativ viel davon einverstanden :)

In den Begriffen Relationalität, Relativität und Relativismus steckt jeweils die Silbe "relat...". Dabei geht es in meinem Verständnis jeweils um Verhältnisse, Bezüge, Bedingungen gegebenenfalls auch Vergleiche. (Im Prinzip so, wie Du es oben ausgeführt hast.) In der Umgangssprache hat der Ausdruck "relativ" jedoch oft eine einschränkende Funktion. Etwas ist dann nicht einfach "so und so", sondern nur relativ "so und so". (Das ist wichtig/das ist relativ wichtig. Ich bin mir sicher/ich bin mir relativ sicher.)

Die Ausdrücke Relation und Relationalität werden auch nach meinem Eindruck (im Alltag) deutlich seltener verwendet. Auch bei ihnen geht es um Verhältnisse und Bezüge, jedoch fehlt dort, nach meinem Verständnis, der einschränkende (beinahe hätte ich gesagt: "relativierende") Aspekt. Ich kann sagen, dass die beiden Tassen auf dem Tisch nebeneinander stehen. Dabei geht es um die Relationen "nebeneinander" und "aufeinander". Etwas Einschränkendes ist damit nicht unbedingt ausgedrückt, es wird z.b. nicht gesagt, dass die Tassen nicht wirklich nebeneinander stehen.

Der Ausdruck Relativismus hat meines Erachtens, insbesondere in der Philosophie, durchgängig dieses Einschränkende. Alle Urteile ("das ist so und so") sind demnach immer nur eingeschränkt gültig. Wodurch werden sie eingeschränkt? Durch uns! Das kann man natürlich unterschiedlich aus buchstabieren: Urteile sind nur relativ gültig in Bezug auf das Menschsein, das einzelne Subjekt, die Sprache, Gepflogenheiten, eine Kultur, eine bestimmte Spezies und so weiter und so fort. Alles ist bei diesen Formen des Relativismus durch diese diversen Aprioris (wenn man so sagen darf) bedingt. (Zur Sicherheit sei hinzugefügt, dass ich natürlich kein Relativist bin. Das Hauptproblem des Relativismus besteht natürlich darin, dass er sich selbst widerlegt.)

Das folgende habe ich glaube ich mal bei John Searle gelesen, es kann aber auch in einem Seminar gewesen sein. Anders als viele Menschen glauben, zeigt die Relativitätstheorie von Albert Einstein keineswegs, dass der Relativismus richtig ist. Der Unterschied liegt, vorsichtig formuliert, darin, dass es hier eine realistische Deutung gibt. Die Verhältnisse, um die es dort geht, liegen nämlich objektiv vor, also unabhängig von unseren Vokabeln, Kulturen et cetera. Die Zeitverzögerung im Schwerefeld liegt objektiv vor. Das ist kein Relativismus, sondern eine besondere Form des Relativitätsprinzips, eben die Relativitätstheorie.




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Feb 2020, 08:15

Ich überlege gerade, ob es sinnvoll wäre, zwischen einem ontologischen und einem epistemischen Relativismus unterscheiden. Ob diese Begriffe glücklich gewählt sind, will ich erstmal offen lassen.

Gemeint ist folgendes: Beim ontologischen Relativismus ist alles, was es gibt, in irgendeiner Form bedingt. Alles entsteht und vergeht und existiert nur in einem weiten Netz von Bedingungen, Beziehungen und Umständen. Nichts ist einfach aus sich heraus, wie und was es ist. Das Gegenstück zum Bedingten ist natürlich das Unbedingte, also das Absolute - paradigmatisch: Gott.

Beim epistemischen Relativismus handelt es sich im Prinzip um das, was ich oben skizziert habe.

Den ontologischen Relativismus würde ich dann eher ontologischen Relationalismus nennen, um die Verwechslung mit dem Relativismus von vornherein auszuschließen. Denn das ist meines Erachtens, nicht nur in der Philosophie der gängige Sprachgebrauch. Beim Relativismus geht es in aller Regel um eine eingeschränkte Gültigkeit.




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Alethos
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Sa 15. Feb 2020, 12:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Feb 2020, 07:32
In der Umgangssprache hat der Ausdruck "relativ" jedoch oft eine einschränkende Funktion. Etwas ist dann nicht einfach "so und so", sondern nur relativ "so und so". (Das ist wichtig/das ist relativ wichtig. Ich bin mir sicher/ich bin mir relativ sicher.)

...Ich kann sagen, dass die beiden Tassen auf dem Tisch nebeneinander stehen. Dabei geht es um die Relationen "nebeneinander" und "aufeinander". Etwas Einschränkendes ist damit nicht unbedingt ausgedrückt, es wird z.b. nicht gesagt, dass die Tassen nicht wirklich nebeneinander stehen.

Der Ausdruck Relativismus hat meines Erachtens, insbesondere in der Philosophie, durchgängig dieses Einschränkende. Alle Urteile ("das ist so und so") sind demnach immer nur eingeschränkt gültig. Wodurch werden sie eingeschränkt? Durch uns! Das kann man natürlich unterschiedlich aus buchstabieren: Urteile sind nur relativ gültig in Bezug auf das Menschsein, das einzelne Subjekt, die Sprache, Gepflogenheiten, eine Kultur, eine bestimmte Spezies und so weiter und so fort. Alles ist bei diesen Formen des Relativismus durch diese diversen Aprioris (wenn man so sagen darf) bedingt.
In der Analyse der umgangssprachlichen Verwendung könnte man tatsächlich zum Eindruck gelangen, dass das Wort relativ mit 'ziemlich' übersetzt wird: "Ich bin mir ziemlich sicher" und "Ich bin mir relativ sicher" werden synonym verwendet: Sie wollen im Grunde dasselbe aussagen, weil in beiden Aussagen das Sichersein, wie du es sagst, "eingeschränkt" wird. Relativ wird oft als 'Bedingungswort' verwendet, etwa, wenn man seinen Aussagen nicht volle, absolute Wahrheit unterstellen will :) und die Wahrheitsbehauptung einer Aussage vorbeugend abschwächen will, etwa, weil man antizipiert, dass es sich nicht ausschliesslich so und so verhält, wie man behauptet, sondern es sich unter anderen Bedingungen auch anders verhalten und manchmal auch ganz das Gegenteil wahr sein kann. Man versucht dadurch, den Irrtum vorwegzunehmen, indem man der Aussage nur einen eingeschränkten Gültigkeitsbereich gibt (eben den relativ gültigen Bereich, in welchem sie wahr ist), wodurch auch mögliche Entgegnungen antizipiert werden. Wenn man so will, gesteht man mit diesem Manöver der Aussage Falsifizierbarkeit zu und stellt sie so als objektiv dar. Denn nur, was falsifizierbar ist, bezieht sich auf Wahrheit, und wenn man seinen Aussagen 'nur relative Gültigkeit' gibt, dann erhebt man implizit einen Anspruch auf Objektivität, weil man vorausnimmt, dass man falsch gelegen sein wird, was man wusste, als man sagte, es sei so und so, weil man ja darauf hingewiesen hatte, dass es nur relativ wahr sei, dass es so und so sei, nämlich nur unter der Voraussetzung wahr sei, dass es sich so und so verhalte :)
Beide Aussagen 'X ist wichtig' und 'X ist nicht wichtig" erhalten dann in der Form 'X ist relativ wichtig' beide Existenz als wahre Aussagen, wenn sie auch das Gegenteil behaupten.

Aber nun muss man nicht zwingend zur Ansicht gelangen, weil sie nicht zwingend wahr ist :), dass dieses Einschränken in der Form der relativierenden Aussage eine epistemische Vermittlung einer binären Wirklichkeit sei: eine Vermittlung zwischen entweder wahr oder falsch, Wahrsein oder Nichtwahrsein. Es sind doch nicht nur wir, die einschränken und vermitteln zwischen Wahrheit und Unwahrheit, sondern es kommt an der Sache selbst vor, dass es Abstufungen gibt, die zwischen den Graden des Soseins vermitteln. Es ist eine ontologische Tatsache, dass Dinge relativ sind und es ist auch eine ontologische Tatsache, dass das Gegenteil wahr sein kann: Es ist das Haus gross und klein zugleich, eben relativ gesehen zu etwas.
Über die Grade von Schnelligkeit, Grösse, Kraft bspw. lassen sich keine sinnvollen Aussagen machen, wenn man sie nicht im Verhältnis der Dinge zueinander betrachten dürfte: Die Tatsache bspw., dass das Universum weit ist, ist unbestritten, aber das Konzept der Weite macht gar keinen Sinn, wenn es nicht eine kleinere und grössere Weite gäbe, auf die man den Begriff anwenden kann. Es macht keinen Sinn zu sagen, das Universum sei gross und denselben Begriff der Grösse auf ein Haus anwendet ('Das Haus ist gross'), wenn in der Realität keine Relativität vorkommt, unter deren Bedingungen der 'Begriff des Grösser- oder Kleinerseins als' an der Relation der Objekte erscheinen kann. Denn die Grösse ist ja gerade eine Eigenschaft der Objekte, durch welche sie sich voneinander unterscheiden, weshalb z.B. die Sonne grösser ist als die Erde, das Haus viel kleiner als die Galaxie usw.. Das sind metrische Relationen und somit relative Zuordnungen der Dinge unter dem Licht ihrer Bezogenheit aufeinander (Relationalität). Es ist aus der Perspektive der Sonne so, dass die Erde kleiner ist sowie umgekehrt aus der Perspektive der Erde so, dass die Sonne grösser ist: Das ergibt die Relation der beiden, also das Aufeinanderbezogensein der beiden, aber nicht etwa ist es doch so, dass wir diese Perspektive 'herstellen' würden, sondern sie ist real im Vollsinne des Wortes. Und das ist doch, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas sei wahr: Dass es absolut wahr sei und absolut wahr ist etwas, das im Vollsinn real ist, also etwas, das sich so und so verhält, unabhängig von unserem Fürwahrhalten. Es ist wahr, dass die Sonne grösser ist als der Mars und es ist wahr, dass die Erde schneller die Sonne umkreist als der Neptun. Das würdest du ja auch gar nicht bestreiten, das weiss ich :) Aber warum würdest du denn bestreiten, falls du es tust, dass etwas wichtig und dasselbe unwichtig zugleich sei? Denn es kann ja etwas relativ wichtig sein, also wichtiger sein als das andere, wodurch das eine wichtig und unwichtig zugleich ist, je nachdem, ob das andere wichtiger oder unwichtiger ist, jetzt wichtig ist oder jetzt nicht wichtig ist etc. Dann ist die Aussage: "X ist nicht wichtig" ebenso wahr wie die Aussage "X ist wichtig", je nach dem, welchen Bezug man für die Wichtigkeit von X herausstellt.

Mein Punkt ist der: Wenn wir relativieren, z.B. indem wir sagen: 'Das ist mir relativ wichtig', dann tun wir das, wir schränken ein, wie du es sagst, aber es ist dennoch eine ontologische Aussage, weil es auf eine Wahrheit Bezug nimmt, in der es genau so ist, dass es mehr oder weniger Wichtigkeit, mehr oder weniger Geschwindigkeit, mehr oder weniger Grösse geben kann. Etwas ist wichtiger als das andere, unabhängig von unserem Fürwahrhalten und unabhängig von unseren Gewichtungen. So wie es wahr ist, dass ein auf die Tafel gezeichneter Kreis aus verschiedenen Perspektiven wie eine Ellipse aussieht: Sie sieht dann nicht nur so aus, wie eine Ellipse, sie ist eine, weil die Relativität eine perspektivische Realität ist.

Auf unser Fürwahrhalten bezogen: Wenn wir z.B. der Meinung sind, dass jemanden zu töten in einer bestimmten Situation richtig sei, dann ist das eine Meinung, die deshalb richtig ist, weil sie der perspektivischen Realität Rechnung trägt, in der die Wahrheit aus dieser Perspektive durchscheint, die da ist, dass es richtig sei, jemanden dann zu töten. Meinungen beziehen sich immer auf eine Wahrheit.
Und doch irrt sich diese Person, die diese Meinung hat, weil es ebenso wahr ist, und sogar wahrer, dass es ein Recht auf Leben gibt, das es zu schützen gilt. Wahrer deshalb, weil es mehr perspektivische Realität aus jenen Tatsachen gibt, durch die die absolute Wahrheit durchscheint, dass das Leben schützenswert ist. Mit Blick auf das Fürwahrhalten gibt es keine absolute Wahrheit, diese gibt es nur in der Wahrheit selbst, die absolut durchscheint durch alles Relative hindurch.



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Feb 2020, 13:26

Was ich bestreite ist, dass der "epistemische Wahrheits-Relativismus" kohärent vertretbar ist. "Epistemischer Wahrheits-Relativismus" - das ist natürlich kein stehender Begriff, das habe ich jetzt ad hoc für diese Zwecke zusammengeschustert, also bitte nicht auf die Goldwaage legen. Damit will ich den Begriff vom ontologischen Relativismus abgrenzen.

Wer sagt, dass wir die Dinge nicht erkennen können, wie sie an sich selbst sind, sondern immer nur relativ auf unsere Begriffssysteme, auf unsere Sprache, unsere Kultur, auf die biologische Besonderheiten unseres Gehirns et cetera pp, der begibt sich in einem unmittelbaren Selbstwiderspruch, weil er schließlich in diesem Moment genau das für sich beansprucht. Das meinte ich mit: der Relativismus widerlegt sich selbst.

Zielten deine Einwände darauf?




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Alethos
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Sa 15. Feb 2020, 13:57

Bin mir nicht sicher, ob sich deine Frage auf die beiden oberen Abschnitte in deinem
letzten Post bezieht. Mein Einwand ging darauf, dass man einen epistemischen Relativismus sehr wohl kohärent vertreten kann, solange er nicht behauptet, dass es keine absolute Wahrheit gibt.

Wenn man behauptet, dass die Wahrheit für uns immer nur dort vorkommen kann, wo es theoretische Wahrheitsbedingungen gibt, dann ist das meines Erachtens eine richtige Darstellung. Alle wahrheitsfähigen Aussagen kommen in einem epistemologischen Gerüst vor, wir haben gar keinen anderen Zugang. Wenn der epistemologische Relativismus daraus ableitete, dass sich die Wahrheit selbst ändere, wenn sich unsere theoretischen Systeme ändern, dass sie also abhängig sei von unserem denkerischen Zugang zu ihr, dann irrt er und führt ins Leere. Denn Wahrheit ist das Absolute des Soundsoseins der Dinge an sich, und es sind unsere Ansichten und Meinungen, die sich ändern, wenn sie sich der Wahrheit annähern.



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Sa 15. Feb 2020, 14:06

Dann habe ich deinen Begriff von epistemischen Relativismus nicht verstanden. Nach meinem Verständnis ist der Begriff synonym mit der Behauptung, dass es keine (absolute) Wahrheit gibt.




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Sa 15. Feb 2020, 14:21

Dann ist der epistemische Wahrheitsrelativismus falsch.



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Sa 15. Feb 2020, 16:14

Ist es eigentlich eine Form der Relativität, dass 2+2 und 3+1 die gleiche Referenz haben, nämlich 4?



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So 16. Feb 2020, 11:48

Inwiefern?




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Alethos
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So 16. Feb 2020, 12:30

Ich denke da in Richtung Frege an das Verhältnis zwischen Bedeutung und Sinn. Sinn versteht er, frei formuliert, als eine Registratur für die Gegebenheit eines Gegenstandes, der die Referenz dieser Registraturen ist.

Nehmen wir die berühmten drei verschieden farbigen Würfel an der Tafel und die Frage, wie viele Gegenstände es dort gebe. Die Antwort kann 3 lauten (Würfel), sie kann aber auch 24 lauten (Ecken), sie kann auch 18 sein (Würfelflächen), 21 (Würfelflächen und drei verschiedene Farben) etc. Was da jeweils ist, kann man nur sinnvoll beantworten, wenn man die Frage nach der Existenz relativ zu etwas stellt: der (objektiv vorhandenen) Registratur selbst.



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So 16. Feb 2020, 12:40

Ja, Gegenstand und Feld sind relational. Da es von diesem Phänomen jedoch auch eine relativistische Interpretation gibt, würde ich den Begriff relational bevorzugen.




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So 29. Nov 2020, 20:26

Ich habe in den letzten Tagen oft über moralische Richtigkeit nachgedacht und versucht, mir ein Bild von den verschiedenen Argumentationslinien moralischer Relativisten und Realisten zu machen.

Als Grundlage ein Beispiel. Hitler war ein moralisch verwerflicher Mensch. Er befahl den Tod abertausender Menschen.
Die Kompizen um Graf von Stauffenberg planten ein Attentar auf Hitler. Bei Erfolg hätten sich unzählige Menschenleben retten lassen. Wäre der Mord an Hitler dadurch moralisch legimitiert?

Die Antwort fällt nicht leicht. Mir wollen die letzlich erfolglosen Attentäter als Helden erscheinen, denen ein Erfolg gegönnt gewesen wäre. Hätten sie bloss die Bombe ins Ziel gebracht.

Aber ist das korrekt gedacht? Kann es eine Rolle spielen, um wen es beim Opfer des Attentats gegangen ist, um zum Schluss zu gelangen, dass der Mord gerechtfertigt wäre? Oder darf es nicht vielmehr gar keine Rolle spielen, wer das Opfer war, zu welcher Zeit die Tat und unter welchen Umständen sie ausgeführt wurde? Töten mit Absicht, das kennt doch moralisch gesehen keine mildernden Umstände?

Es ist die Tat selbst in ihrer formalen Reinheit, die wir zu beurteilen haben, ja, die wir überhaupt beurteilen können. Alles andere sind nur Erklärungs-, aber nie Rechtfertigungszusammenhänge.
Tun wir nämlich so, als gäbe es relativ gute Gründe für falsches Handeln, finden wir nirgends mehr Halt für unsere Urteile. Sie werden willkürlich, weil jeder Begleitumstand einer Tat willkürlich als rechtfertertigendes Moment für die Tat selbst gesetzt werden kann. Aber moralphilosophisch gesehen darf es doch keine mildernden Umstände geben für das Böse? Braucht es mit Bezug auf moralische Richtigkeit nicht eine „Reinheit der moralischen Lehre“, die sicherstellt, dass wir individuelle Motive und Einstellungen hintanstellen und das wahre Gute für sich sprechen lassen?



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Alethos hat geschrieben :
So 29. Nov 2020, 20:26
Kann es eine Rolle spielen, um wen es beim Opfer des Attentats gegangen ist ...
Es spielt sogar eine entscheidende Rolle.

Nehmen wir dazu ein Beispiel: du wirst überfallen; den Aggressor zu töten, ist deine einzige Chance, dein eigenes Leben zu retten - das ist die Voraussetzung des Gedankenexperiments. In diesem Fall - das dürfte wohl Konsens sein - hast du das Recht, den Aggressor zu töten, um dich selbst zu retten.




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"Aristoteles erste Regel des guten Handelns lautet, dass es für gutes Handeln keine Regeln gibt, ein guter Mensch zu sein heißt, seinen Charakter so auszubilden, dass man das Vermögen besitzt, in jeder gegebenen Situation das Richtige zu tun. Es heißt nicht, ein bestimmtes moralisches Handbuch auswendig gelernt zu haben." (Julian Baggini)

Ob es jemanden gibt, der in jeder gegebenen Situation Bescheid weiß, können wir dahingestellt sein lassen, ich würde es bezweifeln. Was aber sicherlich richtig ist: es gibt kein moralisches Handbuch, das wir auswendig lernen könnten.

Ähnlich Markus Gabriel: "Es gibt keinen moralischen Algorithmus, keine Regel und kein Regelsystem, das alle moralischen Probleme ein für alle Mal abhandelt." ... Die Ethik "stellt uns vor eine niemals ein für alle Mal zu erledigende Aufgabe."




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 30. Nov 2020, 05:55
Alethos hat geschrieben :
So 29. Nov 2020, 20:26
Kann es eine Rolle spielen, um wen es beim Opfer des Attentats gegangen ist ...
Es spielt sogar eine entscheidende Rolle.

Nehmen wir dazu ein Beispiel: du wirst überfallen; den Aggressor zu töten, ist deine einzige Chance, dein eigenes Leben zu retten - das ist die Voraussetzung des Gedankenexperiments. In diesem Fall - das dürfte wohl Konsens sein - hast du das Recht, den Aggressor zu töten, um dich selbst zu retten.
Aber das Töten wird dadurch nicht richtig, oder?



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Di 1. Dez 2020, 05:58

Nicht das Töten schlechthin wird richtig, sondern das Töten in diesem Moment als Selbstverteidigung.




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