Nauplios hat geschrieben : ↑ Mi 6. Jan 2021, 18:52
Sind die Argentinier moralisch fortgeschrittener als die Polen? -
Obwohl das eine rhetorische Frage ist, will ich darauf eingehen, weil sie gelinde gesagt suggestiv ist: Sie suggeriert, dass es die Argentinier oder die Polen gibt, und dass sich das Werturteil „fortschrittlich“ auf sie als ganze Gruppe anwenden lässt. Das tut es gerade nicht, wenn man deinen Beitrag gut gelesen hat. Werte konkurrenzieren einander und es gibt zwar so etwas wie Wertegemeinschaften, deren Gemeinschaftsteilnehmer aber untereinander uneins sind. Das ist völlig okay so, da wirken ja demokratische Kräfte, man soll diskutieren und man soll debattieren. Aber so zu tun, als müssten wir uns zwischen Polen und Argentiniern entscheiden, das ist nicht ganz lauter: denn wir müssen uns entscheiden, ob Schwangerschaftsbruch liberal oder restriktiv gehandhabt werden soll, nicht, ob Polen oder Argentinier die besseren, die fortschrittlicheren Menschen sind.
Nun aber vermag dein ganzes Argument gar nicht gegen den Realismus anzugehen, denn er sagt ja gerade, dass man über moralische (in der Folge auch politische) Fragen zu anderen Schlüssen kommen kann und kommt. Nirgends fordert der Realismus ein, dass es nur eine Meinung geben dürfe, der Realismus sagt bloss, was die wahre Meinung sei, entscheide sich an der Sache: am Sachverhalt, dass Rechte existieren, dass Rechteverletzungen real sind etc.
Der Realismus fordert nicht eine Meinungsvereinheitlichung, sondern eine Ausrichtung der Meinungen an Fakten. Der Realismus benötigt keine Einheitsmeinung, um sich als Realismus zu behaupten, weshalb der Hinweis darauf, dass Staaten und Menschen etc. unterschiedliche Moralvorstellungen entwickeln, kein Argument gegen den Realismus sein kann. Der Realismus bestätigt vielmehr, dass man zu unterschiedlichen Moralvorstellungen kommen kann und auch regelmässig kommt, aber sagt, nicht die Moralvorstellungen ergeben, was Recht oder Unrecht jeweils ist. Er behauptet also, anders als der Relativismus, dass es moralische Grundannahmen (Realitäten) gibt, die letzlich das Verdikt über moralische Urteile geben und dass folglich, sich die Argentinier oder aber die Polen irren, dass die Argentinier moralischen Fortschritt machen oder aber die Polen Rückschritt. Dass Viele vieles anders sehen, spricht aber auf der anderen Seite auch nicht für den Relativismus.
In den Augen des Realisten gibt es nur eine Wahrheit betreffend das Selbstbestimmungsrecht der Frau: Sie muss selber entscheiden können, ob sie die Schwangerschaft fortführen oder abbrechen will / kann / muss etc. (Eine Entscheidung, die wahrlich schon so schwer genug sein muss, als dass ihr da Andere bevormundend reinreden sollten.) Es kann sein, dass wir gewisse Grundannahmen über die (moralische Wirklichkeit ändern müssen, in Zukunft, das das Urteil über Schwangerschaftsabbruch einer Revision unterzieht. Ja, wir können uns irren, aber das nur anhand der Sache. Und wir können uns irren auch über die naturale Welt.
Der Realismus sagt also: Es gibt da eine Tatsache, aber wir kennen sie nicht in jedem Fall. Wir haben Gründe, die in der Sache liegen, die uns helfen zu einem möglichst gerechten, einem möglichst sachgerechten Urteil zu kommen, aber wir können das Gute letzlich nur ermitteln, wenn wir grundlegende Wahrheiten (Annahmen) gelten lassen. D.h der Realist bedient sich gewisser Grundannahmen, wie jeder andere Mensch auch, und hält diese fürwahr, wie jeder vernünftige Mensch seine Ansichten fürwahr hält. Er sagt aber nicht, wir kennen die Wahrheit, ihr kennt sie nicht: Der Realist sagt konkret: Wir sind fallibel. Gerade das behaupten die Konsensualisten nicht (eine liebliche Form des Realtivistendaseins). Sie sind nicht fehlbar, denn was wollte sie korrigieren können? Nichts könnte eine relativistisch begründete Wahrheit verbessern, wenn es da nicht eine Realität gibt, die das tut.
Die Realität ist der Kitt einer Gemeinschaft, auch einer moralischen.
Dass es vielfältige Meinungen gibt heisst also nicht, dass jede Meinung richtig ist, was der Relativist ja in moralischen Dingen aber zu behaupten scheint (Eine Meinung ist sowohl richtig wie falsch). Würde der moralische Relativist nämlich behaupten, dass es selbstverständlich bezüglich moralischer Dinge gewisse Taten gibt, die moralisch zwingend falsch sind, z.B. bezüglich dem Holocaust, dass er als böse zu gelten hat, dann würde er wie ein Realist argumentiert haben, der ja nicht sagt, dass er böse war, weil man sich allgemeinhin darüber einig ist, dass er es war, sondern weil er es war durch sich: Weil der Holocaust fundamentale Rechte von Menschen in krassester und erniedrigendster Weise verletzt hat. Wenn sich also alle Relativisten einig sind, dass der Holocaust schlecht war, weil er es an und für sich war, unabhängig von der Zeit, in der man ihn beurteilt, und für jede Kultur gelten muss, dass er böse war, dann haben sich diese Relativisten auf eine Realität geeinigt und haben eine universale moralische Wahrheit gewürdigt, die uns zu einer Gemeinschaft macht. Eine, die unter dem Dach der universalen Menschenrechte, eine gerechte Menschengemeinschaft ist. Dann aber war sein moralischer Relativismus falsch.
Es wird vielleicht weiterhin Holocaustleugner und -befürworter geben, ja: Aber diese werden dann nicht einfach bloss irren und ein justiziables Recht verletzt haben und von der Justiz verfolgt werden müssen, sie werden dann durch diese Gemeinschaft geächtet werden müssen, weil sie sich in fundamentaler Weise, in einer diese Gemeinschaft bedrohender Weise irren. Darum geht es dem Realisten, solche Irrtümer zu vermeiden, die das Fundament unserer Menschlichkeit, die sich aus der Realität unserer Rechte ergibt, zerstören.