Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mi 2. Dez 2020, 15:52
Ich würde es in meiner Sprache ungefähr so formulieren: Wenn das Richtige je von der einmaligen Situation abhängt, wie kann es dann zugleich allgemeingültig sein. (Ist das einigermaßen korrekt paraphrasiert?)
Nein, deine Paraphrase gibt nicht das Problem wieder, wie es sich mir stellt. Ich erkenne, dass das Richtige von einer einmaligen Situation abhängen kann, ja, sogar muss, weil 'das Richtige' im Realismus seinen Platz hat. Real ist etwas immer nur in der Einmaligkeit der Situation, in der es sich aktualisiert. Keine Situation ist mit der anderen Situation jemals identisch. Alle Wahrheit, auch die moralische, muss demnach eine sein, die sich auf die Individualität des Sachverhalts bezieht. Dass es kein allgemeines Wahrheitskriterium gibt, das dürfen wir zurecht annehmen.
Die Frage ist daher nicht, ob es ein allgemeines Wahrheitskriterium mit Bezug auf das moralisch Richtige gibt, sondern ob das moralisch Richtige nicht vielmehr einem Wert entspringt, der in jedem Fall dieser Wert ist. Das moralisch Richtige ist sozusagen selbst eine Situation, die sich einstellen muss, weil die in die Situation eingelassenen Werte immer die sind. Ein Mensch ist ein Mensch, ob er dir Übles will oder nicht: Er hat einen Wert. Ein Angreifer mag ein böser Mensch sein, aber das nimmt ihm nicht den Wert als Mensch. Ihn zu töten würde gegen diese seine Würde als Mensch verstossen. Die Menschenwürde ist in jedem Fall unantastbar. Deshalb ist es prinzipiell falsch, jemanden zu töten. Es ist falsch, jemanden zu töten, weil die
Situation des Tötens in jedem Fall eine Situation des moralisch falschen Handelns darstellt. Das bedeutet aber auch, dass es keine Situation geben kann, die diese Situation legitimieren oder relativieren könnte.
Wenn wir z.B. sagen, dass es in der spezifischen Situation X durchaus möglich ist, dass die Handlung des Tötens moralisch richtig sei, dann relativieren wir die moralische Richtigkeit zwangsläufig mit diesem Moment. Wir versetzen nämlich den moralischen Wert in eine Situation, beleuchten diesen Wert aus der Optik, der Dynamik, der Konfiguration dieser Situation. Das ist Relativismus in jedem Fall, weil wir den moralischen Wert in Bezug auf etwas, in Vergleich mit etwas oder unter gewissen Bedingungen betrachten. D.h. Relativismus ist es in jedem Fall. Es gibt keinen Relativismus, der erst dort begänne einer zu sein, wenn der Bezugsrahmen eine Epoche ist oder ein kultureller Raum. Wir können nicht sagen, dass wir erst dann Relativisten sind, wenn wir die Moralität einer Tat nach kulturellen oder geografischen Gesichtspunkten betrachten, nicht aber dort Relativisten seien, wo wir nur eine Momentaufnahme eines einzigen Sachverhalts anschauen. In jedem Fall gilt der moralische Wert als ein sich über alle Momente hinweg perpetuierender, sich in jeder Aktualität perfomierender Wert.
Wäre es nicht so, wäre es also so, dass gewisse Umstände das Töten legitimieren könnten, wäre es unumgänglich so, dass wir dafür Kriterien angeben müssen für diese Umstände. Welche Umstände legitimieren das Töten genau und warum diese und nicht andere Kriterien? Wenn wir Legitimationskriterien angeben, dann müssen wir auch angeben, warum wir diese Kriterien und nicht andere heranziehen. Ist das Attentat auf Hitler moralisch gerechtfertigt? Ja, und auf Trump auch? Und wenn ja oder nein, warum nicht Trump, aber Hitler schon? Oder ist das Töten von Präsidenten und Diktatoren nicht richtig, sondern nur aus Notwehr richtig? Wenn aber aus Notwehr, ist denn das Töten eines Despoten nicht in einem gewissen Sinne auch Notwehr eines Volks gegenüber seinem Unterdrücker?
Wir sehen: Es kann nicht so sein, dass es für das Gute "Kriterien" gibt. Das Gute ist ein Kriterium selbst, das uns in einer Situation unser Handeln anleiten soll. Das ist der reale Wert des Guten, dass er überall wirklich ist.