Relativismus

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Nauplios
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Mi 6. Jan 2021, 23:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 20:57
Ich kenne die Ethik von Nicolai Hartmann nicht, aber wenn man ein wenig googelt findet man folgende Zitate:
„[Werte sind] Gebilde einer ethisch idealen Sphäre eines Reichs mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung.“
„[…] es gibt eben ein reines Wert-Apriori. Das unmittelbar, intuitiv, gefühlsmäßig unser praktisches Bewusstsein, unsere ganze Lebensauffassung durchzieht, und allem, was in unseren Gesichtskreis fällt, die Wert-Unwert-Akzente verleiht.“
„Die Werte selbst verschieben sich nicht in der Revolution des Ethos. Ihr Wesen ist überzeitlich, übergeschichtlich. Aber das Wertebewusstsein verschiebt sich.“
Ja, sowohl Max Scheler als auch Nicolai Hartmann behandeln Werte wie platonische Ideen, eine "ideale Phäre eines Reichs ... " ... "überzeitlich, übergeschichtlich" ... Was bei Hartmann das "Wertebewußtsein", welches sich verschiebt (im Gegensatz zu den Werten, die überzeitlich und geschichtlich sind), sind bei Dir die "Werteinschätzungen", die konkurrieren (im Gegensatz zu den Werten, die universal und kulturunabhängig sind). -

Ähnlich Max Scheler: "Werte sind ... als Wertphänomene ... echte Gegenstände, die von allen Gefühlszuständen verschieden sind." (Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik; S. 14) Dann hat man also in der Sphäre der höchsten ontologischen Dignität die Werte, die bei Kontakt mit menschlichem Bewußtsein zu Wertphänomenen werden usw. - Die Stoßrichtung bei Scheler und Hartmann ist die gegen Kant; aber das wäre dann mal was für einen eigenen Strang, ebenso Faktizität und Geltung von Habermas ... In dieses Themenfeld (Verfassungspatriotismus, Verfassungsrecht, Werte und Moral) spielen immer wieder die Überlegungen von Staatsrechtlern hinein (Böckenförde, Forsthoff, Anschütz, Schmitt), die für die Philosophen wichtige Denkanstöße gegeben haben - und natürlich auch umgekehrt.




Nauplios
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Do 7. Jan 2021, 01:39

Alethos hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 23:04

Der gute Realist ändert seine Ansichten mit der noch besseren Einsicht in die Wahrheit.
Und der weniger gute Realist? -

Im Manifest des Neuen Realismus schreibt Mario Ferraris, Lyotards These vom Ende der großen Erzählungen soll eine "Pandemie" (S. 15) ausgelöst haben. Eine "Pandemie". - Wenn der Neue Realismus davon überzeugt ist, daß wir die Dinge und Tatsachen und Sachverhalte so erkennen wie sie sind, dann soll er das tun. Aber biologische Metaphern?? - Das ist eine andere Qualität als Schopenhauers bekannte Beschimpfungen Hegels. Das ist der Sound des Neuen Realismus als Kulturkampf. Felix Heidenreich schreibt dazu in der Philosophischen Rundschau: "Wie gut, daß die Aufklärung mit Maurizzio Ferraris einen Herkules auf ihrer Seite weiß, der sich anschickt, diesen Augias-Stall endlich auszumisten." (Bd. 62, Heft 3; S. 228) - Die Vorstellung, der gute Realist beschränke sich darauf, "seine Ansichten mit der noch besseren Einsicht in die Wahrheit" zu ändern, ist vor allem eines - unrealistisch.

Heidenreich weiter: "Auch bezüglich der praktischen Folgen poststrukturalistischer Positivismuskritik läuft Ferraris Gefahr, aufgrund seines rhetorischen Furors das klassische Dammbruch-Argument zu überspannen. Man kennt das Bauprinzip aus zahllosen anderen Attacken auf konstruktivistische Theorien: Die triviale deskriptive Beobachtung, dass soziale Normen historisch und kulturell kontextgebunden sind, wird zu der Behauptung verbogen, alles sei erlaubt. Und als Widerlegung dieses moralischen Nihilismus werden in der Regel gefolterte Babys angeführt. (...) Auch bei Ferraris ist dieses Schema zu finden, wenn er innerhalb weniger Sätze von Rortys Begriff der Solidarität zu Joseph Goebbels überleitet. (Manifest; S. 71) (...) Als Gesamtbild hat diese Form des Manifests die Anmutung eines Ballerspiels: Hier werden Pappkameraden aufgebaut und dann mit viel Lärm weggeschossen. (...) Ausgerecht Kant ... wird hier als Trottel vorgeführt, der eine Art Pipi-Langstrumpf-Ontologie vertreten oder zumindest ideengeschichtlich zu verantworten habe." Manifest; S. 33f - (Heidenreich; a.a.O. S. 230) -

Der "gute Realist" ist nicht gerade der Prototyp seiner Denkschule. Der "gute Realist" kommt aus der Schweiz und heißt Alethos. ;) Ansonsten sprechen wir hier von einer philosophischen Denkrichtung, die ihr Geburtsdatum auf den "23. Juni 2011 um 13.30 Uhr" festgelegt hat, mithin nicht mal eine Dekade überdauert hat. Gegen eine junge Wissenschaftsjournalistin (Mai Thi Nguyen Kim), die sich in einem YouTube-Video ein "Virologenranking" erlaubt hatte, holte Markus Gabriel im vergangenen Jahr das ganz große Besteck raus: "Ein unvorstellbarer Skandal" - ein "großer Angriff auf die Demokratie". Na, es scheint eine Tatsache zu sein, daß die Demokratie diesen "großen Angriff" gerade noch mal parieren konnte. Der Sound des Neuen Realismus (Derrida: "grober Quatsch"; Rorty: "elend schlechter Philosoph") - dröhnt aus den Lautsprechern der Medien. Ich habe gar nichts gegen Realismus. Aber ich schalte ab, wenn ich das Gefühl habe, auf einem Parteitag zu sein.




Nauplios
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Do 7. Jan 2021, 02:05

Ein kleines Fundstück, das mir in dieser kalten Nacht das Herz wärmt:

"Daran krankt meines Erachtens die Philosophie generell, wenn sie sich so versteht, als müsste sie allgemeingültig wahre Schlüsse produzieren.
Lebenswirklichkeiten sind komplex und sie sind es, weil es ständig zu Überlagerungen kommt: geschichtlichen, sozialen, begrifflichen, zwischenmenschlichen. Diese auszublenden ist vielleicht der grösste Irrtum bei der Bewertung unserer Urteile als absolut wahre oder falsche. Daran krankt auch der Realismus, wenn er die Welt in eine dichotome Struktur hineinzwängt, in der alles, was wahr ist, zugleich unmöglich falsch sein kann und umgekehrt alles, was falsch ist, unmöglich wahr sein kann. Diese binäre Struktur wohnt dem Realismus inne, weshalb unter seinen Vorzeichen Fortschritt eine Tilgung des Falschen sein muss. Alles, was falsch ist, muss eliminiert werden, weil zwischen dem (noch) Irrtum und der (ontologischen) Wahrheit etwas steht: der Irrende. Fortschritt ist - realistisch gesehen - Irrtumsbeseitigung. Für den Realisten gibt es an und für sich wahre Positionen (politische und philosophische), so dass auch die irrigen Ansichten ausgemerzt werden müssen, denn Ziel ist ja die Erlangung von Wahrheit. Fortschritt hat eine klare Richtung nach vorne, darin wird das teleologische Moment erkennbar: Dass es dort eine Wahrheit gibt, die sich uns rein und unumstösslich zu erkennen anbietet - wenn wir bloss nicht irren - und dass unser Weg derjenige ans Licht ist, strebend nach dieser Wahrheit, die uns anleitet.

Es gibt keine solche moralische Wahrheit in Reinform, wenn nicht alle Befindlichkeiten, wenn nicht alle sozialen Wahrheiten berücksichtigt werden. (...) Es gibt kein absolut richtig oder falsch: das Lager der Wahrheitskämpfer und das Lager der Irrenden, es gibt nur eine sehr komplexe Lage, die schwierig ist, weil sie sich moralisch anders zeigt als sozial und nochmal politisch anders als philosophisch. Das ist Wirklichkeit - kein rein durch philosophisches Spiel, kein rein durch logisches Kalkül oder moralisiernden Diskurs Bereitbares.

Das ist der Grund, warum die Philosophie nicht fortschreitet, weil sie sich zu sehr darauf versteht zu belehren, anstatt sich dieser schwierigen Wirklichkeit ohne den Anspruch auf allgemeingültig wahre Aussgen über sie zu stellen.
Und darum ist der Metaphorologe im Vorteil gegenüber dem Realisten: weil er keine absolute Wahrheit postuliert, sondern nur Bilder, Analogien, Gleichnisse sucht, um mittels der Unschärfe der Begriffe den fliessenden Konturen der Wirklichkeit, den schwebenden Grenzen Raum zu geben für ihre Entfaltung in Sprache."

Mir ist der Name des Verfassers leider entfallen. Nur so viel weiß ich: es ist nicht von mir. ;)




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Do 7. Jan 2021, 02:18

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 22:44
Ich will dazu gar nichts mehr sagen. Ausser: Interessantes Thema.
Sollte darin eine Art Staffelübergabe involviert sein, so will ich den Stab für die nächsten 400 Meter zwar übernehmen, gebe aber zu bedenken, daß nach meiner inneren Uhr 300 davon bereits absolviert sein dürften. Deswegen Stefanie: bitte bereithalten! :o ;)




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NaWennDuMeinst
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Do 7. Jan 2021, 04:10

Meine Gedanken kreisen immer wieder um die Folgen.

Aspekte des Existenzialismus:

Der Mensch ist das einzige Seiende, bei dem die Existenz (dass er ist) der Essenz (was er ist) vorausgeht, was jedoch nicht als zeitliche Reihenfolge zu verstehen ist. Begründung: Sein Wesen bestimmende Grundzüge (was er sein soll, damit er eigentlich Mensch ist) gibt es nicht. Sartre geht davon aus, dass es keinen Gott gibt, der den Menschen Werte auferlegt haben könnte, und keine außerhalb des Menschen liegende verbindliche Ethik.

Die Lage des Menschen ist also durch absolute Freiheit gekennzeichnet: „Ich bin dazu verdammt, frei zu sein“ oder: „Der Mensch ist der Statthalter des Nichts“ (Heidegger). Dieser Grund-Situation hat sich der Mensch zu stellen. Alles andere wäre eine Selbsttäuschung. „Es gibt keine Natur des Menschen, die den Menschen festlegt, sondern der Mensch ist das, wozu er sich macht.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Paul ... nzialismus

Die Moral der wir folgen ist nicht einfach nur ein Regelwerk, sie bestimmt zum großen Teil unser Wesen (Wer ich bin ist mitbestimmt dadurch wie ich handle).
Von "moralischen Tatsachen" auszugehen würde aber bedeuten, dass das Wesen des Menschen vorherbestimmt ist, dass es nur eine - und zwar die "richtige" - Art eines Selbstentwurfs gäbe. Alle anderen Entwürfe wären letztlich ein "Irrtum". Die Entscheidung darüber wer wir sind und sein wollen liegt dann nicht mehr bei uns, beim Menschen selbst , sondern in den "moralischen Tatsachen". Die Essenz geht der Existenz voraus.

„Ich bin dazu verdammt, frei zu sein“.
Das ist kein schönes Los, weil es den Menschen (und zwar jeden Einzelnen) in die Verantwortung zwingt sich immer wieder selbst neu zu erfinden.
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich warum Menschen immer wieder ihr Heil bei Gott suchen. Denn Gott entlastet sie von dieser Verantwortung sich selbst zu entwerfen. "Moral ist vorgefunden" ist für mich deshalb gleichbedeutend mit dem freiwilligen Verzicht auf Selbstbestimmung.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
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Do 7. Jan 2021, 04:33

Nauplios hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 01:39
Heidenreich weiter: "Auch bezüglich der praktischen Folgen poststrukturalistischer Positivismuskritik läuft Ferraris Gefahr, aufgrund seines rhetorischen Furors das klassische Dammbruch-Argument zu überspannen. Man kennt das Bauprinzip aus zahllosen anderen Attacken auf konstruktivistische Theorien: Die triviale deskriptive Beobachtung, dass soziale Normen historisch und kulturell kontextgebunden sind, wird zu der Behauptung verbogen, alles sei erlaubt. Und als Widerlegung dieses moralischen Nihilismus werden in der Regel gefolterte Babys angeführt. (...)
Ja. Das ist eine zutreffende Beschreibung. Dieses Argumentationsmuster findet man in diesem Thread ja auch wieder:
Entweder Du bist bekennender Realist oder eben Jemand der Kinderquälerei wort- und tatenlos geschehen lassen muss.
Irgendwie erinnert mich das an Bush's "Achse des Guten". Entweder bist Du für uns oder gegen uns.

"Du willst doch auch, dass Kinderquälerei endet, oder?"
"Ja, klar."
"Ok, das geht nur wenn Du unserem Realistenclub beitrittst"
"Muss das sein?"
"Ja, andernfalls bist Du ein Befürworter von Kinderquälerei. Und das willst Du doch nicht!"
"Hm. Na gut. Wo muss ich unterschreiben?"



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Jörn Budesheim
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Do 7. Jan 2021, 06:07

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 04:10
Von "moralischen Tatsachen" auszugehen würde aber bedeuten, dass das Wesen des Menschen vorherbestimmt ist, dass es nur eine - und zwar die "richtige" - Art eines Selbstentwurfs gäbe.
Neben dem, was Verboten und Geboten ist, gibt es natürlich auch einen großen Bereich des moralisch Erlaubten bzw des moralisch Neutralen. Es ist nicht moralisch vorherbestimmt, dass du ein Lokomotivführer oder Notarzt wirst, um ein Beispiel aus einem anderen Faden zu bringen. Deine Freiheit des Selbstentwurfs ist nur dadurch moralisch beschränkt, dass auch die anderen diese Freiheit haben. Wenn dein Selbstentwurf vorsieht, Massenmörder zu werden, dann ist er daher "moralisch relevant". Niemand ist moralisch herausgehoben und darf sich über die Anderen stellen.

Nach meiner Einschätzung stellt die Pluralität der Selbstentwürfe ihrerseits einen großen Wert dar, den es zu schützen gilt.

Ich gehe davon aus, dass unsere Fähigkeit uns selbst zu entwerfen, also uns selbst zu bestimmen, also unsere Freiheit ein fundamentaler Aspekt der universalen Ethik ist. Freiheit ist nichts, was auf bestimmte Kulturkreise beschränkt ist. Alle Verhältnisse sollten so sein, dass die Menschen so frei sind, sich selbst zu entwerfen, wie irgend möglich. Denn wie unterschiedlich die Menschen auch sind und wie unterschiedlich die Entwürfe auch ausfallen können, in diesem Punkt sind alle Menschen gleich, dass sie nämlich diese Fähigkeit haben.

Nach meiner Einschätzung, ist Moral daher nichts, was von außen kommen kann. (Das ist logisch unmöglich, weil es gegen den Begriff der Moral ist. Denn es ist Teil der Moral, dass es keine Autorität geben kann, die diese Moral erst noch begründet.) Es geht hauptsächlich um unsere Freiheit und darum, dass wir alle frei sind. Die Verhältnisse sollten nach meiner Vorstellung überall so sein, dass die Menschen frei leben können: Freiheit, Gleichheit, Solidarität.




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Jörn Budesheim
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Do 7. Jan 2021, 06:16

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 04:10
Der Mensch ist das einzige Seiende, bei dem die Existenz (dass er ist) der Essenz (was er ist) vorausgeht, was jedoch nicht als zeitliche Reihenfolge zu verstehen ist. Begründung: Sein Wesen bestimmende Grundzüge (was er sein soll, damit er eigentlich Mensch ist) gibt es nicht. Sartre geht davon aus, dass es keinen Gott gibt, der den Menschen Werte auferlegt haben könnte, und keine außerhalb des Menschen liegende verbindliche Ethik.

Die Lage des Menschen ist also durch absolute Freiheit gekennzeichnet: „Ich bin dazu verdammt, frei zu sein“ [...] Dieser Grund-Situation hat sich der Mensch zu stellen. Alles andere wäre eine Selbsttäuschung. „Es gibt keine Natur des Menschen, die den Menschen festlegt, sondern der Mensch ist das, wozu er sich macht.“
Ich kenne die ethische Position Sartres nicht, aber dem Wort nach, also nur das, was da steht, unterschreibe ich das (fast) alles. Wobei ich den Ausdruck "außerhalb" etwas einschränken möchte, weil auch vieles, was "außerhalb" der Sphäre des Menschen ist, von moralischer Relevanz ist: die anderen Lebewesen und die belebte Natur überhaupt.

Dass Ethik nichts sein kann, was von einem Gott gegeben ist oder in irgendeiner anderen Form von außerhalb kommt und über unsere Köpfe hinweg geht, habe ich in diesem Faden ja mehrmals ausführlich begründet. (Die entsprechenden Argumente stammen von Platon und Kant.)

Was ich ggf. gegen Sartre (so wie es da formuliert ist, ich kenne es nicht en Detail) einwenden würde, ist folgendes: in einer gewissen Hinsicht gibt es doch eine Essenz des Menschen, nämlich die, dass er keine Essenz hat und sich selbst bestimmen muss. Allerdings kann man den Text auch so lesen, dass das inklusive ist. (Verdammt frei zu sein.)

„Es gibt keine Natur des Menschen, die den Menschen festlegt, sondern der Mensch ist das, wozu er sich macht.“ Das sehe ich genauso, und es gilt nicht nur für mich, sondern für alle anderen. Das ist nach meiner Einschätzung kulturübergreifend und universell.




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Do 7. Jan 2021, 06:29

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 04:33
"Du willst doch auch, dass Kinderquälerei endet, oder?"
"Ja, klar."
"Ok, das geht nur wenn Du unserem Realistenclub beitrittst"
"Muss das sein?"
Das wirst du nicht mit einem Zitat belegen können, weil es frei erfunden ist. Das Argument geht ganz anders, es ist ziemlich einfach: "du sagst, es gibt keine moralischen Tatsachen? Hier ist eine: Es ist falsch, Babys zu quälen." (Und zwar schlechthin falsch, in jeder Kultur.)

Nun wirst du vielleicht wieder antworten, dass dich niemand zwingen kann, das anzuerkennen. Das ist natürlich richtig. Nun kannst du allerdings nicht (zurecht) unentwegt auf die Freiheit pochen, aber von der Moral dann erwarten, dass sie dich zwingt. Daher passt hier sehr gut die bekannte Wendung von Habermas und dem "zwanglosen Zwang".




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Do 7. Jan 2021, 06:45

Nauplios hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 23:08
Ja, sowohl Max Scheler als auch Nicolai Hartmann behandeln Werte wie platonische Ideen
Und warum hast du dann ein Zitat von Nicolai Hartmann ausgewählt, was diesen Umstand offensichtlich verschleiern sollte?




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 06:45
Nauplios hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 23:08
Ja, sowohl Max Scheler als auch Nicolai Hartmann behandeln Werte wie platonische Ideen
Und warum hast du dann ein Zitat von Nicolai Hartmann ausgewählt, was diesen Umstand offensichtlich verschleiern sollte?
"Jeder Wert hat - wenn er einmal Macht bekommen hat über eine Person - die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht einmal entgegengesetzt sind." (Nicolai Hartmann)

Hartmann geht es darum, daß in den situativen Kontexten der menschlichen Lebenspraxis Wertkonflikte entstehen, die sich nur auflösen lassen, indem eine Entscheidung getroffen wird zugunsten eines Werts und damit ineins zu ungunsten eines anderen Werts. "Wertkonflikte dieser Art sind es, von denen das ganze Menschenleben durchzogen ist." Hartmann spricht deshalb auch von einem "antinomischen Charakter" der Verschiedenheit der Werte. Der "Rigorismus der Werte" (Hartmann) mündet darin, daß jeder Wert sich zum "alleinigen Tyrannen" aufschwingen will und zwar zum Nachteil und auf Kosten der anderen Werte. In der "idealen Seinssphäre" (Hartmann) gibt es diese Wertkonflikte natürlich nicht; hier leben die Werte in friedlicher Koexistenz, auch wenn es hier wie bei Platon eine Wertehierarchie gibt. In den Niederungen der Lebenspraxis jedoch - Hartmann spricht gerne von der "materialen Wertverschiedenheit" - legen die Werte den "antinomischen Charakter" an den Tag, möchte jeder Wert "alleiniger Tyrann des ganzen menschlichen Ethos" sein. "Solche Tyrannei der Werte zeigt sich schon deutlich in den einseitigen Typen der geltenden Moral, in der bekannten Unduldsamkeit des Menschen (auch des sonst nachgiebigen) gegen fremdartige Moral; noch mehr im individuellen Erfaßtsein einer Person von einem einzigen Wert." (Hartmann) -

Man sieht also, daß der Platonismus (hier die "ideale Seinssphäre", dort die "Materialität" der Werte) und die "Tyrannei der Werte" infolge ihrer Konkurrenz untereinander Hand in Hand gehen. Da gibt es nichts zu "verschleiern". Auch Hartmann will die "ideale Seinssphäre" rein halten und spricht vom "Wertgefühl" wenn ein Wert in Kontakt mit dem Bewußtsein kommt. An der Stelle setzt Du die "Werteinschätzung" ein.

Die "Tyrannei der Werte" und der Umstand, daß Hartmann Werte wie platonische Ideen behandelt, schließen sich also keineswegs aus. Das eine "verschleiert" nicht das andere. Daß ich die "Tyrannei der Werte" zitiert habe, hing mit meinem Beispiel des Abtreibungsrechts zusammen, bei dem es nämlich genau um den situativen Kontext der menschlichen Lebenspraxis geht, in dem der "antinomische Charakter" der Verschiedenheit der Werte zum Tragen kommt: hier das Selbstbestimmungsrecht der Frau, dort das Recht auf Leben. Die Zitate, die Du daraufhin ausgewählt hast sollten wohl einen Kontrapunkt dazu darstellen. Doch hier gibt es kein Kontra und demzufolge auch nichts zu "verschleiern". Platonismus und "Tyrannei der Werte" - beide finden sich bei Nicolai Hartmann. Indem man das eine durch ein Zitat belegt, leugnet oder "verschleiert" man ja nicht das andere. -




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Jörn Budesheim
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Do 7. Jan 2021, 10:32

Nauplios hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 10:24
Die Zitate, die Du daraufhin ausgewählt hast sollten wohl einen Kontrapunkt dazu darstellen.
Nein, ich hab einfach überprüft, ob der Einruck, den du mit dem Zitat erweckt hast, stimmt. Und er stimmt nicht. Es ist aus dem Zusammenhang gerissen und verstellt so, was Hartmann wirklich denkt. Um es richtig und ausgewogen darzustellen, hättest du zum Beispiel schreiben können: Zwar geht Hartmann einerseits davon aus, dass Werte "Gebilde einer ethisch idealen Sphäre eines Reichs mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung" sind, dennoch spricht er anderseits von ..."




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Do 7. Jan 2021, 11:06

Was Hartmann wirklich denkt, ist ja in seinem Abschnitt aus der Ethik mit dem Titel "Tyrannei der Werte" nachzulesen:

https://www.gleichsatz.de/b-u-t/can/tyrannei.html

Darin finden sich sowohl die Formel von der "Tyrannei der Werte" als auch die von der "idealen Seinssphäre". Darüberhinaus ist die Rede vom "Rigorismus der einzelnen Werte", vom "antinomischen Charakter" aller "materialer Wertverschiedenheit" usw. - Der gesamte Abschnitt ist überschrieben mit "Die Tyrannei der Werte". Mit dieser Titelgebung nimmt Hartmann bereits seinerseits eine Akzentsetzung vor. Auf diese "Tyrannei der Werte" kommt es ihm an. Deshalb wählt er diese Überschrift. - Der "Eindruck, den ich erweckt habe", trifft damit den Nagel auf den Kopf. ;)




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Do 7. Jan 2021, 11:21

Ich finde, dass du die Dinge verfälscht hast. Du schreibst aus deiner Sicht, dass Werte miteinander konkurrieren und zitierst kurz darauf Hartmann mit der "Tyrannei der Werte", so als sei er mit diesem Zitat ein Zeuge dafür, dass Werte, so wie du es ausdrückst, miteinander konkurrieren. Dabei schreibt Hartmann das Gegenteil: „Die Werte selbst verschieben sich nicht in der Revolution des Ethos. Ihr Wesen ist überzeitlich, übergeschichtlich. Aber das Wertebewusstsein verschiebt sich.“




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Jetzt, da Trump seine Wahlniederlage akteptiert hat, ist es wahr, dass Biden die Wahl gewonnen hat.



-------------------------------
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:-)




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Alethos hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 12:42
Jetzt, da Trump seine Wahlniederlage akteptiert hat, ist es wahr, dass Biden die Wahl gewonnen hat.
Was hat das mit Moral zu tun?
Wir sprechen hier über "moralische Tatsachen", nicht über Tatsachen schlechthin.



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 11:21
Ich finde, dass du die Dinge verfälscht hast. Du schreibst aus deiner Sicht, dass Werte miteinander konkurrieren und zitierst kurz darauf Hartmann mit der "Tyrannei der Werte", so als sei er mit diesem Zitat ein Zeuge dafür, dass Werte, so wie du es ausdrückst, miteinander konkurrieren. Dabei schreibt Hartmann das Gegenteil: „Die Werte selbst verschieben sich nicht in der Revolution des Ethos. Ihr Wesen ist überzeitlich, übergeschichtlich. Aber das Wertebewusstsein verschiebt sich.“
Und Deiner Ansicht nach gibt es aber nur ein richtiges Wertebewusstsein, richtig? Alles andere ist "Irrtum"?



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 06:16
Dass Ethik nichts sein kann, was von einem Gott gegeben ist oder in irgendeiner anderen Form von außerhalb kommt und über unsere Köpfe hinweg geht, habe ich in diesem Faden ja mehrmals ausführlich begründet. (Die entsprechenden Argumente stammen von Platon und Kant.)
Aber das verstehe ich nicht. Wo kommen die "moralischen Tatsachen" denn her?
Wenn sie gelten, unabhängig davon was Menschen dazu denken, dann kommen sie doch von aussen. Oder nicht?
Ihrer Art nach sind Deine "moralischen Tatsachen" doch das Selbe wie göttliche Gebote.
Es gibt übrigens Philosophen die meinen , dass das Christentum aus dem Platonismus abgeleitet ist.



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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 7. Jan 2021, 13:10
Ihrer Art nach sind Deine "moralischen Tatsachen" doch das Selbe wie göttliche Gebote.
Ich hab begründet, warum das nicht so sein kann, meines Erachtens. Du behauptest das Gegenteil - aber es fehlt die Begründung.




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