Relativismus

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Alethos
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Di 1. Dez 2020, 12:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 1. Dez 2020, 05:58
Nicht das Töten schlechthin wird richtig, sondern das Töten in diesem Moment als Selbstverteidigung.
Dann redest du wie ein moralischer Relativist, wennn du sagst, unter bestimmten Umständen sei Töten richtig.

Müssten wir nicht vielmehr sagen, dass das Töten unter allen Umständen falsch ist, manchmal
abwr müssen wir das weniger Falsche wählen?



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Jörn Budesheim
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Mi 2. Dez 2020, 06:08

Das ist nach meinem Verständnis kein Relativismus.

Relativismus wäre, wenn ich sagen würde: "Sich gegen Angriffe zu verteidigen, ist moralisch erlaubt" gemäß westlichen Standards, wohingegen es gemäß anderen Standards möglicherweise verwerflich ist. Für den Relativismus gibt es schließlich keine universellen moralischen Wahrheiten, alles kann immer nur Geltung relativ auf gewisse Standards beanspruchen. Moral ist dann relativ auf dem Kulturkreis, die Zeit, die Clique, kontingente Normen, Vereinbarungen etc.

Es liegt allerdings kein Relativismus vor, wenn ich geltend mache, dass die Beurteilung einer Situation relativ auf die Situation zu geschehen hat. Denn wir wollen ja nicht Sklave der Regel sein, sondern wissen, was in genau dieser Situation tatsächlich zu tun ist. Die Regel ist schließlich immer eine Abstraktion von den wirklichen Umständen und kann daher nicht generell den einmaligen Einzelfall "vorwegnehmen".

Daher: Aristoteles erste Regel des guten Handelns lautet, dass es für gutes Handeln keine Regeln gibt, ein guter Mensch zu sein heißt, seinen Charakter so auszubilden, dass man das Vermögen besitzt, in jeder gegebenen Situation das Richtige zu tun. Es heißt nicht, ein bestimmtes moralisches Handbuch auswendig gelernt zu haben." (Julian Baggini)

Heute werden oft bestimmte (überzogene) Formen von "Moralismus" beklagt. Meist zu Unrecht, aber es gibt berechtigte Fälle, etwa solche in denen man die Einhaltung der vermeintlichen Regel über die Betrachtung der wirklichen Situation stellt. Wenn man etwa die Überkomplexität der Situation auf eine bestimmte handliche Regel hin reduziert, also die fragliche Regel der Situation gleichsam überstülpt. Extreme Moralisten (in diesem negativen Sinn) haben für jeden Moment eine einfache Regel parat.

Wer hingegen geltend macht, dass man genau hingucken muss, was wirklich passiert ist und dass man zudem manchmal gar nicht alle relevanten Tatsachen sehen oder beibringen kann, der ist kein Relativist ist, sondern ein Realist.




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Jörn Budesheim
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Mi 2. Dez 2020, 07:13

"die Ausnahme bestätigt die Regel"




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Alethos
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Mi 2. Dez 2020, 11:21

Ich bin nicht sicher, ob ich dem wirklich zustimmen kann.

Der moralische Realismus ist zugleich ein moralischer Universalismus. D.h., ein moralischer Realist behauptet , dass ein moralisches Urteil objektiv möglich ist und zwar gilt der Wahrheitswert objektiv und unter allen Bedingungen - eben universal.
Wenn wir über Urteile sprechen, dann betrachten wir nur den Wahrheitswert des Urteils: "Töten ist falsch". Dieses Urteil ist für den Universalisten immer wahr, sofern es wahr ist, weil es nach ihm nicht auf die Konditionale ankommt, unter der er wahr wird. Es ist immer wahr durch sich selbst - eben unter allen Bedingungen objektiv wahr.

Betrachten wir aber richtigerweise den Sachverhalt, was wir als Realisten tun müssen, wenn wir die objektive Dimension des Urteils erfassen wollen. Dann müssen wir in Betracht ziehen die Wirklichkeit, die in ihn hineinspielt. Es ist Tatsache, dass ich angegriffen werde. Es ist wahr, dass ich mich wehren darf, wenn mich jemand angreift. Die Konsequenz, dass der Angreifer dabei sterben kann, darf ich in Kauf nehmen. Das Urteil lautet dann aber nicht: "Es ist richtig zu töten, wenn die Bedingung x erfüllt ist", sondern folgende zwei Urteile sind wahr: "t ist falsch, auch wenn die Bedingung x erfüllt ist" und "ich darf t tun, wenn die Bedingung x erfüllt ist" → "ich darf t tun, obwohl t falsch ist.". Das bedeutet: Wir dürfen unter gewissen Bedingungen auch das moralisch Falsche tun, was aber nicht bedeutet, dass wir es damit legitimieren . Es bleibt moralisch illegitim, weshalb es uns zu schaffen machen darf, dass wir unseren Aggressor haben töten müssen.



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Jörn Budesheim
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Mi 2. Dez 2020, 15:52

Jetzt haben wir allerdings eine andere Fragestellung, wenn ich recht sehe. Denn es geht dabei nicht um Relativismus vs Realismus. Es gibt ja keine Stelle, wo du vorschlägst, dass das Richtige von einer Kultur, eine Gepflogenheit, einer Zeit, einer Sprache oder was auch immer abhängt, also relativ darauf ist. Und nur dann kann man von Relativismus sprechen, finde ich.

Das heißt jetzt nicht, dass "dein" Problem nicht ebenso spannend ist. Ich würde es in meiner Sprache ungefähr so formulieren: Wenn das Richtige je von der einmaligen Situation abhängt, wie kann es dann zugleich allgemeingültig sein. (Ist das einigermaßen korrekt paraphrasiert?)




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Alethos
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Mi 2. Dez 2020, 19:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Dez 2020, 15:52
Ich würde es in meiner Sprache ungefähr so formulieren: Wenn das Richtige je von der einmaligen Situation abhängt, wie kann es dann zugleich allgemeingültig sein. (Ist das einigermaßen korrekt paraphrasiert?)
Nein, deine Paraphrase gibt nicht das Problem wieder, wie es sich mir stellt. Ich erkenne, dass das Richtige von einer einmaligen Situation abhängen kann, ja, sogar muss, weil 'das Richtige' im Realismus seinen Platz hat. Real ist etwas immer nur in der Einmaligkeit der Situation, in der es sich aktualisiert. Keine Situation ist mit der anderen Situation jemals identisch. Alle Wahrheit, auch die moralische, muss demnach eine sein, die sich auf die Individualität des Sachverhalts bezieht. Dass es kein allgemeines Wahrheitskriterium gibt, das dürfen wir zurecht annehmen.

Die Frage ist daher nicht, ob es ein allgemeines Wahrheitskriterium mit Bezug auf das moralisch Richtige gibt, sondern ob das moralisch Richtige nicht vielmehr einem Wert entspringt, der in jedem Fall dieser Wert ist. Das moralisch Richtige ist sozusagen selbst eine Situation, die sich einstellen muss, weil die in die Situation eingelassenen Werte immer die sind. Ein Mensch ist ein Mensch, ob er dir Übles will oder nicht: Er hat einen Wert. Ein Angreifer mag ein böser Mensch sein, aber das nimmt ihm nicht den Wert als Mensch. Ihn zu töten würde gegen diese seine Würde als Mensch verstossen. Die Menschenwürde ist in jedem Fall unantastbar. Deshalb ist es prinzipiell falsch, jemanden zu töten. Es ist falsch, jemanden zu töten, weil die Situation des Tötens in jedem Fall eine Situation des moralisch falschen Handelns darstellt. Das bedeutet aber auch, dass es keine Situation geben kann, die diese Situation legitimieren oder relativieren könnte.

Wenn wir z.B. sagen, dass es in der spezifischen Situation X durchaus möglich ist, dass die Handlung des Tötens moralisch richtig sei, dann relativieren wir die moralische Richtigkeit zwangsläufig mit diesem Moment. Wir versetzen nämlich den moralischen Wert in eine Situation, beleuchten diesen Wert aus der Optik, der Dynamik, der Konfiguration dieser Situation. Das ist Relativismus in jedem Fall, weil wir den moralischen Wert in Bezug auf etwas, in Vergleich mit etwas oder unter gewissen Bedingungen betrachten. D.h. Relativismus ist es in jedem Fall. Es gibt keinen Relativismus, der erst dort begänne einer zu sein, wenn der Bezugsrahmen eine Epoche ist oder ein kultureller Raum. Wir können nicht sagen, dass wir erst dann Relativisten sind, wenn wir die Moralität einer Tat nach kulturellen oder geografischen Gesichtspunkten betrachten, nicht aber dort Relativisten seien, wo wir nur eine Momentaufnahme eines einzigen Sachverhalts anschauen. In jedem Fall gilt der moralische Wert als ein sich über alle Momente hinweg perpetuierender, sich in jeder Aktualität perfomierender Wert.

Wäre es nicht so, wäre es also so, dass gewisse Umstände das Töten legitimieren könnten, wäre es unumgänglich so, dass wir dafür Kriterien angeben müssen für diese Umstände. Welche Umstände legitimieren das Töten genau und warum diese und nicht andere Kriterien? Wenn wir Legitimationskriterien angeben, dann müssen wir auch angeben, warum wir diese Kriterien und nicht andere heranziehen. Ist das Attentat auf Hitler moralisch gerechtfertigt? Ja, und auf Trump auch? Und wenn ja oder nein, warum nicht Trump, aber Hitler schon? Oder ist das Töten von Präsidenten und Diktatoren nicht richtig, sondern nur aus Notwehr richtig? Wenn aber aus Notwehr, ist denn das Töten eines Despoten nicht in einem gewissen Sinne auch Notwehr eines Volks gegenüber seinem Unterdrücker?

Wir sehen: Es kann nicht so sein, dass es für das Gute "Kriterien" gibt. Das Gute ist ein Kriterium selbst, das uns in einer Situation unser Handeln anleiten soll. Das ist der reale Wert des Guten, dass er überall wirklich ist.



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Mi 2. Dez 2020, 21:10

Alethos hat geschrieben :
Mi 2. Dez 2020, 19:27
Wenn wir z.B. sagen, dass es in der spezifischen Situation X durchaus möglich ist, dass die Handlung des Tötens moralisch richtig sei, dann relativieren wir die moralische Richtigkeit zwangsläufig mit diesem Moment. Wir versetzen nämlich den moralischen Wert in eine Situation, beleuchten diesen Wert aus der Optik, der Dynamik, der Konfiguration dieser Situation. Das ist Relativismus in jedem Fall, weil wir den moralischen Wert in Bezug auf etwas, in Vergleich mit etwas oder unter gewissen Bedingungen betrachten. D.h. Relativismus ist es in jedem Fall.
Ich befürchte, da komme ich nicht mit. Für mich klingt das so, als würde man sagen, man sei ein Relativist, wenn man die Farbe eines Gegenstandes relativ auf sein Aussehen bestimmen würde.




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Jörn Budesheim
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Do 3. Dez 2020, 05:42

Wie sieht es aus bei Selbstmord oder Sterbehilfe? Das sind natürlich höchst umstrittene Themen, aber nach meiner Ansicht zeigt dass, das Töten moralisch vertretbar sein kann.




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Jörn Budesheim
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Do 3. Dez 2020, 06:19

Alethos hat geschrieben :
Mi 2. Dez 2020, 19:27
dass wir dafür Kriterien angeben müssen
Was verstehst du unter "Kriterien" im Unterschied zu "Regeln"? Und inwiefern sitzt du damit nicht das, was hier schließlich strittig ist, schlicht voraus?




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Do 3. Dez 2020, 12:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Dez 2020, 21:10
Alethos hat geschrieben :
Mi 2. Dez 2020, 19:27
Wenn wir z.B. sagen, dass es in der spezifischen Situation X durchaus möglich ist, dass die Handlung des Tötens moralisch richtig sei, dann relativieren wir die moralische Richtigkeit zwangsläufig mit diesem Moment. Wir versetzen nämlich den moralischen Wert in eine Situation, beleuchten diesen Wert aus der Optik, der Dynamik, der Konfiguration dieser Situation. Das ist Relativismus in jedem Fall, weil wir den moralischen Wert in Bezug auf etwas, in Vergleich mit etwas oder unter gewissen Bedingungen betrachten. D.h. Relativismus ist es in jedem Fall.
Ich befürchte, da komme ich nicht mit. Für mich klingt das so, als würde man sagen, man sei ein Relativist, wenn man die Farbe eines Gegenstandes relativ auf sein Aussehen bestimmen würde.
Es ist eigentlich simpel: Wenn man ein moralisches Urteil der Art: „Töten ist falsch.“ anhand einer Situation abwägt, dann relativiert man dieses Urteil mit dieser Situation. Man kommt zu Schlüssen wie: ‚In der Situation x ist das Töten richtig.‘
Es spielt dann keine Rolle für die Tatsache, dass es sich um Relativismus handelt, ob x einen Kulturraum, eine einzige Begebenheit oder eine Epoche bezeichnet, weil in jedem Fall x die Bedingung ist, unter der das Urteil fällt und ein Wahrheitskriterium für das Urteil darstellt.

Wenn es aber so ist, dass das Urteil universalen Wahrheitswert hat, was ich glaube, dann kann es nicht unter ein Wahrheitskriterium fallen. Wäre es anders, könnten wir unmöglich plausibel begründen, dass das Töten von Sklaven im alten Rom falsch war. Denn wir könnten behaupten, in diesee Zeit sei die Situation jene gewesen, die das Töten als moralisch richtig gelten liess.
Wenn wir aber begründen, warum das falsch sein soll, also, wenn wir darlegen, warum sich die alten Römer moralisch falsch verhielten, dann müssen wir den Grund angeben. Und dieser ist nicht heute ein anderer als damals.



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Do 3. Dez 2020, 13:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 06:19
Alethos hat geschrieben :
Mi 2. Dez 2020, 19:27
dass wir dafür Kriterien angeben müssen
Was verstehst du unter "Kriterien" im Unterschied zu "Regeln"? Und inwiefern sitzt du damit nicht das, was hier schließlich strittig ist, schlicht voraus?
Ein Kriterium ist in diesem Zusammenhang ein Unterscheidungsmerkmal. Eine Situation unterscheidet sich - nach dir - in moralischer Hinsicht von der anderen durch bestimmte Umstände. Diese geben - nach dir - den Grund an, warum wir bei moralischen Urteilen einmal zu diesem und einmal zum konträren Wahrheitswert kommen können.

Nun kann man, wenn man will, versuchen, diese Merkmale ihrer Struktur nach in eine Regel zu packen: Die Regel lautet dann, dass in solchen und ähnlichen Situationen gilt, dass das moralische Urteil wahr oder falsch sei. Da aber Situationen nie identisch sind, kann es vorkommen, dass wir eine Ausnahme behaupten müssen: die berühmte Ausnahme zur Regel. Aber wodurch würden wir diese Ausnahme wiederum als Ausnahme erkennen und wodurch würden wir widerlegen können, dass die Ausnahme eigentlich die Regel ist?
Wir könnten es nicht als nur durch Zuhilfenahme von weiteren Merkmalen, die die Ausnahme als Ausnahme von der Regel kennzeichnen. Es gibt aber gewiss in der Fülle von Fällen auch eine Ausnahme für die Bewertungsmassstäbe als Ausnahme , wodurch uns gar nie klar würde, was nun die Regel und was nun die Ausnahme ist.

Moralischer Relativismus ist ein Spiel ohne Prinzipien oder nur solchen, die wir setzen. Setzen wir aber das moralische Urteil an eine unverrückbare Stelle ausserhalb der Argumentationskette, setzen wir das moralische Urteil also absolut als gegeben, finden wir darin die objektive Basis in ihm selbst. Das ist moralischer Realismus, dass der moralische Wert existiert durch sich selbst und nicht abhängig von Situationen, durch die er entsteht.



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Do 3. Dez 2020, 15:06

Alethos hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 12:47
Denn wir könnten behaupten, in diesee Zeit sei die Situation jene gewesen, die das Töten als moralisch richtig gelten liess.
Genau, das wäre Relativismus. Weil das Urteil auf die Zeit (und die damaligen Gepflogenheiten) relativ ist. Aber das ist nicht meine Position, das lehne ich ab.

Nachtrag: Ich verstehe auch nicht, wie du den Begriff "Wahrheitskriterium" nutzt. Und was es heißt unter dieses zu fallen.

Mehr vermutlich - wie üblich - morgen früh :-)




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Do 3. Dez 2020, 15:19

Alethos hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 13:00
Moralischer Relativismus ist ein Spiel ohne Prinzipien oder nur solchen, die wir setzen. Setzen wir aber das moralische Urteil an eine unverrückbare Stelle ausserhalb der Argumentationskette, setzen wir das moralische Urteil also absolut als gegeben, finden wir darin die objektive Basis in ihm selbst.
Das ist für mich der typische "Antirealismus" :-) Das Urteil wird unverrückbar gesetzt. Was wirklich passiert ist, ist dann egal.
Alethos hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 13:00
... der moralische Wert existiert durch sich selbst und nicht abhängig von Situationen, durch die er entsteht.
Das ist am Anfang Realismus und im nächsten Satz einfach ein Selbstwiderspruch. Wenn es geboten ist, zu helfen, dann doch nicht unabhängig von Situationen, sondern aufgrund der Situation, die es gebietet zu helfen.




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Do 3. Dez 2020, 18:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 15:19
Das ist am Anfang Realismus und im nächsten Satz einfach ein Selbstwiderspruch. Wenn es geboten ist, zu helfen, dann doch nicht unabhängig von Situationen, sondern aufgrund der Situation, die es gebietet zu helfen.
Nenne mir eine Situation, in der es nicht geboten ist, zu helfen, wenn jemand Hilfe nötig hat. Wenn du nun eine Situation nennst, in der jemand Hilfe braucht, aber du dich nicht angehalten fühlst zu helfen, dann gibst du dafür Gründe an. Diese aber rechtfertigen meiner Meinung nach nicht das nicht helfen Müssen, sondern einfach den Grund, warum dir die Moral des Helfensollens weniger wichtig ist als etwas anderes :)



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Do 3. Dez 2020, 19:15

Hier ein Beispiel für ein (vermeintliches) Wahrheitskriterium*:

"(lat. klar und deutlich), ist bei Descartes ein normatives Wahrheitskriterium für Erkenntnisse." Quelle: https://www.spektrum.de/lexikon/philoso ... tincte/373

"... alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich einsehe.“ (Descartes)

*ich bringe das nicht, weil ich dieses Wahrheit Kriterium teile, sondern um an einem Beispiel zu zeigen, was der Begriff überhaupt bedeutet.




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Do 3. Dez 2020, 19:23

Alethos hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 18:52
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 15:19
Das ist am Anfang Realismus und im nächsten Satz einfach ein Selbstwiderspruch. Wenn es geboten ist, zu helfen, dann doch nicht unabhängig von Situationen, sondern aufgrund der Situation, die es gebietet zu helfen.
Nenne mir eine Situation, in der es nicht geboten ist, zu helfen, wenn jemand Hilfe nötig hat. Wenn du nun eine Situation nennst, in der jemand Hilfe braucht, aber du dich nicht angehalten fühlst zu helfen, dann gibst du dafür Gründe an. Diese aber rechtfertigen meiner Meinung nach nicht das nicht helfen Müssen, sondern einfach den Grund, warum dir die Moral des Helfensollens weniger wichtig ist als etwas anderes :)
Ich kann dir auch keine Beispiele für Kreise nennen, die nicht rund sind. Wenn jemand Hilfe braucht, dann braucht jemand Hilfe, das ist schließlich eine Tautologie.

Aber so wie ich dich oben verstehe, machst du geltend, dass wir die Situation niemals wirklich betrachten dürfen, sondern immer nur die Regel. Jemand hat jemanden getötet, also hat er moralisch verwerflich gehandelt. Zeigt man auf Ausnahmen, etwa bei Selbstverteidigung oder Sterbehilfe sprichst du von Relativismus.




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Do 3. Dez 2020, 20:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 19:23
Aber so wie ich dich oben verstehe, machst du geltend, dass wir die Situation niemals wirklich betrachten dürfen, sondern immer nur die Regel. Jemand hat jemanden getötet, also hat er moralisch verwerflich gehandelt. Zeigt man auf Ausnahmen, etwa bei Selbstverteidigung oder Sterbehilfe sprichst du von Relativismus.
Nun, ja, weil das moralische Urteil eben relativiert wird.

Was spricht denn dagegen zu sagen, dass zu töten in jedem Fall falsch sei, es aber manchmal geboten sei, das Falsche zu tun? Auch eine solche Betrachtungsweise nimmt Rücksicht auf die jeweilige Situation, ohne aber den moralischen Wert zu relativieren.



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Fr 4. Dez 2020, 05:59

Alethos hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 20:23
Was spricht denn dagegen zu sagen, dass zu töten in jedem Fall falsch sei, es aber manchmal geboten sei, das Falsche zu tun?
Dagegen spricht, dass das direkt zu einem Selbstwiderspruch führt. Etwas kann nicht zugleich geboten und nicht geboten (also falsch) sein.
Alethos hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 20:23
Nun, ja, weil das moralische Urteil eben relativiert wird.
Es gibt nichts relatives in diesem Realismus. Eine Handlung ist geboten, verboten oder erlaubt und zwar universell und unabhängig von Zeit, Kultur etc. [Siehe dazu den folgenden Beitrag aus dem Handbuch der philosophischen Begriffe] Es gibt in der realistischen Sicht schlicht nichts, worauf das moralische Urteil oder die Handlung generell relativiert wird.
Alethos hat geschrieben :
Do 3. Dez 2020, 20:23
Was spricht denn dagegen zu sagen, dass zu töten in jedem Fall falsch sei, es aber manchmal geboten sei, das Falsche zu tun?
Töten ist halt, wie die Beispiele zeigen, nicht in jedem Fall falsch. Für Töten, welches in jedem Fall falsch ist, nutzen wir auch einen anderen Ausdruck, nämlich Mord.




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Fr 4. Dez 2020, 06:14

Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Stichwort "Relativismus" hat geschrieben : ... R. führt zum ↑Skeptizismus und zur Auflösung des ↑Wahrheitsbegriffes. In der Ethik heißt R. die Bestreitung des Vorhandenseins allgemein und absolut gültiger sittlicher ↑Werte und ↑Normen zugunsten einer an die geschichtliche Entwicklung der einzelnen Völker und Kulturen gebundenen zeitlich beschränkten Geltung, Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Als R. bez. man auch eine lebenspraktische Einstellung, die sich in der Ablehnung aller allgemeinverbindlichen und absolut gültigen Wahrheiten und Werte äußert.
Man spricht nur von Relativismus, wenn die Geltung relativ ist auf Zeit und Kultur oder vergleichbares. Und nicht schon wenn die Handlung selbst und die relevanten Umstände in den Blick genommen werden. Es lässt sich doch nicht bestreiten, dass es etwas anderes ist, ob man jemand aus Habgier oder zur Selbstverteidigung tötet.




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Fr 4. Dez 2020, 07:54

Gemäß dem Relativismus handelt man richtig, einfach gesagt, wenn man nach den Gepflogenheiten handelt. Die Gepflogenheiten können demnach nicht falsch sein, und man hat also keine Erklärung dafür, wie es kommt, dass wir heute zumindest versuchen, auf Gleichberechtigung zu setzen und das, was früher die Gepflogenheit war, als falsch erkennen. Der Realismus hingegen hat für diese Entwicklung eine Erklärung, nämlich den - hier im Forum so verpönten - moralischen Fortschritt :)

Zudem hat der Realismus eine gute Erklärung dafür, wie es kommen kann, dass wir uns manchmal in unserem moralischen Urteilen unsicher sind, denn "in konkreten komplexen Handlungssituationen handelt man immer unter Bedingungen der Ungewissheit" (Markus Gabriel). Ungewissheit heißt, dass man nicht weiß, was richtig ist. Das ist aber nur möglich, wenn man überhaupt annimmt, dass etwas richtig ist! Es gibt Situationen, wo man gezwungen ist zu entscheiden, ohne wirklich sicher sein zu können, ob man das Richtige getroffen hat. Diese Wirklichkeit, die jeder sicherlich jederschon mal erfahren hat, kann nur der Realismus nachzeichnen. Der Regel-Nihilismus kann so eine Situation nicht richtig rekonstruieren.




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