Mo 7. Dez 2020, 20:28
Ich habe verstanden, dass du den Begriff des Mordens gerne flexibel halten würdest, sodass er einmal legitim (moralisch okay) erscheint und einmal nicht.
Aber es gibt mit Bezug auf den Begriff des Mordes nur eine relativ enge Definition, ohne den Inhalt völlig zu verwässern.
Nehmen wir einmal den Begriff „Blau“. Tatsache, dass eine Vielzahl von Schattierungen und Farbtönen unter diesen Begriff fällt. Keine strahlende Farbe ist „reines“ Blau, der Begriff (auch in seinen Variationen als Hellblau, Grünblau, Marinblau etc.) trifft die Wirklichkeit des jeweiligen Blauseins von etwas nie ganz. Aber bei Mord, da sprechen wir ja nicht von Selbstverteidigungsmord, von halbem Mord oder von teilweise gerechtfertigtem Mord, weil die Wirklichkeit des absichtsvollen Tötens aus dem Hinterhalt entweder gegeben oder nicht gegeben ist. Es gibt nicht Hellblau oder Dunkelblau - es gibt nur Mord oder Nichtmord.
Die Absicht hinter dem Mord kommt nicht als „schattierende“ Komponente hinzu, weil sie immanent der Tatsache des Mordens innewohnt - ohne Absicht kein Mord. Wo Mord, da absichtliche Tötung.
Wir können im Fall der Selbstverteidigung also nicht einfach die Absicht zu töten aus dem Sachverhalt herausrechnen und behaupten, es handle sich deshalb nicht um Mord, weil keine Absicht zu töten dahinter stand. Wenn sie nicht die „Absicht zu töten“ war, dann war es auch kein Mord, sondern die Absicht sich zu wehren, den Angriff abzuwehren in Kaufnahme aller Konsequenzen, auch des Tods des Angreifers. Das war dann kein Mord, sondern vielleicht ein Töten wider Willen: Wider Willen, weil der Wille ja nicht war zu töten, als vielmehr einen Angriff abzuwehren.
Ein Mord kennt viele Motive, aber ich meine, dass keiner ihn als moralisch richtig erscheinen lassen kann. Wenn wir das auf das Hitler-Beispiel anwenden: Es gibt kein Motiv, auch keines unter dem Aspekt der Selbstverteidigung, das den Mord rechtfertigen könnte, weil wir sonst zwei wichtige Probleme einfahren: Zum einen verwässern wir den Begriff des Mordes (und überhaupt alle moralisch relevanten Begriffe). Wir könnten bei ihm und allen anderen Übeltaten nirgends eine „rote Linie“ ziehen, ab der ganz vorbehaltlos der reale moralische Sachverhalt wirksam würde, jede moralische Tat könnte irgendwie durch die Umstände legitimiert werden. Beispiel Diebstahl: Stehlen ist zwar böse, aber der Diebstahl eines Laibs Brot ist okay, wenn wir damit unser hungerndes Kind ernähren müssen. Es ist vielleicht auch okay, wenn wir die hungernde Grossmutter ernähren wollen, aber es ist schon dubios, wenn wir damit unsere Hausente füttern wollen. Diebstahl ist vielleicht gut, wenn man es von den ganz Reichen nimmt, aber nur, wenn man es für das eigene Kind nimmt, nicht für die Ente, und wenn die Bestohlenen nicht zu reich sind, aber ein bisschen reich. Das Stehlen von Brot ist auch dann vielleicht irgendwie okay, wenn der Bestohlene genug Brot hat. So zwei Kilo vielleicht, aber es ist dann nicht gut, wenn er weniger hat. Oder vielleicht drei Kilo hat, weil das ist ja dann objektiv gesehen genug. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht müsste man Brot nur stehlen dürfen, wenn jemand drei Kilo hat und zudem reich ist, z.B. 100‘000 Euro auf dem Konto hat und man selbst nur einen. Vielleicht aber wäre der „Diebstahlfreibetrag“ doch eher bei 50‘000 Euro und mehr anzusetzen, die Zeiten sind ja heute besonders schwierig und der Winter hart. Der Freibetrag gilt aber nur, wenn man unter dem Existenzminimum lebt, nicht aber, wenn man darüber liegt.
Wir sehen, dass wir nicht nur nicht wissen können, was das Richtige ist, weil die Sachlage viel zu komplex wäre, sondern die Sachlage erscheint gar nicht nach nicht-willkürlichen moralischen Merkmalen geordnet, damit sie uns durch sich selbst sagte, was richtig sei. Die Sachlage erscheint moralisch irrelavant, wenn wir sie nach den moralisch mildernden oder verstärkenden Umständen befragen.
Entweder der moralische Wert spricht durch die Tat selbst als eigenständige an der Tat selbst vorkommende Dimension aus ihr heraus, und erscheint somit unter der Kategorie des Richtigen und Falschen an ihr, und wir erkennen diese Dimension. Oder aber es sind die Tatumstände, die den moralischen Wahrheitswert bestimmen: Dann aber kommen die Umstände nicht als objektiv gültige, alle Menschen verpflichtende Grössen vor.
Wir können die Umstände nicht als moralisches Maß nehmen, sondern wir müssen die Moralität der Tat selbst als Richtschnur nehmen. Sie ist real und wirklich und objektiv genug.
Wenn wir die Umstände heranziehen wollten, um anzugeben, zu welchem Grad eine Tat moralisch gut oder schlecht ist, werden wir aufgefordert anzugeben, wann, d.h. unter welchen Umständen genau eine Tat moralisch richtig oder falsch ist. Und wir sind aufgefordert anzugeben, warum es diese Umstände sein sollen und nicht andere, d.h. wir müssen gewichten und begründen, warum wir so gewichten. Hierbei handeln wir uns nicht nur das Problem der Fehlbarkeit ein, dass wir falsch gewichten, sondern handeln uns darüberhinaus Begründungsprobleme ein bei der Rechtfertigung dieser Umstände als legitimierende (es könnten ja auch andere ins Feld geführt werden, die unserer Einschätzung widersprechen). Wir verlieren jede objektive Basis, die uns in unseren Urteilen eint: Denn nicht die Sache lassen wir entscheiden (die Tat selbst), sondern unsere Bewertungen und inneren Einstellungen.
Diesem ‚Relativismus von Gewichtungen’ steht ein Realismus der moralischen Begriffe gegenüber, durch die sich so und so geartete Taten als diese Taten auszeichnen, die wir, ungeachtet der Umstände, als solche anerkennen, z. B. Mord als Mord, Diebstahl als Diebstahl und jene beide als „schlecht“. In diesem moralischen Begriffsrealismus kommt der Realismus des Werts zum Tragen, durch den sich Mord und Diebstahl als falsch auszeichnen: immer und unter allen Umständen.
Aber das heisst nun auch, dass wir Mord manchmal begehen dürfen. Hitler hätte seinen Anschlagstod verdient. Das macht das Attentat an ihn bloss nicht zu etwas moralisch Gutem, auf keinen Fall und aus keinen Gründen. Es bleibt etwas Falsches, das wir zugunsten von etwas Richtigerem taten. Der Zweck heiligt die Mittel nie, er kann sie bloss begünstigen.
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Alle lächeln in derselben Sprache.