Relativismus

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NaWennDuMeinst
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Mi 6. Jan 2021, 16:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 06:18
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 02:11
Das man aber ebenso leicht Grausamkeiten zu "moralischen Tatsachen" erklären kann wird dabei übersehen.
Nein, das wird dabei keineswegs übersehen. Im Gegenteil, es ist der zentrale Gedanke des Realismus, dass etwas nicht schon deshalb wahr es, weil es jemand dafür hält. Einer der zentralen Punkte jedes Realismus ist die Möglichkeit des Irrtums. Das ist einer der Kerngedanken.
Dieser Kerngedanke ist aber nutzlos, wenn ich, aufgrund der metaphysischen Natur der zu verhandelnden Dinge, Aussagen nicht überprüfen kann.
Ohne diese Methoden landen wir sonst bei dem, was der Realismus ablehnt: Jeder liegt genauso richtig wie er im Irrtum ist.
Behauptungen kann schliesslich jeder aufstellen. Damit sie für andere bindend sein sollen muss nicht nur die Aussage universell sein, sondern es muss möglich sein, den Wahrheitswert der Aussagen irgendwie zu überprüfen. Ich kenne aber keine universell gültigen Methoden um Aussagen über metaphysische Sachverhalte zu überprüfen.
Was wir in dem Fall nur machen können ist die Aussagen(systeme) auf ihre logische Konsistenz hin zu überprüfen. Das ist dann aber meiner Meinung nach schon kein Realismus mehr.

Dieses "Problem" ist für die Moral nicht lösbar. Weshalb es uns meiner Meinung nach bei der Frage was wahr ist auch gar nicht weiterbringt von "moralischen Tatsachen" auszugehen. Diese Annahme ist nur sinnvoll, wenn man das eigene Handeln rechtfertigen muss.

Das hatten wir aber alles schon. Jetzt sagst Du wieder "Nur weil wir uns über Tatsachen irren können heißt das nicht, dass es keine Tatsachen gibt".
Ja stimmt. Aber wenn wir nicht mal Methoden benennen können über die wir ermitteln können ob wir uns irren.... was soll das dann?



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NaWennDuMeinst
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Mi 6. Jan 2021, 16:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 16:44
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 16:10
Mir ist immer noch unklar nach welcher Methode Du diese "universellen, moralischen Tatsachen" ermittelst.
Darauf habe ich wiederholt geantwortet. Das läuft dann so, dass du diese Antwort ignorierst. Um dann etwas später die Frage noch mal zu stellen. Was soll das?
Ich habe keine Antwort gesehen. Wo war das? Kannst Du mich da bitte hinführen? Ich finde es nicht.



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NaWennDuMeinst
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Mi 6. Jan 2021, 17:02

Alethos hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 16:34
Bleibt dann aber die Frage, ob es eine Moral war, die sie zur Einigung führte oder ihre Einigung zu dieser Moral.
Hat Gott uns erschaffen oder haben wir Gott erschaffen?
So wie ich das sehe gibt es keine Möglichkeit das zu ermitteln.



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Jörn Budesheim
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Mi 6. Jan 2021, 17:59

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 16:52
Ich habe keine Antwort gesehen. Wo war das? Kannst Du mich da bitte hinführen? Ich finde es nicht.
Wenn du nicht nur die erste Zeile des Beitrages gelesen hast, dden du zitiert hast, dann solltest du es wissen. Mehr als wiederholt antworten kann ich nicht, lesen musst du es schon selbst.




Nauplios
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Mi 6. Jan 2021, 18:52

Schaut man in den letzten Tagen nach Argentinien, dann sieht man auf den Straßen tausende Menschen, überwiegend Frauen, die sich jubelnd in den Armen liegen. "Heute haben wir Geschichte geschrieben. Mehr gibt es nicht zu sagen. Wir haben uns ein Recht erkämpft," sagt eine Frau in die Kamera. - Auch in Polen konnte man kürzlich tausende Menschen auf den Straßen sehen, wiederum überwiegend Frauen. "Es ist völlig inakzeptabel, daß ein Gericht das von Herrn Kaczynski kontrolliert wird, ein Grundrecht von Frauen angreifen will" sagt eine der Frauen. - In Argentinien jubeln die Frauen und sind zu Tränen gerührt, in Polen sind die Frauen wütend und aufgebracht. In Argentinien hat der Senat ein neues Gesetz verabschiedet, daß in Form einer Fristenlösung den Abbruch einer Schwangerschaft bis zur 14. Woche erlaubt, kostenlos, im öffentlichen Gesundheitswesen. In Polen hatte im Oktober das Verfassungsgericht alle bis dahin legitimen Begründungen für einen legalen Schwangerschaftsabbruch für verfassungswidrig erklärt. - In Argentinien hat sich der Senat dafür entschieden, das Recht der Frau auf Selbstbestimmung höher zu bewerten als den Schutz des ungeborenen Lebens. In Polen hat das Verfassungsgericht genau andersherum gewertet. -

Von Werten und Wertegemeinschaften ist im politischen Diskurs immer dann die Rede, wenn es um Entscheidungen von moralischer Tragweite geht. Man muß nicht bis nach Argentinien gehen; das ist nur der Aktualität geschuldet. Eine Frau, die in Malta ihre Schwangerschaft abbricht, riskiert eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, auch dann, wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer nachgewiesenen Vergewaltigung ist. In den Niederlanden ist eine Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche erlaubt. Malta und die Niederlande gehören wie Polen zur Wertegemeinschaft der EU. - Weder in Malta noch in den Niederlanden herrschen die Taliban oder sonst ein verbrecherisches Regime. Gesetzgeber und Verfassungsgerichte werten allerdings anders. Das vor allem von Christen und der katholischen Kirche vorgebrachte Recht auf Leben wird einmal höher gewertet, andere gesellschaftliche Gruppen werten dagegen das Recht auf Selbstbestimmung höher.

Werte konkurrieren miteinander. Mit den Werten ist es nicht so, daß sie friedlich nebeneinander stehen. Das ist der Hintergrund der "Tyrannei der Werte". Die Formulierung stammt nicht von einem wildgewordenen Rechtspopulisten. Sie von einem Ethiker: Nicolai Hartmann. -

"Jeder Wert hat - wenn er einmal Macht bekommen hat über eine Person - die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht einmal entgegengesetzt sind." (Nicolai Hartmann; Ethik. Das Kapitel trägt die Überschrift "Tyrannei der Werte") -

Sind die Argentinier moralisch fortgeschrittener als die Polen? -
Moderation hat geschrieben : Hinweis: Das ausgewählte Zitat von Nicolai Hartmann kann ohne Zusammenhang missverständlich sein und ein falsches Bild von Hartmann Ethik geben. Wikipedia gibt einen kurzen Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Nicolai_Hartmann

Dort findet man zum Beispiel: „[Werte sind] Gebilde einer ethisch idealen Sphäre eines Reichs mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung.“ – Ethik, 29




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Jörn Budesheim
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Mi 6. Jan 2021, 20:03

Nauplios hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 18:52
Werte konkurrieren miteinander
Das folgt allerdings nicht aus dem, was du oben schreibst. Daraus, dass die Wert Einschätzungen konkurrieren, folgt nicht, dass die Werte konkurrieren.




Nauplios
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Mi 6. Jan 2021, 20:09

Werte haben kein Sein. Sie haben Geltung. Werte drängen "auf fortlaufende Realisierung ihres Gehalts, immer wolle sich der höhere Wert gegen den niedrigeren durchsetzen (...) Auf diese Weise unterwerfen sich die Werte, sekundierten andere später, zuletzt auch die Freiheit, die nur noch auf Wertrealisierung hingeordnet wird. Und in ihrer Verschmelzung mit dem Recht lösten sie dieses selbst in seiner inneren Logik auf, ersetzten die Vorstellung einer strikt regelgeleiteten Legalität durch die richterliche Verwaltung beliebiger Auf- und Abwertungen. In letzter Konsequenz erscheinen die Werte dann als etwas Totalitäres", schreibt der Rechtsphilosoph und Professor für Öffentliches Recht, Uwe Volkmann in seinem Aufsatz Wertedämmerung im Merkur (Oktober 2018)

https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/ ... aemmerung/

Werte unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel, sind bei ihrer Durchsetzung abhängig von Wahlergebnissen, können rückabgewickelt werden. Sie sind Ausdruck von Interessen, können im Rang eines Wertesystems durch wissenschaftliche Erkenntnisse auf- und absteigen (was ja gerade nicht für einen Rang an sich spricht); sie können an Geltung verlieren und gewinnen ... Damit sind Werte immer noch nicht des Teufels; ganz im Gegenteil, sie können Teil jener Voraussetzungen für den säkularen Staat sein, welche dieser selbst nicht schaffen kann. Es kann also in keiner Weise um die Abschaffung von Werten gehen. Die rechtsphilosophischen Bedenken bringt Uwe Volkmann so auf den Punkt:

"Die Verfassungsrechtswissenschaft, die die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommentierend begleitet, registriert die kontinuierliche Erosion des Wertbegriffs, wenn überhaupt, mit Erleichterung. Schon zuvor war sie mehrheitlich auf Distanz zum Programm einer Verbindung der Werte mit dem Recht gegangen."




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Alethos
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Mi 6. Jan 2021, 20:24

Nauplios hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 18:52
Sind die Argentinier moralisch fortgeschrittener als die Polen? -
Obwohl das eine rhetorische Frage ist, will ich darauf eingehen, weil sie gelinde gesagt suggestiv ist: Sie suggeriert, dass es die Argentinier oder die Polen gibt, und dass sich das Werturteil „fortschrittlich“ auf sie als ganze Gruppe anwenden lässt. Das tut es gerade nicht, wenn man deinen Beitrag gut gelesen hat. Werte konkurrenzieren einander und es gibt zwar so etwas wie Wertegemeinschaften, deren Gemeinschaftsteilnehmer aber untereinander uneins sind. Das ist völlig okay so, da wirken ja demokratische Kräfte, man soll diskutieren und man soll debattieren. Aber so zu tun, als müssten wir uns zwischen Polen und Argentiniern entscheiden, das ist nicht ganz lauter: denn wir müssen uns entscheiden, ob Schwangerschaftsbruch liberal oder restriktiv gehandhabt werden soll, nicht, ob Polen oder Argentinier die besseren, die fortschrittlicheren Menschen sind.

Nun aber vermag dein ganzes Argument gar nicht gegen den Realismus anzugehen, denn er sagt ja gerade, dass man über moralische (in der Folge auch politische) Fragen zu anderen Schlüssen kommen kann und kommt. Nirgends fordert der Realismus ein, dass es nur eine Meinung geben dürfe, der Realismus sagt bloss, was die wahre Meinung sei, entscheide sich an der Sache: am Sachverhalt, dass Rechte existieren, dass Rechteverletzungen real sind etc.

Der Realismus fordert nicht eine Meinungsvereinheitlichung, sondern eine Ausrichtung der Meinungen an Fakten. Der Realismus benötigt keine Einheitsmeinung, um sich als Realismus zu behaupten, weshalb der Hinweis darauf, dass Staaten und Menschen etc. unterschiedliche Moralvorstellungen entwickeln, kein Argument gegen den Realismus sein kann. Der Realismus bestätigt vielmehr, dass man zu unterschiedlichen Moralvorstellungen kommen kann und auch regelmässig kommt, aber sagt, nicht die Moralvorstellungen ergeben, was Recht oder Unrecht jeweils ist. Er behauptet also, anders als der Relativismus, dass es moralische Grundannahmen (Realitäten) gibt, die letzlich das Verdikt über moralische Urteile geben und dass folglich, sich die Argentinier oder aber die Polen irren, dass die Argentinier moralischen Fortschritt machen oder aber die Polen Rückschritt. Dass Viele vieles anders sehen, spricht aber auf der anderen Seite auch nicht für den Relativismus.

In den Augen des Realisten gibt es nur eine Wahrheit betreffend das Selbstbestimmungsrecht der Frau: Sie muss selber entscheiden können, ob sie die Schwangerschaft fortführen oder abbrechen will / kann / muss etc. (Eine Entscheidung, die wahrlich schon so schwer genug sein muss, als dass ihr da Andere bevormundend reinreden sollten.) Es kann sein, dass wir gewisse Grundannahmen über die (moralische Wirklichkeit ändern müssen, in Zukunft, das das Urteil über Schwangerschaftsabbruch einer Revision unterzieht. Ja, wir können uns irren, aber das nur anhand der Sache. Und wir können uns irren auch über die naturale Welt.

Der Realismus sagt also: Es gibt da eine Tatsache, aber wir kennen sie nicht in jedem Fall. Wir haben Gründe, die in der Sache liegen, die uns helfen zu einem möglichst gerechten, einem möglichst sachgerechten Urteil zu kommen, aber wir können das Gute letzlich nur ermitteln, wenn wir grundlegende Wahrheiten (Annahmen) gelten lassen. D.h der Realist bedient sich gewisser Grundannahmen, wie jeder andere Mensch auch, und hält diese fürwahr, wie jeder vernünftige Mensch seine Ansichten fürwahr hält. Er sagt aber nicht, wir kennen die Wahrheit, ihr kennt sie nicht: Der Realist sagt konkret: Wir sind fallibel. Gerade das behaupten die Konsensualisten nicht (eine liebliche Form des Realtivistendaseins). Sie sind nicht fehlbar, denn was wollte sie korrigieren können? Nichts könnte eine relativistisch begründete Wahrheit verbessern, wenn es da nicht eine Realität gibt, die das tut.
Die Realität ist der Kitt einer Gemeinschaft, auch einer moralischen.

Dass es vielfältige Meinungen gibt heisst also nicht, dass jede Meinung richtig ist, was der Relativist ja in moralischen Dingen aber zu behaupten scheint (Eine Meinung ist sowohl richtig wie falsch). Würde der moralische Relativist nämlich behaupten, dass es selbstverständlich bezüglich moralischer Dinge gewisse Taten gibt, die moralisch zwingend falsch sind, z.B. bezüglich dem Holocaust, dass er als böse zu gelten hat, dann würde er wie ein Realist argumentiert haben, der ja nicht sagt, dass er böse war, weil man sich allgemeinhin darüber einig ist, dass er es war, sondern weil er es war durch sich: Weil der Holocaust fundamentale Rechte von Menschen in krassester und erniedrigendster Weise verletzt hat. Wenn sich also alle Relativisten einig sind, dass der Holocaust schlecht war, weil er es an und für sich war, unabhängig von der Zeit, in der man ihn beurteilt, und für jede Kultur gelten muss, dass er böse war, dann haben sich diese Relativisten auf eine Realität geeinigt und haben eine universale moralische Wahrheit gewürdigt, die uns zu einer Gemeinschaft macht. Eine, die unter dem Dach der universalen Menschenrechte, eine gerechte Menschengemeinschaft ist. Dann aber war sein moralischer Relativismus falsch.

Es wird vielleicht weiterhin Holocaustleugner und -befürworter geben, ja: Aber diese werden dann nicht einfach bloss irren und ein justiziables Recht verletzt haben und von der Justiz verfolgt werden müssen, sie werden dann durch diese Gemeinschaft geächtet werden müssen, weil sie sich in fundamentaler Weise, in einer diese Gemeinschaft bedrohender Weise irren. Darum geht es dem Realisten, solche Irrtümer zu vermeiden, die das Fundament unserer Menschlichkeit, die sich aus der Realität unserer Rechte ergibt, zerstören.
Zuletzt geändert von Alethos am Mi 6. Jan 2021, 20:33, insgesamt 1-mal geändert.



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Mi 6. Jan 2021, 20:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 20:03
Nauplios hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 18:52
Werte konkurrieren miteinander
Das folgt allerdings nicht aus dem, was du oben schreibst. Daraus, dass die Wert Einschätzungen konkurrieren, folgt nicht, dass die Werte konkurrieren.
Ja, das ist der Vorteil aller Platonismen. Man hat auf der obersten Seinsstufe den Wert an sich. Den gibt es. Idealerweise in der Wirklichkeit, notfalls in einem Reich von Ideen. Und dann, in einer seinsphilosophisch unteren Sphäre hat man die Einschätzung der Werte. Dieser Bereich ist ontologisch ein wenig verunreinigt durch lebensweltliche Zugriffe; hier kann es so etwas wie Widerstreit und Konkurrenz geben. Das schützt den reinen Bereich dann vor Abnutzung und Kalkablagerungen durch Vergänglichkeit, denn im Seinsbereich der Werte ist Ewigkeit die kleinste Zeiteinheit. - Denkbar ist noch die Scholastik einer Wertigkeit von Einschätzungen von Werten. Dann hat man den Gedanken der Konkurrenz noch weiter auf Distanz gehalten. Platonismen finden wie Wasser ihren Weg. ;)




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Alethos
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Mi 6. Jan 2021, 20:35

Statt dem Platonismus den heiteren Ideenhimmel einzutrüben, würdest du uns lieber verkünden, wie wir uns entscheiden sollen betreffend so vieles hier in konkret ontologischen Gefilden auf der Erde :)



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Mi 6. Jan 2021, 20:57

Ich kenne die Ethik von Nicolai Hartmann nicht, aber wenn man ein wenig googelt findet man folgende Zitate:
„[Werte sind] Gebilde einer ethisch idealen Sphäre eines Reichs mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung.“
„[…] es gibt eben ein reines Wert-Apriori. Das unmittelbar, intuitiv, gefühlsmäßig unser praktisches Bewusstsein, unsere ganze Lebensauffassung durchzieht, und allem, was in unseren Gesichtskreis fällt, die Wert-Unwert-Akzente verleiht.“
„Die Werte selbst verschieben sich nicht in der Revolution des Ethos. Ihr Wesen ist überzeitlich, übergeschichtlich. Aber das Wertebewusstsein verschiebt sich.“




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Mi 6. Jan 2021, 21:01

Alethos hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 20:24
Sie suggeriert, dass es die Argentinier oder die Polen gibt, und dass sich das Werturteil „fortschrittlich“ auf sie als ganze Gruppe anwenden lässt.
Haargenau das - fast in die Formulierung hinein - wollte ich gerade schreiben :)




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Alethos
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Mi 6. Jan 2021, 21:24

Es ist kaum zu glauben, dass wir über die Tatsächlichkeit debattieren, dass der Holocaust böse war. Es gibt keinen realen Wert, der diesen realen Wert ernsthaft herausfordern könnte. Es gibt keine Faktenlage, die für ein anderes Urteil als dieses spricht.



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Mi 6. Jan 2021, 21:35

in Amerika sind Trump und Biden unterschiedlicher Auffassung über das Ergebnis der Wahl. Daraus folgt allerdings nicht, dass die Wahl kein Ergebnis hatte. Mit Platonismus hat das nichts zu tun.




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Mi 6. Jan 2021, 22:13

"Der Realismus bestätigt vielmehr, daß man zu unterschiedlichen Moralvorstellungen kommen kann und auch regelmäßig kommt ..." (Alethos)

"In den Augen des Realisten gibt es nur eine Wahrheit betreffend das Selbstbestimmungsrecht der Frau: Sie muß selber entscheiden können, ob sie die Schwangerschaft fortführen oder abbrechen will / kann / muss etc." (Alethos)

Wenn es nur "eine Wahrheit" gibt, kann es immer noch "zu unterschiedlichen Moralvorstellungen kommen". Aber nur eine dieser Moralvorstellungen kann dann die Wahrheit, jene "eine Wahrheit" auf ihrer Seite haben - im konkreten Fall wertest Du (wertet der Realismus) das Selbstbestimmungsrecht der Frau höher(wertig) ein als das Recht auf Leben. Man kann sich ja auch so entscheiden, eben für das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Mit dieser Entscheidung habe ich kein Problem. Diese Entscheidung kann ja auch die "eine Wahrheit" für sich reklamieren. Wenn es aber nur "eine Wahrheit" gibt, was ist denn dann mit den anderen "unterschiedlichen Moralvorstellungen", die nicht im Besitz der Wahrheit sind? - Warum sind die Vertreter dieser anderen Moralvorstellungen nicht auch auf die "eine Wahrheit" gestoßen? Weil sie sich irren. - Wahr/unwahr ... richtig/falsch ... Ganz einfach. Mit dieser binären Logik operiert der (Neue) Realismus. Das ist auch folgerichtig. Denn letztlich hat er ja ein Ziel: den moralischen Fortschritt der Menschheit. Und mit diesem Fortschritt ist ja nicht bloße Veränderung gemeint. Im Neuen Realismus ist nämlich eine teleologische Geschichtsphilosophie implementiert. Sie beruht auf der Vorstellung eines Endzustands (als Ziel), in dem die Menschheit definitiv weiß, was das moralisch Richtige ist. Es ist der alte cartesianische Traum von der morale definitive aus dem Discours de la methode. Wie wird dieses Ziel, sofern es ein praktisches sein soll, erreicht? - Durch Aufklärung. Aufklärung ist da vonnöten, wo die "eine Wahrheit" nicht gesehen wird. Schaut man sich die Literatur der Aufklärung an, dann findet man dort vor allem eines in großer Zahl: pädagogische Lehrschriften. Wer aufklären will, braucht die Pädagogik als Hilfsinstrument. Der Fortschritt ist für seine Durchsetzung auf pädagogische Deckung im Kampf mit der Restauration, mit dem ancien regime angewiesen. Wo Dunkelheit ist, soll Licht werden. "Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten". -

Hier setzt mein Unbehagen ein. Nicht bei der Moral als solcher. Nicht mal zwangsläufig beim Realismus als solchem, sondern beim Anspruch darauf, bei der Geschichte des Menschengeschlechts auf der einzig richtigen Seite zu stehen. Denn wer, den moralischen Fortschritt der Menschheit im Auge hat, der MUSS auf der richtigen Seite stehen, auf der Seite der "einen Wahrheit". Diesen Anspruch sieht man natürlich dem Satz "Was-soll-eigentlich-so-schlimm-daran-sein,-sich-für-das-Gute-stark-zu-machen?" nicht an. Wer möchte sich nicht für das Gute stark machen!? - Wer möchte kleine Kinder quälen!? -

Ich denke, daß eine pragmatischen Moral, eine provisorische Moral, in der es mehr als nur "eine Wahrheit" gibt, ein größeres Potential an Schonung mit sich führt. Schonung gegenüber einer Welt, welche die Philosophen allzu oft verbessern wollten, gemäß dem Marquard-Wort: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kommt aber darauf an, sie zu verschonen." ;)




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Mi 6. Jan 2021, 22:21

"Der Realist bedient sich gewisser Grundannahmen, wie jeder andere Mensch auch ... " (Alethos) - Der Satz geht noch weiter, aber wollte man an der Stelle den Punkt setzen, dann wären wir doch aus dem Schneider. :-) Von einer "Grundeinstellung" sprach ja gestern schon NWDM. Hier könnten wir den Konsens haben und uns anderen Themen zuwenden. :-)




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Mi 6. Jan 2021, 22:24

Alethos hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 21:24
Es ist kaum zu glauben, dass wir über die Tatsächlichkeit debattieren, dass der Holocaust böse war. Es gibt keinen realen Wert, der diesen realen Wert ernsthaft herausfordern könnte. Es gibt keine Faktenlage, die für ein anderes Urteil als dieses spricht.
Ich würde das Urteil über den Holocaust auf das Konto der "gewissen Grundannahmen" transferieren.

Deal? ;)




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Mi 6. Jan 2021, 22:44

Ich will dazu gar nichts mehr sagen. Ausser: Interessantes Thema.



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Mi 6. Jan 2021, 23:04

Nauplios hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 22:13
Wenn es nur "eine Wahrheit" gibt, kann es immer noch "zu unterschiedlichen Moralvorstellungen kommen". Aber nur eine dieser Moralvorstellungen kann dann die Wahrheit, jene "eine Wahrheit" auf ihrer Seite haben - im konkreten Fall wertest Du (wertet der Realismus) das Selbstbestimmungsrecht der Frau höher(wertig) ein als das Recht auf Leben. Man kann sich ja auch so entscheiden, eben für das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Mit dieser Entscheidung habe ich kein Problem. Diese Entscheidung kann ja auch die "eine Wahrheit" für sich reklamieren. Wenn es aber nur "eine Wahrheit" gibt, was ist denn dann mit den anderen "unterschiedlichen Moralvorstellungen", die nicht im Besitz der Wahrheit sind?

...

Ich denke, daß eine pragmatischen Moral, eine provisorische Moral, in der es mehr als nur "eine Wahrheit" gibt, ein größeres Potential an Schonung mit sich führt.
Der Realismus besagt tatsächlich, dass ein moralischer Sachverhalt eindeutige Wahrheitswerte des moralischen Urteils liefert. Er sagt jedoch nicht, dass sich derjenige, der sich zum Realisten, automatisch zum Besitzer der Wahrheit erklärt :)

Ich kann mich irren mit meiner Einschätzung, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frau höher zu gewichten sei, als das Recht auf Leben des Fötus. Ich kann aber Gründe nennen, die für meine Ansicht sprechen, wobei diese von mir vorgebrachten Gründe nicht verbürgen, dass ich recht habe. Aber es sind Gründe, die einsehbar sind für alle, die die Realität der Frau, die Realität des Fötus, die Realität der Bedürfnisse und Rechte beider in Betracht ziehen. Gründe, die in einer allgemein zugänglichen Realität gründen, sind einsehbare Gründe, das heisst, sie können einsichtig machen für die Realität, aus der sich Argumente für oder gegen meine Ansichten ableiten lassen.
Es kann zu Meinungsverschiedenheiten kommen über einen Sachverhalt, weil dieser in der Regel komplex ist. Mehrere Aspekte fliessen ein, über- und untergeordnete Abwägungen, relevantere und weniger relevante Perspektiven. Der moralische Sachverhalt zeigt sich uns oft als vielschichtiger, nur selten als selbstevidenter Sachverhalt, weshalb wir moralische Forschung betreiben müssen, Argumente austauschen und unsere Ansichten, die unterschiedliche sein können, herausfordern sollen.

Die Frage ist dann aber doch, ob wir die moralische Realität ändern, wenn wir über sie debattieren, oder ob wir schlicht ihr entlang uns vortasten zu ihr, unsere Ansichten verbessernd, differenzierend. Und hier behauptet der Realist, dass nicht wir mit unseren Debatten die moralische Realität ändern, sondern diese im vornherein feststeht.

Auch der Realist muss pragmatisch vorgehen, insofern auch er seine Sichtweise nur als vorläufig richtige ansehen kann. Auch er muss sich eingestehen, dass er falsch liegen kann und muss seine Ansichten provisorisch zum Nennwert seines aktuellen Irrtums nehmen. Was er aber nie tun können wird, ist, im vorneherein behaupten, dass es gar keine moralische Wahrheit gebe, wenn wir uns nicht auf sie einigten und es keine geben könne, weil wir uns in der Vergangenheit ständig geirrt haben und uns auch im Heute ständig uneins seien. Nicht das, dass wir uns uneins und als Menschheit über die Epochen widersprochen haben, gilt ihm als Zeichen einer nie feststehenden Wahrheit, sondern eines nie feststehenden Besitzes von Wahrheit. Es gibt für den Realisten diesbezüglich keine klaren Besitzverhältnisse.

Dass der Realist teleologisch verhaftet bleibt einem fixen Idealpunkt, stimmt nur insofern, als er die Naturen der Dinge für bestimmend hält, weshalb er sich an ihnen ausrichten will. Aber es stimmt insofern nicht, als er seine Meinungen selbst nicht für fixiert hält an diesen Punkt. Der gute Realist ändert seine Ansichten mit der noch besseren Einsicht in die Wahrheit. Das ist, ich würde sagen, die maximal-pragmatische Position, die er einnehmen kann. Eine Postion, die ehrlich ist und ehrenhaft. Nicht halswenderisch und opportunistisch, sondern dem Ideal folgend, dass es Gerechtigkeit als realen Wert gibt. Dass es Freiheit nur unter der Achtung der Freiheit anderer als realen Wert gibt. Dass es universelle Menschenrechte gibt, die qua Menschsein in den Rang des Wirklichen gehoben werden. Das sind Ideale, weil sie ihm als unzeitliche gelten, als ewige, wenn du so willst. Ob sie denn ewig seien, das kann er nur hoffen. Eine Hoffnung, die der Relativist längst aufgegeben hat, weil er sich stattdessen, in gut sophistischer Manier, lieber darauf zu verstehen versucht, dieser Wahrheit jene Drehung zu geben, die ihm gerade günstig scheint.

:)
Zuletzt geändert von Alethos am Mi 6. Jan 2021, 23:09, insgesamt 1-mal geändert.



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Mi 6. Jan 2021, 23:05

Nauplios hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 22:24
Alethos hat geschrieben :
Mi 6. Jan 2021, 21:24
Es ist kaum zu glauben, dass wir über die Tatsächlichkeit debattieren, dass der Holocaust böse war. Es gibt keinen realen Wert, der diesen realen Wert ernsthaft herausfordern könnte. Es gibt keine Faktenlage, die für ein anderes Urteil als dieses spricht.
Ich würde das Urteil über den Holocaust auf das Konto der "gewissen Grundannahmen" transferieren.

Deal? ;)
Kein Deal, aber einverstanden! ;)



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