Nauplios hat geschrieben : ↑ Do 7. Jan 2021, 02:05
Ein kleines Fundstück, das mir in dieser kalten Nacht das Herz wärmt:
"Daran krankt meines Erachtens die Philosophie generell, wenn sie sich so versteht, als müsste sie allgemeingültig wahre Schlüsse produzieren.
Lebenswirklichkeiten sind komplex und sie sind es, weil es ständig zu Überlagerungen kommt: geschichtlichen, sozialen, begrifflichen, zwischenmenschlichen. Diese auszublenden ist vielleicht der grösste Irrtum bei der Bewertung unserer Urteile als absolut wahre oder falsche. Daran krankt auch der Realismus, wenn er die Welt in eine dichotome Struktur hineinzwängt, in der alles, was wahr ist, zugleich unmöglich falsch sein kann und umgekehrt alles, was falsch ist, unmöglich wahr sein kann. Diese binäre Struktur wohnt dem Realismus inne, weshalb unter seinen Vorzeichen Fortschritt eine Tilgung des Falschen sein muss. Alles, was falsch ist, muss eliminiert werden, weil zwischen dem (noch) Irrtum und der (ontologischen) Wahrheit etwas steht: der Irrende. Fortschritt ist - realistisch gesehen - Irrtumsbeseitigung. Für den Realisten gibt es an und für sich wahre Positionen (politische und philosophische), so dass auch die irrigen Ansichten ausgemerzt werden müssen, denn Ziel ist ja die Erlangung von Wahrheit. Fortschritt hat eine klare Richtung nach vorne, darin wird das teleologische Moment erkennbar: Dass es dort eine Wahrheit gibt, die sich uns rein und unumstösslich zu erkennen anbietet - wenn wir bloss nicht irren - und dass unser Weg derjenige ans Licht ist, strebend nach dieser Wahrheit, die uns anleitet.
Es gibt keine solche moralische Wahrheit in Reinform, wenn nicht alle Befindlichkeiten, wenn nicht alle sozialen Wahrheiten berücksichtigt werden. (...) Es gibt kein absolut richtig oder falsch: das Lager der Wahrheitskämpfer und das Lager der Irrenden, es gibt nur eine sehr komplexe Lage, die schwierig ist, weil sie sich moralisch anders zeigt als sozial und nochmal politisch anders als philosophisch. Das ist Wirklichkeit - kein rein durch philosophisches Spiel, kein rein durch logisches Kalkül oder moralisiernden Diskurs Bereitbares.
Das ist der Grund, warum die Philosophie nicht fortschreitet, weil sie sich zu sehr darauf versteht zu belehren, anstatt sich dieser schwierigen Wirklichkeit ohne den Anspruch auf allgemeingültig wahre Aussgen über sie zu stellen.
Und darum ist der Metaphorologe im Vorteil gegenüber dem Realisten: weil er keine absolute Wahrheit postuliert, sondern nur Bilder, Analogien, Gleichnisse sucht, um mittels der Unschärfe der Begriffe den fliessenden Konturen der Wirklichkeit, den schwebenden Grenzen Raum zu geben für ihre Entfaltung in Sprache."
Mir ist der Name des Verfassers leider entfallen. Nur so viel weiß ich: es ist nicht von mir.
Ich möchte nur betonen, dass dieses quellenlose Zitat hervorragend geschrieben ist. Und dass ich mit dieser Person einig gehen kann.
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass niemand absolut recht haben kann. Eine absolute Wahrheit kann es nicht geben, weil sie immer gebunden bleibt an die Komplexität der Sache. Sie ist immer relativ zur Sache, und letztere ist selten einfach.
Wahrheitsurteile bleiben relativ, aber relativ zur Sache. Wir müssen ab einem
gewissen Punkt grundsätzlichste moralische Wahrheiturteile als definitiv wahr ansehen, sie an einen „Anfangspunkt “ setzen, weil wir sonst nichts Moralisches bewerten könnten, weil wir sonst nie tun könnten, was wir für gut befinden und nie verhindern, was wir für schlecht halten, weil wir es schlicht nicht beurteilen könnten ohne Willkür. Aber das Gute kann nicht willkürlich sein, wenn es dir oder mir zuteil werden soll, dann soll es soweit möglich verlässlich Gutes und gesichert Gutes sein. Wer nur willkürlich setzt, was gut ist, der wird ganz dem Zufall überlassen, ob sein Gutes mir schadet, wenn er es gut meint mit mir.
Wir müssen also moralisch relevante Sachverhalte nach gewissen Maßstäben beurteilen, weil wir sonst jeden Halt verlören in der Beliebigkeit. Wir gleiteten ab ins moralisch Irrelevante, wenn wir uns nicht wenigstens einen Boden des wahrhaft Guten (oder des für das gehaltene) geben würden. Und das ist pragmatisch durch und durch, weil wir basale Wahrheiten als solche nehmen, obwohl wir Fallibiltität für möglich halten immer.
Wir müssen Wahrheiten der Art haben, wie z.B., dass Mord falsch ist und dass Menschen eine Würde und viele Rechte haben etc. Wenn wir das als universale Wahrheit (nicht jedoch als absolute Wahrheit) nehmen, können wir erst auf die moralisch, politisch und philosophisch relevanten Sachverhalte eingehen, nach diesen Maßstäben Gutes zu tun versuchen.
Zusammenleben heisst immer Meisterung verschiedener Interessen, Ansichten, Glaubenssätze, Wertebewusstseine. Menschsein heisst auch, in einer Horde von Menschen zu leben, deren Bedürfnisse widerstrebende und zueinanderstrebende Kräfte sind, die ausbalanciert gehören, wenn sich diese Horde stabiliseren können soll, weil sie sonst im Krieg versinkt oder im Chaos. Es gibt nicht hier die Guten und da die Irrenden, wenn wir gemeinsam Wahrheit suchen, es gibt sie jedenfalls nicht mit absoluter Gewissheit, auch nicht für den Realisten. Aber es gibt die Guten und die Bösen, wenn wir gewisse Grundwahrheiten annehmen, was wir müssen, wenn wir hier auf Erden ganz konkrete moralische, politische Fakten schaffen müssen, was wir müssen: Als Politiker, als Philosophen, als Juristen, aber vor allen Dingen als Mitmenschen.
Da, wo wir unser Zusammenleben regeln müssen, müssen wir entscheiden, auch und gerade dort, wo es zu Konflikten kommt, zu Wertkonflikten. Wir müssen sagen können, wenn wir ein Miteinander regeln, ein philosophisches auch, was wir als wahr annehmen wollen und müssen, damit dies und jenes daraus folgen könne. Wir Partei ergreifen. Aber wir können in der Gemengenlage unserer vielen verschiedenen Bedürfnisse und Rechte, in der Komplexität unserer jeweiligen Situationen, nicht immer wissen, was Recht und was Unrecht ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Und doch und gerade deshalb müssen wir etwas annehmen als wahr, weil wir sonst nichts tun oder entscheiden könnten, das sich aus dieser Annahme ableitete.
Ob aller Zwietracht, erkennen wir intuitiv, dass es Grundsätzliches gibt, das wir als gegeben, als wahr anschauen, z.B., dass es falsch ist, als Präsident sein Volk gegen Teile seines Volks aufzuwiegeln. Es ist nicht richtig für einen Präsidenten in einer demokratischen Ordnung, das zu tun, und es ist nicht richtig für niemanden überhaupt, diese gegen jene auszuspielen.
Das ist eine moralische Wahrheit, die wir erkennen, wenn wir vernünftig sind, nicht, weil wir Realisten wären mit besonderen Zugängen zur Wahrheit, oder weil wir Relativisten wären mit einer besonderen Verwurzelung mit unseren kulturellen Traditionen: Das erkennen wir, weil wir es wissen, sobald wir es sehen - weil wir es empfinden, da wir Menschen sind.
Wir machen es uns deshalb nicht einfacher, als es ist, da wir feststellen, dass wir sehr viele konkrete Probleme lösen müssen hier auf Erden, wo sich unsere Werte teilweise konfrontieren. Wir müssen es ertragen, dass wir um Werte kämpfen müssen, ohne in letzter Instanz sagen zu können, warum wir eigentlich meinen zu wissen, dass wir es besser wissen. Viel mehr als auf die Vernunft zu verweisen, viel mehr als Argumente auszutauschen, viel mehr als aufzufordern, die Sachverhalte mit einem sie würdigenden Blick zu betrachten, können wir schlichtweg nicht leisten, aber es ist schon viel.
Und deshalb ist auch ein Realist, der diese komplexe Gemengenlage ins Auge nimmt und keine absolute Wahrheit für sich einfordern kann, sondern bloss eine absolute Notwendigkeit, dass wir uns ihr - was immer sie sei - verpflichten, ein Pragmatiker. Ein Interessensausgleichender. Ein Balancierer auf dem Hochseil des Ideals, es der Sache der Menschen, die immer Individuen sind mit eigenen Lebensentwürfen, recht zu machen. Ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Der Realist verteidigt also nicht irgendwelche Werte, die es sich im ewigen Himmel in absolutem Gleichgewicht, Ambrosia trinkend gemütlich machen. Ein guter Realist, hoffentlich auch ein Relativist, wird immer versuchen, die Realität dahingehend anzuerkennen, dass sie ihn anleite zu tun, was allen zugute kommt.
Das ist das Komplexe an der Sache: diese verschiedenen Guten zu vereinen in diesem guten, edlen Streben, dass sie erblühten und gedeihten. Aber es ist ein Streben in konkreten Gefilden, wo sich Werte aneinander reiben, ständig verdrängen und anziehen wollen... soziale Echokammern bildend und Konflikte heraufbeschwörend. Das ist das Tätigkeitsfeld des Realisten, der nie zu abschliessenden und schon gar nie absoluten Wahrheiten kommt. Er betätigt sich als Unparteiischer, soweit es ihm möglich wird, die Sache selbst für oder gegen etwas sprechen zu lassen. Nicht sich sprechen zu lassen, sondern die Sache durch ihn so unverstellt wie möglich, damit alle zu ihrem Recht kämen durch sie. Nicht durch ihn.
Der Realist ist also nicht ein binärer Dogmatiker, sondern ein Sozialpragmatiker mit dem Anspruch, es möge bitte die Sache entscheiden, wo wir es, als Menschenbrut, einfach nicht vermögen. Und darum ist ein Realist dann ein guter Realist, wenn er sich als Metaphorologe betätigt und dort Anstalten macht, das scheinbar Unversöhnliche zwischen den Menschen auf eine neue, eidetisch kodierte Art zu fassen und zu versöhnen. Dann packt er eben den sturen Stier bei den Hörnern und lässt das stampfende Vorwärts des Konflikts durch einen eleganten Schwenk seitlich an ihm vorbeiziehen. Dann macht er eine halbe Pirouette, ja, weil er eben zu vereinigen versucht, was unvereinbar scheint - weil er versöhnen will, was unversöhnlich scheint: Dass Stier und Torero siegen wollen, aber keiner siegen kann. Dass Linke und Rechte, Erzreligiöse und Sozialliberale recht haben wollen, aber es nur einen guten Ausweg geben kann - das Miteinander im eleganten Nichtkampf.
Nicht zu kämpfen kann aber nicht bedeuten, keine Partei zu ergreifen oder nicht zu glauben, was man fürwahr hält oder dafür einzustehen, sondern dieser Nichtkampf ist ein Hinstehen im Konfliktfall, ein Einstehen für den Frieden, ein Einstehen für den Wert der Unversehrtheit unserer aller Werte und Rechte. Ein Austricksen des stampfenden Stiers im Namen dieser Wahrheit, dass niemand siegen kann.
Es gibt somit keinen signifikanten Unterschied zwischen einem guten Realisten und einem Metaphorologen: Beide suchen durch Kontingenz ihres Vokabulars (des metaphorischen oder fallibilistischen) das Wahre ans Licht zu holen und hoffen bei den Menschen, dass es das Gute sei. Kämpfen, ohne Kampf, aber mit tanzender Eleganz begünstigend, dass beide überleben: Der Stier und der Torero. Dass keiner verletzt werde, dass beide nur Tango tanzen - je auf ihre eigene Art - aber miteinander.
Also, ja, mein Freund, Nauplios: Realisten tragen die Konflikte aus, ob nun die Menge „Bravo“ ruft oder längst nach Hause gegangen ist. Realisten träumen nicht von einer absoluten Wahrheit, sondern von einer Wahrheit, die die Menschen versöhnen kann. Immer wieder und, nach Möglichkeit,
für immer.