Vernunft/Vernehmen

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Jörn Budesheim
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Mi 15. Apr 2020, 06:02

WAHRIG HERKUNFTSWÖRTERBUCH hat geschrieben : Vernunft
dieses Substantiv (mhd. vernunft, ahd. vernumft, firnumft) wurde alten Wortbildungsregeln folgend auf Basis einer früheren Form und Bedeutung des Verbs vernehmen (mhd. vernemen, ahd. firneman „erfassen, ergreifen“) gebildet, weswegen es zunächst auch nur im Sinne von „Erfassung, Wahrnehmung“ ...
Wörterbuch der philosophischen Begriffe hat geschrieben : ratio, lat. ›die ↑Vernunft‹, der ↑Grund, ...
Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen. Die Vernunft ist das vernehmen, erfassen, ergreifen desjenigen, wofür die Tatsachen sprechen.

Richtig?




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Alethos
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Mi 15. Apr 2020, 13:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 15. Apr 2020, 06:02
Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen. Die Vernunft ist das vernehmen, erfassen, ergreifen desjenigen, wofür die Tatsachen sprechen.
Vielleicht ist es bloss syntaktisch unpräzise formuliert, aber der Satz scheint nicht richtig zu sein.

Wenn gilt, dass ein Grund eine Tatsache ist, die für etwas spricht, dann spricht die Tatsache nicht für einen Grund, sondern sie ist der Grund.

Es wäre dann falsch zu sagen, wenigstens unnötig gedoppelt, wenn man zusätzlich zur Fürsprache der Tatsache für etwas noch dasjenige herausheben wollte, für das sie spricht.

Die Vernunft kann demnach nicht das Vernehmen desjenigen sein, wofür die Tatsachen sprechen, denn dann gäbe es neben der Tatsache noch einen Grund, für den die Tatsache Fürsprache leistet. Die Tatsache und der Grund wären nicht dasselbe, was aber als Prämisse gelten soll.



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Alethos
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Mi 15. Apr 2020, 14:44

Wenn man aber unter 'dasjenige' eine Handlung meint, die durch die Tatsache begründet wird, dann kann der Satz stimmen. :)



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Jörn Budesheim
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Mi 15. Apr 2020, 18:59

Ich nehme wieder mein Standard Beispiel. Dort liegt eine verletzte Person. Das liefert mir einen Grund, ihr zu helfen. Die Vernunft ist das vernehmen, erfassen, ergreifen desjenigen, wofür die Tatsachen sprechen, nämlich zu helfen.




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Jörn Budesheim
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Mi 15. Apr 2020, 19:39

Alethos hat geschrieben :
Mi 15. Apr 2020, 13:55
Wenn gilt, dass ein Grund eine Tatsache ist, die für etwas spricht, dann spricht die Tatsache nicht für einen Grund, sondern sie ist der Grund. (Farbe von mir hinzugefügt)
Mir ist nicht ganz klar, wie zu zu dieser Transformation, also den roten Teil kommst?




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Alethos
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Mi 15. Apr 2020, 21:10

Na das:

Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen.

Da steht, transformiert: Tatsachen, die für etwas sprechen, sind Gründe. Wenn aber die für etwas sprechenden Tatsachen als solche Gründe sind, dann gibt es neben der Tatsache nicht noch einen Grund, weil er gleichsam durch die Tatsache selbst repräsentiert ist.

Deshalb wäre es falsch zu sagen, die Vernunft erfasse dasjenige, wofür die Tatsachen sprechen. Wenigstens würde es, so gedeutet, nicht bedeuten können, dass Grund und Tatsache, die für etwas spricht, einerlei sei. Denn entweder erfasst die Vernunft Gründe (und damit die Tatsache, die für etwas spricht) oder aber sie erfasst nur dasjenige, wofür die Tatsache spricht, mithin die rationale Dimension der Tatsache und nicht die Gründe liefernde Tatsache selbst.

Aber ich denke, das ist nur ein stilistisches Problem, kein inhaltliches.



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Alethos
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Mi 15. Apr 2020, 21:16

Was soll denn dasjenige sein, wofür die Tatsache spricht? Es kann ja wohl nicht ein Grund sein - sie spricht nicht für einen Grund.

Aber was soll die Vernunft erfassen, vernehmen? Doch wohl einen Grund. Deshalb erfasst sie nicht dasjenige, wofür eine Tatsache spricht, sondern die Tatsache selbst als Grund.



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Alethos
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Mi 15. Apr 2020, 22:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 15. Apr 2020, 18:59
Ich nehme wieder mein Standard Beispiel. Dort liegt eine verletzte Person. Das liefert mir einen Grund, ihr zu helfen. Die Vernunft ist das vernehmen, erfassen, ergreifen desjenigen, wofür die Tatsachen sprechen, nämlich zu helfen.
Ja, so kann ich es nachvollziehen. Wenn du von Handlungen sprichst, die ein Grund 'gebietet', dann verstehe ich es. Die Vernunft erfasst den Grund für ein bestimmtes Handeln.



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Stefanie
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Mi 15. Apr 2020, 22:39

Das Thema macht mich mittlerweile etwas kirre; mir ist der Durchblick abhanden gekommen.
Grunde, Ursachen, Vernunft, Wahrnehmung, seufz.

Ist es jetzt die Vernunft die Kant meint, oder nicht?



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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 05:28

Alethos hat geschrieben :
Mi 15. Apr 2020, 22:24
Die Vernunft erfasst den Grund für ein bestimmtes Handeln.
Aber nicht nur, sondern auch für Überzeugungen.




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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 05:37

Stefanie hat geschrieben :
Mi 15. Apr 2020, 22:39
Ist es jetzt die Vernunft die Kant meint, oder nicht?
Nee, Kant kam ja bisher gar nicht vor und ich beziehe mich auch nicht auf ihn. Es geht also auch nicht um die Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft. Anlass für den Thread ist die Formulierung "die Vernunft ist ein Vernehmen", die ich vor kurzem in einer Mail gelesen habe.




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Alethos
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Do 16. Apr 2020, 07:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 05:28
Alethos hat geschrieben :
Mi 15. Apr 2020, 22:24
Die Vernunft erfasst den Grund für ein bestimmtes Handeln.
Aber nicht nur, sondern auch für Überzeugungen.
D.h. dass du den 'Link' machen würdest zwischen der Tatsache, dass da jemand verletzt am Boden liegt und einer Überzeugung?



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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 09:08

Ich nehme ein Beispiel als der Literatur - kommt in der Philosophie ebenso vor, wie in Detektivromanen: Wenn wir die Fingerabdrücke von Müller auf der Tatwaffe finden, dann spricht das dafür, dass er der Täter war, auch wenn das vielleicht noch keine entscheidenden Gründe liefern mag :-)




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Alethos
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Do 16. Apr 2020, 10:49

Ok, also führt die Tatsache, die für etwas spricht, nicht telquel zu Überzeugungen. Im vorangehenden Beispiel noch nicht einmal zu dringlichem Tatverdacht. :-)



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Alethos
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Do 16. Apr 2020, 10:54

Es gibt doch einen Unterschied zwischen einer Annahme, einer Meinung, einer Überzeugung usw. Ich sehe noch nicht, wie diese unterschiedlichen inneren Einstellungen durch das blosse Erfassen / Vernehmen von Tatsachen, die für etwas sprechen, zustande kommen sollen.



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Stefanie
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Do 16. Apr 2020, 11:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 09:08
Ich nehme ein Beispiel als der Literatur - kommt in der Philosophie ebenso vor, wie in Detektivromanen: Wenn wir die Fingerabdrücke von Müller auf der Tatwaffe finden, dann spricht das dafür, dass er der Täter war, auch wenn das vielleicht noch keine entscheidenden Gründe liefern mag :-)
Jetzt verstehe ich noch weniger, wenn ich mir dazu das Beispiel mit der verletzten Person noch mal durchlese.
Die Verletzung der Person ist der Grund, warum ich der Person helfe. Richtig?

Was ist im Fall der Tatwaffe/Fingerabdrücke jetzt der Grund für was?



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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 12:18

Alethos hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 10:54
Es gibt doch einen Unterschied zwischen einer Annahme, einer Meinung, einer Überzeugung usw. Ich sehe noch nicht, wie diese unterschiedlichen inneren Einstellungen durch das blosse Erfassen / Vernehmen von Tatsachen, die für etwas sprechen, zustande kommen sollen.
Kannst du das an einem Beispiel erläutern? Mit Beispielen ist alles viel einfacher :)




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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 11:30

Was ist im Fall der Tatwaffe/Fingerabdrücke jetzt der Grund für was?
A: Warum glauben sie, dass Müller dringend verdächtig ist?
B: Wir haben seine Fingerabdrücke an der Tatwaffe gefunden.




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Alethos
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Do 16. Apr 2020, 12:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 12:19
Stefanie hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 11:30

Was ist im Fall der Tatwaffe/Fingerabdrücke jetzt der Grund für was?
A: Warum glauben sie, dass Müller dringend verdächtig ist?
B: Wir haben seine Fingerabdrücke an der Tatwaffe gefunden.

Du wolltest Beispiele und lieferst eine gute Vorlage gleich selbst :)

Zu glauben, dass Müller verdächtig ist, ist nicht dasselbe, wie der Überzeugung zu sein, dass er verdächtig ist. Eine Überzeugung ist eine stärker begründete innere Einstellung als bspw. ein Verdacht oder eine Vermutung.

Nun aber liegt beiden Fällen dieselbe Tatsache zugrunde: Müllers Fingerabdrücke. Um zur Überzeugung zu gelangen, braucht es mehr Tatsachen als bloss diese eine.

Noch mehr gilt das bei normativen Situationen, z.B. wenn wir behaupten, dass es geboten ist, einem Verletzten zu helfen. Es reicht die eine Tatsache nicht aus, sondern sie muss gestützt werden durch andere Tatsachen, sodass diese Tatsache für oder gegen etwas sprechen kann. Und ich meine, dass man dies den "rationalen Hintergrund" nennen kann, vor dem eine Tatsache erst zu einem Grund werden kann.
Dass eine Tatsache für etwas sprechen kann, ergibt sich durch diesen Tatsachen-Hintergrund, z.B. der Verletzte ist ein Mensch. Menschen haben eine Würde. Der Verletzte kann sich nicht selber helfen. Helfen ist gut., etc.



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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 13:00

Zunächst erst mal kurz: Ich nutze den Begriff "Überzeugung" nicht in der emphatischen Version des Alltagsverständnisses, sondern in der philosophischen Version. Da heißt es im Grunde nur etwas für wahr halten, das kann auch ganz unbedeutendes sein.




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