Vernunft/Vernehmen

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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 13:11

Tatsachen hängen zusammen, stimmt (=ist eine Tatsache). Wenn jemand verletzt auf dem Boden liegt, heißt das auch, dass die Schwerkraft einen gewissen Wert hat - andernfalls würde die Person vielleicht schweben oder zum Erdmittelpunkt gezerrt. Es impliziert, dass die Person aller Voraussicht nach ein Herz hat, vielleicht zwei Lungenflügel, womöglich ist sie zur Schule gegangen und hat Bekannte, ziemlich sicher hat sie einen Vornamen und einen Nachnamen und vieles andere mehr.

Tatsachen sind immer eingebettet in Zusammenhänge. Was mir nicht klar ist: Wofür oder wogegen willst du damit argumentieren? Insbesondere: Spricht diese Tatsache dagegen, dass Tatsachen Gründe liefern?




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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 13:22

Ist nicht dramatisch, aber wir haben etwas das Thema erweitert. Eigentlich geht es mir um den Begriff Vernunft. Was heißt es?




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Alethos
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Do 16. Apr 2020, 16:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 13:11
Tatsachen sind immer eingebettet in Zusammenhänge. Was mir nicht klar ist: Wofür oder wogegen willst du damit argumentieren? Insbesondere: Spricht diese Tatsache dagegen, dass Tatsachen Gründe liefern?
Im Gegenteil, es spricht sogar dafür. Aber es soll zeigen, dass eine einzelne Tatsache keine normative Kraft hat. Die schiere Tatsache, dass das jemand verletzt am Boden liegt, ist isoliert betrachtet, keine Tatsache, die für irgendetwas spricht.

Die Definition <Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen> sollte man nicht so interpretieren, dass eine Tatsache allein ausreicht, damit man sagen könne, sie spreche für etwas. Dass da jemand verletzt am Boden liegt ist für sich betrachtet noch kein Grund, ihm aufzuhelfen. Es gibt Tatsachen-Zusammenhänge, die auch dagegen sprechen könnten. Wenn bspw. ein Corona-Infizierter am Boden liegt, solltest du ihn vielleicht besser liegen lassen, weil du dich und andere anstecken könntest. Du würdest Gutes tun, Besseres tun, wenn du ihm nicht aufhilfst, sondern die Rettungskräfte alarmierst, damit ihm so geholfen sei. Oder wenn es sich so verhält, dass dich der Verletzte umbringen möchte: Dann lass ihn lieber liegen und hilf ihm nicht noch auf die Beine, damit ihm gelingt, was du verhindern möchtest.

Im Grunde müsste es heissen, dass Tatsachen für etwas sprechen, aber dieses "Dafür" nicht zwingend evident ist. Bei deinem Interpretationsvorschlag mit dem am Boden Liegenden suggerierst du aber ein sofort vernehmbares Verhalten. Die Vernunft muss Gründe abwägen, wenn sie handlungsleitend sein sollen, und das bedarf eines Denkprozesses. Es ist nicht so, dass objektive Normen darauf warten, für wahr gehalten zu werden wie das Grün der Baumblätter oder das Himmelblau.

Darum denke ich auch, dass man nicht alle Formen des Fürwahrhaltens unter dem Oberbegriff des Fürwahrgehaltenen betrachten kann, sondern wir müssen unterscheiden, ob es sich um optische Perzeptionen handelt, Einstellungen der Art von Meinungen oder Annahmen und Überzeugungen.



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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 18:32

Alethos hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 16:50
Die Definition <Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen> sollte man nicht so interpretieren, dass eine Tatsache allein ausreicht, damit man sagen könne, sie spreche für etwas.
So interpretiere ich es aber. Dort liegt jemand auf dem Boden, das spricht dafür, dass er Hilfe braucht. Ich weiß, dass er eine ansteckende Krankheit hat, das spricht dagegen ihm zu helfen. Da hinten kommt ein Krankenwagen, das spricht dafür, dass ich noch mal Glück gehabt habe, und aus dem Dilemma raus bin.

Dass ein Grund vorliegt, heißt ja nicht automatisch, dass ein alles entscheidender Grund vorliegt.

Ein anderes Beispiel: Karl hat Lust auf ein Schnäpschen. Das spricht dafür, dass er sich einen genehmigt. Karl ist jedoch ein trockener Alkoholiker, das spricht dagegen, dass er sich das Schnäppschen holt. Vermutlich dürfte es hier so sein, dass der zweite Grund den ersten übertrumpft.

Aber das ändert nichts daran, dass der erste Grund vorliegt. Wir sind ja schließlich andauernd damit beschäftigt, verschiedene Gründe gegeneinander abzuwägen. Einerseits... andererseits... hingegen aber...

Manchmal macht man sogar Listen von Pro und Contra um Entscheidungen zu finden.
Alethos hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 16:50
Liegenden suggerierst du aber ein sofort vernehmbares Verhalten.
Das finde ich nicht. Ich sage nur, dass ein Grund zu helfen vorliegt. Das scheint mir einfach der Fall zu sein. Dass ein Grund vorliegt, etwas zu glauben oder zu tun, das heißt, wie ich eben an Beispielen zu zeigen versucht habe, keineswegs, dass nicht andere Tatsachen etwas anderes besagen können.

Es kann auch folgender Fall eintreten: wenn jemand wirklich schwer verletzt ist, vielleicht gar lebensgefährlich, dann bringt das in der Regel alle anderen Gründe zum schweigen. Wenn mich nicht alles täuscht, ist die Formulierung mit dem "zum Schweigen bringen" von John McDowell, das finde ich recht anschaulich. Das hieße, die Gründe sind zwar noch da, aber wir könnten/sollten sie nicht mehr wirklich vernehmen :)




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Alethos
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Do 16. Apr 2020, 20:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 18:32
Das finde ich nicht. Ich sage nur, dass ein Grund zu helfen vorliegt. Das scheint mir einfach der Fall zu sein. Dass ein Grund vorliegt, etwas zu glauben oder zu tun, das heißt, wie ich eben an Beispielen zu zeigen versucht habe, keineswegs, dass nicht andere Tatsachen etwas anderes besagen können.
Nun gut, dann sind wir uns wenigstens einig, dass es verschiedene Gründe geben kann, die für etwas und gleichzeitig für etwas anderes sprechen können. Wir finden uns also in einer Situation vor, in der sich nicht ohne weitere Rationalisierung angeben lässt, wofür die Tatsachen in ihrem überblickbaren Gesamt eigentlich sprechen: Wir müssen abwägen.

Woran sehen wir es den Tatsachen an, dass sie andere Tatsachen im Abwägungsprozess "übertrumpfen"? Wenn die Gemengenlage komplex ist, wird das wohl auf eine Überredungspraxis hinauslaufen: Ich überrede mich, das und das zu tun, wenn die Fakten diese und diese sind. Aber nicht weil die Fakten diese und diese sind, sondern weil ich ihnen das entsprechende Gewicht im Konnex aller Tatsachen gebe, überrede ich mich, so und so zu handeln.

Ist es nicht gerade deshalb, dass es Politik gibt, weil die Faktenlage nicht eindeutige Interpretationen zulässt? Warum streiten Philosophen, wenn Tatsachen eine eindeutige Sprache sprechen?



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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 20:16

Alethos hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 20:08
Woran sehen wir es den Tatsachen an, dass sie andere Tatsachen im Abwägungsprozess "übertrumpfen"?
Wie erkennen wir die Wahrheit ganz im allgemeinen?




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Jörn Budesheim
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Do 16. Apr 2020, 20:30

Alethos hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 20:08
Nun gut, dann sind wir uns wenigstens einig, dass es verschiedene Gründe geben kann, die für etwas und gleichzeitig für etwas anderes sprechen können.
Hast du dafür vielleicht ein Beispiel?




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Alethos
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Do 16. Apr 2020, 20:49

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 20:30
Alethos hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 20:08
Nun gut, dann sind wir uns wenigstens einig, dass es verschiedene Gründe geben kann, die für etwas und gleichzeitig für etwas anderes sprechen können.
Hast du dafür vielleicht ein Beispiel?
Es gibt Gründe, die für etwas sprechen und andere Gründe, die für das Gegenteil sprechen. Beispiele hast du oben selber genannt:

Der liegende Verletzte spricht dafür, dass ich ihm helfe. Seine Verletzungen dafür, es nicht zu tun.



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Jörn Budesheim
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Fr 17. Apr 2020, 05:33

Ich bin der Ansicht, dass uns Tatsachen Gründe liefern.

Meines Erachtens verbindest du damit Dinge, die damit nicht gesagt werden:

Die Position besagt zum Beispiel nicht, dass wir uns nicht im Unklaren darüber sein können, welche Gründe vorliegen. Im Gegenteil: der Umstand, dass wir Gründe haben können, die wir gegebenenfalls nicht kennen oder falsch einschätzen, spricht für den Gründeobjektivismus und nicht gegen ihn. Diese Ansicht besagt auch nicht, dass es eine einheitliche oder gar einfache allgemeine Methode gibt, herauszufinden, welches die relevanten Tatsachen sind und wofür sie sprechen.

Was ist deine Position?




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Stefanie
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Fr 17. Apr 2020, 20:45

Wenn Tatsachen Gründe liefern, muss es doch eine Überprüfung dahin geben, ob es ein ausreichender Grund ist.
Die Fingerabdrücke auf der Waffe, das ist die Tatsache, die den Grund liefert, jemanden als Mörder anzusehen.
Bislang ging ich davon aus, dass jetzt die Vernunft ins Spiel kommt, die mir sagt, Stopp, es ist ein Grund, aber ob es ein ausreichender Grund ist, ist ungeklärt, ich kann nicht jetzt sagen, es ist wahr, dass er ein Mörder ist.
Nach der am Beginn genannten Definition "Die Vernunft ist das vernehmen, erfassen, ergreifen desjenigen, wofür die Tatsachen sprechen." kann das diese Vernunft gar nicht leisten. Denn danach ist die Vernunft nichts anders als der Prozess, in dem festgestellt wird, es ist ein Grund vorhanden, nimmt aber keine Wertung bzw. Überprüfung vor, ob es ein ausreichender Grund ist.
Mich verwirrt der Fall mit den Fingerabdrücken.



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Jörn Budesheim
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Sa 18. Apr 2020, 07:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Apr 2020, 18:32
Ein anderes Beispiel: Karl hat Lust auf ein Schnäpschen. Das spricht dafür, dass er sich einen genehmigt. Karl ist jedoch ein trockener Alkoholiker, das spricht dagegen, dass er sich das Schnäppschen holt. Vermutlich dürfte es hier so sein, dass der zweite Grund den ersten übertrumpft.
Stefanie hat geschrieben :
Fr 17. Apr 2020, 20:45
Denn danach ist die Vernunft nichts anders als der Prozess, in dem festgestellt wird, es ist ein Grund vorhanden, nimmt aber keine Wertung bzw. Überprüfung vor, ob es ein ausreichender Grund ist.
Ich finde nicht, dass dieser Kommentar auf das passt, was ich geschrieben habe.




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Alethos
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Sa 18. Apr 2020, 13:09

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 17. Apr 2020, 05:33
Ich bin der Ansicht, dass uns Tatsachen Gründe liefern.
Dieser Ansicht bin ich auch und ich denke, es gibt wahrscheinlich unter den Vernünftigen kaum jemanden, der dies anders sehen würde. Alle Entscheidungen, die mit Blick auf Fakten getroffen werden, rekurrieren auf Tatsachen als Gründe. Es ist eine Tatsache, dass Brot sättigt und es ist eine Tatsache, dass ich Hunger habe. Dass "Brot sättigt" spricht dafür, es zu essen. Dass "5 vor 12" ist, spricht dafür, sich zu beeilen. Dass dort jemand verletzt am Boden liegt, spricht dafür ihm zu helfen. Dass die Kaffeetasse rechts von mir liegt, spricht dafür, nach rechts zu greifen etc.
Ich halte das, bei allem Respekt, für banal.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 17. Apr 2020, 05:33
Meines Erachtens verbindest du damit Dinge, die damit nicht gesagt werden:

Die Position besagt zum Beispiel nicht, dass wir uns nicht im Unklaren darüber sein können, welche Gründe vorliegen. Im Gegenteil: der Umstand, dass wir Gründe haben können, die wir gegebenenfalls nicht kennen oder falsch einschätzen, spricht für den Gründeobjektivismus und nicht gegen ihn. Diese Ansicht besagt auch nicht, dass es eine einheitliche oder gar einfache allgemeine Methode gibt, herauszufinden, welches die relevanten Tatsachen sind und wofür sie sprechen.

Was ist deine Position?
Meine Position ist die, dass Gründe immer objektiv vorliegen: Wie denn sonst? Es gibt keine andere Art des Vorkommens denn eine objektive Art des Vorkommens, auch des Vorkommens von Gründen. Aber ich bin auch der Meinung, dass Tatsachen nicht isoliert vorkommen und es Gründe auch nicht tun. Es ist doch nicht nur so, dass wir uns bezüglich Gründen irren können, weil wir sie nicht alle kennen oder wir die Implikationen unserer auf sie basierenden Entscheidungen überblicken könnten. Es ist so, dass Tatsachen allein prinzipiell gar nicht für etwas sprechen können, wenn da kein Agens ist, der will oder wertet oder fragt. Gründe kommen ohne Vernunft, die nach gewissen Prinzipien handelt, gar nicht vor. Das steht nicht im Widerspruch zur Gründeobjektivität.

Angenommen es liegt hier eine Tatsache vor, die für etwas spricht. Ich handle nach ihr so, weil die Tatsache für dieses Handeln spricht. Nun wird sich vielleicht herausstellen, dass diese Tatsache eine Auswirkung hatte, die ich gar nicht wollte. In der Zukunft wird sich vielleicht weisen, dass die Tatsache, die damals für etwas sprach, aus der Optik von heute nicht mehr für diese Handlung sprechen würde. Nun handelt es sich hierbei aber nicht einfach um einen Irrtum, bei dem man sagen würde: "Hätte ich das damals gewusst, so hätte ich anders entschieden." Wir haben uns nicht einfach geirrt, das auch, aber die Tatsache selbst hatte gar nie eindeutig für oder gegen etwas gesprochen. Denn dieses "für etwas sprechen", das kommt ja nur vor einem teleologischen Hintergrund vor resp. vor dem Hintergrund der Konditionale, dass wir damit etwas bezwecken oder erreichen wollen.

Beispiel: Da liegt ein Verletzter am Boden. Ich helfe ihm auf, weil die Tatsache, dass er da liegt, dafür spricht, ihm zu helfen. Nun handle ich also nach dem Grund, der vor mir liegt. Der Grund ist der: Hier liegt jemand am Boden und am Bodenliegenden soll man helfen. Aber wieso soll man das? Wieso spricht diese Tatsache dafür? Weil es richtig ist, einem Menschen, der leidet, zu helfen. Es ist eine objektive Richtigkeit, das zu tun.
Nun habe ich dem Verletzten geholfen, der dann meine Familie umbringt. Denn es stellt sich heraus, dass der Mann ein Alkohol kranker Psychopath ist. Nun würde man doch nicht sagen, dass es objektiv weniger richtig wäre, seine Familie zu schützen als einem Verletzten aufzuhelfen? Hätten wir denn gewusst, dass der am Bodenliegenden etwas ganz Schreckliches tun würde, wir hätten ihm nicht geholfen. Insofern würden wir vielleicht auf den ersten Blick sagen, dass wir uns nun eben geirrt hätten. Die (damals unbekannte) Tatsache, dass er ein Mörder ist, hätte für etwas anderes gesprochen als ihm zu helfen. Wir handelten aber im Unwissen und irrten.

Nehmen wir der Deutlichkeit halber überspitzt nun an, dass der Umstand, dass meine Familie ermordert wurde, mich in eine tiefe Depression stürzte und wegen dieser Depression habe ich ein Medikament einzunehmen begonnen. Dieses Medikament hilft und zwar so sehr, dass meine kognitiven Fähigkeiten besser sind als zuvor. Gegeben diese neuen Fähigkeiten ist es mir nun möglich, in die Forschung zu gehen und ich entdecke dort ein Mittel zur Heilung aller destruktiven Neigungen bei Menschen. Eine Therapie gegen das Böse im Menschen. Ich entdecke das Mittel für den Frieden auf Erden. Keine Kriege mehr. Kein Hunger mehr. Keine Ausbeutung mehr. Wäre es nicht ein noch grösseres Gut, dass ich dies für die Welt geleistet habe als es ein Übel war, dass meine Familie umgebracht wurde? Ist es nicht so, dass es im Grunde dann eigentlich eine glückliche Fügung ist, dass meine Familie damals umgebracht wurde durch diesen Mann, dem ich aufhalf? Wofür sprach nun die Tatsache genau: Dafür, ihm zu helfen oder dafür, ihm nicht zu helfen? Ich behaupte, sie sprach sowohl als auch dafür, im Grunde aber weder noch.

Denn nur unter dem Aspekt der Frage: Was ist gut, was will ich erreichen, lässt sie anhand der Tatsache sinnvoll ermitteln, wofür sie spricht. Nicht die Tatsache, spricht für etwas aus sich selbst, sondern weil in ihr unsere Fragen an sie widerhallen. Das, was aus den Tatsachen für etwas spricht, das ist die Stimme der Vernunft.



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So 19. Apr 2020, 06:06

Alethos hat geschrieben :
Sa 18. Apr 2020, 13:09
Meine Position ist die, dass Gründe immer objektiv vorliegen: Wie denn sonst?
Ich habe natürlich keine Ahnung, ob es darüber Statistiken gibt, ich würde aber meinen, dass der Mainstream der Ansicht ist, dass Gründe etwas subjektives sind. In diesem Fall liefern uns nicht Tatsachen über Gegenstände und Situationen Gründe, sondern Tatsachen über subjektive oder innere Einstellungen. In einer früheren Diskussion hier im Forum hatten einige User die Ansicht vertreten, Gründe seien grundsätzlich Motive des je Einzelnen.

Man kann also den Gründe-Objektivismus (sowie in Derekk Parfit vertritt z.b.) verschiedenen subjektivistischen Theorien über Gründe gegenüberstellen.

Wenn ich mich nicht komplett irre, endet dein letzter Beitrag auch genau da.




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Jörn Budesheim
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So 19. Apr 2020, 06:17

Du hast dir eine Reihe von Szenarien ausgedacht, bei denen wir nicht alle Tatsachen kennen und wir nicht alle Folgen unserer Handlungen abschätzen können. Ich schätze mal, dass wir unentwegt in Situationen der größeren oder kleineren Unsicherheit handeln müssen. Das zweifle ich natürlich nicht an. Mir ist nur nicht klar, warum du so sehr auf diesen Punkt insistierst und was Du damit zeigen willst?!

Es geht dir wohl um folgendes, das ist schließlich dein Resümee: "Denn nur unter dem Aspekt der Frage: Was ist gut, was will ich erreichen, lässt sie anhand der Tatsache sinnvoll ermitteln, wofür sie spricht. Nicht die Tatsache, spricht für etwas aus sich selbst, sondern weil in ihr unsere Fragen an sie widerhallen. Das, was aus den Tatsachen für etwas spricht, das ist die Stimme der Vernunft."

Aber mir ist nicht wirklich klar, was das heißt, nach meinem Gefühl schwankt es irgendwie zwischen Subjektivismus und Objektivismus. Außerdem begreife ich auch nicht wirklich den Zusammenhang mit der Herleitung aus der Ungewissheit.

Der Objektivismus rechnet uns als Subjekte ja nicht aus der Welt heraus! Genuss und Schmerz kommt darin unverbrüchlich vor. Die Tatsache, dass die Person, die verletzt auf dem Boden liegt, Schmerzen hat und leidet, liefert den Grund ihr zu helfen.




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Alethos
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So 19. Apr 2020, 08:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Apr 2020, 06:17
Du hast dir eine Reihe von Szenarien ausgedacht, bei denen wir nicht alle Tatsachen kennen und wir nicht alle Folgen unserer Handlungen abschätzen können. Ich schätze mal, dass wir unentwegt in Situationen der größeren oder kleineren Unsicherheit handeln müssen. Das zweifle ich natürlich nicht an. Mir ist nur nicht klar, warum du so sehr auf diesen Punkt insistierst und was Du damit zeigen willst?!
Wir können irren, weil wir nicht alle Tatsachen kennen, das ist der eine Punkt, mit dem du, wie es scheint, einverstanden bist.

Aber ich wollte auf etwas Weiteres hinaus: Wenn wir uns nicht fragen, was der Zweck unserer Handlungen sein soll, dann kann die Tatsache auch nicht für etwas sprechen: Wenn ich meine Familie retten will, dann spricht die Tatsache dafür, dem Verletzten nicht zu helfen. Wenn ich den Mann oder die Welt retten will, dann spricht die Tatsache, dass er dort liegt, dafür, ihm aufzuhelfen.

Wir haben also nicht einfach bloss Unkenntnis darüber, wofür die Tatsachen wegen ihrer Komplexität sprechen: Sie spricht für so manches, auch Widersprechendes, je nach Ziel, das wir mit unseren Handlungen verfolgen wollen.

Ich beharre so auf diesen Punkt, weil ich dem Eindruck entgegentreten will, dass die Tatsache eindeutig für etwas aus sich selbst heraus spricht. Die inneren Einstellungen gehören zur Relationalität, in die die Tatsachen eingebettet sind, wie der Umstand, dass er verletzt oder ein Mörder ist. Und das ist deshalb kein Subjektivismus, weil die Vernunft (also das Vermögen nach Grundsätzen zu handeln) kein subjektives Vermögen ist.



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Alethos hat geschrieben :
So 19. Apr 2020, 08:50
Ich beharre so auf diesen Punkt, weil ich dem Eindruck entgegentreten will, dass die Tatsache eindeutig für etwas aus sich selbst heraus spricht
Dass Karl dieses Eis schmeckt, spricht dafür, dass er es sich gönnt. Und zwar spricht es aus sich heraus und auch eindeutig dafür. Andere Tatsachen können hingegen dagegen sprechen. Vielleicht muss er abnehmen, vielleicht ist er Diabetiker ... was auch immer. Dennoch liefert der Geschmack des Eis' ihm einen Grund, es zu essen. Dass er letztlich anders und zurecht anders entscheidet, ändert daran ja nichts.

Mit anderen Worten an dieser Stelle kommen wir nicht zusammen :)




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Let's agree to differ
😎




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Stefanie
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So 19. Apr 2020, 19:50

Mir ist nicht klar, was in dem Thread mit Vernunft gemeint ist.
Aus Tatsachen folgen Gründe oder auch nur ein Grund. Oder mehrer. O.k.
Wenn ich das richtig verstehe, ist dabei hier die Vernunft diejenige, die das feststellt. Also das Tatsachen Gründe liefern.
Die Vernunft ist das vernehmen, erfassen, ergreifen desjenigen, wofür die Tatsachen sprechen. Also den Grund feststellen. Die Tatsachen liefert einen Grund, dass stellt die Vernunft fest. Mehr aber doch nicht.
Dann ist es aber zu Ende mit der Vernunft, so wie ich sie hier verstanden habe.
Der eigentlich Schritt, ob ein Grund ausreicht, und/oder die Abwägung darüber, ob es vernünftig ist, dem Grund zu folgen, findet zumindest hier nicht mittels dieser Vernunft statt.
Sowohl bei den Fingerabdrücken wie auch bei dem Alkohol, reicht es doch nicht aus, um aus einer Tatsache einen Grund zu erfassen. Ob es ein ausreichender Grund ist (Fingerabdruck) oder ob es "vernünftig" ist, Alkohol zu trinken, wer ist denn dafür zuständig? Die Vernunft, oder? Und welche Vernunft?
Oder was ist dafür zuständig?

Was ist hiermit gemeint Die Vernunft ist das vernehmen, erfassen, ergreifen desjenigen, wofür die Tatsachen sprechen.



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Apr 2020, 08:58
Alethos hat geschrieben :
So 19. Apr 2020, 08:50
Ich beharre so auf diesen Punkt, weil ich dem Eindruck entgegentreten will, dass die Tatsache eindeutig für etwas aus sich selbst heraus spricht
Dass Karl dieses Eis schmeckt, spricht dafür, dass er es sich gönnt. Und zwar spricht es aus sich heraus und auch eindeutig dafür. Andere Tatsachen können hingegen dagegen sprechen. Vielleicht muss er abnehmen, vielleicht ist er Diabetiker ... was auch immer. Dennoch liefert der Geschmack des Eis' ihm einen Grund, es zu essen. Dass er letztlich anders und zurecht anders entscheidet, ändert daran ja nichts.

Mit anderen Worten an dieser Stelle kommen wir nicht zusammen :)
Was mir widerstrebt, nur leicht, ist die Vorstellung, dass wir Tatsachen so isoliert betrachten sollen können. Die Tatsache, dass Karl Eis mag, spricht im Lichte anderer Tatsachen dafür, dass er den Verzicht auf Eis vielleicht bedauert. Aber es gibt doch nicht hier eine Fürsprache der Tatsache allein aus der Optik der singulären Tatsache. Ich wüsste nicht, wie das für die Vernunft praktikabel sein soll, wenn sie sich die Wirklichkeit so denken wollte, als bestünde sie aus einzelnen Tatsachen.



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Mo 20. Apr 2020, 05:51

Wenn es hieße, Wahrnehmungen bringen uns in Kontakt mit Tatsachen/Gegenständen, würde man dann vermuten, dass isolierte Tatsachen/Gegenstände gemeint sind? Würde man dann einwenden, dass wir ja nicht nur einzelne Gegenstände wahrnehmen, sondern auch ihre Verhältnisse, Beziehungen und Bedeutungen für uns? Würde man vermuten, dass diese Aussage nicht umfasst, dass wir wahrnehmen, dass etwas im Vordergrund steht, dass anderes am Rande ist, dass manche Dinge größer, andere kleiner sind? Würden wir darüber hinaus vermuten, dass gemeint ist, dass der Raum des Hörens, der Raum des Sehens der Raum des Riechens und so weiter ganz unverbunden nebeneinander stünden und nichts miteinander zu tun hätten? Müssten wir glauben, dass gemeint ist, dass wir uns in unseren Wahrnehmungen niemals irren können? Würden wir weiter annehmen, dass gemeint ist, dass die Wahrnehmungen nichts mit dem Leben der Person zu tun haben? Müssten wir annehmen, dass gemeint ist, dass Wahrnehmung keineswegs selbst Gegenstand von Wahrnehmungen werden können?




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