Leser fragen, Philosoph*innen antworten

Das ist die Rubrik für die ewige Wiederkunft des Gleichen: Ohrwürmer, Humor und Anekdoten, Buchempfehlungen etc. Einfach für alles, was gut ist und immer wieder kommt.
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Alethos
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Sa 30. Sep 2017, 21:04

Kann man denn sagen, dass die Lüge dort geboten ist, wo sie dem Gegenüber mehr hilft als schadet?

Und Sokrates würde einwenden: Die Wahrheit sei immer geboten, egal wie schmerzhaft. Aber dieses Prinzip scheint mir auch zu starr. Meiner 5-jährigen Tochter lasse ich lieber die Illusion, es gebe einen Weihnachtsmann oder Elfen, weil es ihr dabei besser geht als umgekehrt. Sie braucht die Lüge im Moment mehr als die unbedingte Wahrheit und nichts als die Wahrheit.



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novon
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So 1. Okt 2017, 00:00

Befremdet mich irgendwie alles. Statt kreativ mit der jeweiligen Situation umzugehen, wird gefordert zu legitimieren Lügen anzubringen... Für mich ein Nogo. Niemand sollte mich je belügen.




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Jörn Budesheim
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So 1. Okt 2017, 08:03

Alethos hat geschrieben :
Sa 30. Sep 2017, 21:04
Kann man denn sagen, dass die Lüge dort geboten ist, wo sie dem Gegenüber mehr hilft als schadet?

Und Sokrates würde einwenden: Die Wahrheit sei immer geboten, egal wie schmerzhaft. Aber dieses Prinzip scheint mir auch zu starr. Meiner 5-jährigen Tochter lasse ich lieber die Illusion, es gebe einen Weihnachtsmann oder Elfen, weil es ihr dabei besser geht als umgekehrt. Sie braucht die Lüge im Moment mehr als die unbedingte Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Geschichten sind eigentlich keine Lügen, finde ich. Für Kinder ist der Übergang zwischen Fantasie-Wirklichkeiten und vielen anderen Wirklichkeiten oft fließend. Irgendwelche kategorischen Einstellungen, also bedingungslose Regeln scheinen mir hier daher nicht besonders angemessen zu sein. Deswegen unterstütze ich hier Alethos und nicht Sokrates :)




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novon
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So 1. Okt 2017, 23:23

Alethos hat geschrieben :
Sa 30. Sep 2017, 21:04
Meiner 5-jährigen Tochter lasse ich lieber die Illusion, es gebe einen Weihnachtsmann oder Elfen, weil es ihr dabei besser geht als umgekehrt.
Und dazu müsstest du lügen...? Don't think so. (s.o.)




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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 14:59

Erste Frage:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 15:21
[*]Wenn der Nachbarin, die stets rassistische Bemerkungen macht, die Einkäufe herunterfallen, muss man ihr helfen?
Man muss sich generell nicht für Leute aus dem Fenster lehnen, die einem aus guten Gründen unsympathisch sind. Das heißt aber nicht, dass es nicht trotzdem im Einzelfall eine gute Idee sein kann.

(Ethik der Entscheidung vs. Ethik der Verpflichtung.)

Zweite Frage:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 15:21
[*]Politiker sagen oft, ihre Entscheidung sei alternativlos. Aber das würde ja bedeuten, dass sie gar keine Spielräume haben?
Die Behauptung der Alternativlosigkeit ist eigentlich eine Bankrotterklärung und eine Aufforderung zur Abwahl. Wenn der Politiker die Entscheidung nicht anders treffen könnte, dann ist er ersetzbar. Es gibt also keinen Grund für seinen Arbeitgeber (d.h. die Wähler), die Stelle nicht mit jemand anderem zu besetzen. In Unternehmen wird das genauso gehandhabt. Entweder ein Politiker ist personell unersetzbar, dann ist seine Entscheidung nicht eigentlich alternativlos. Oder sie kann tatsächlich nicht anders getroffen werden, dann könnte man genausogut auch Forrest Gump oder dem Penner um die Ecke den Posten geben.

Dritte Frage:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 15:21
[*]Ist es in Ordnung, Kinder zu belügen, wenn sie nichts davon bemerken?
Wieso sollte es einen Unterschied machen, ob man es mit Kindern oder mit Erwachsenen zu tun hat?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 05:51
Wie sieht es aus mit dem Weihnachtsmann? Den Kindern hier etwas vorzuspielen, ist das überhaupt eine Lüge?
Als Atheist empfinde ich eine recht grundsätzliche Abneigung dagegen, Kinder über so etwas anzulügen. Allerdings handelt es sich hierbei eigentlich eher um einen sozialen Mythos als um eine direkte Lüge. Slavoj Žižek hat dazu mal eine interessante Bemerkung gemacht. In vielen Familien ist es so, dass die Eltern den Kindern vorspielen, dass es den Weihnachtsmann gibt, weil sie glauben, dass das für die Kinder zur Weihnachtsstimmung dazu gehört, und gleichzeitig die Kinder den Eltern vorspielen, dass sie noch an ihn glauben, obwohl sie es nicht mehr tun, weil sie glauben, dass die Eltern das von ihnen erwarten (nebst der Implikationen, die sich daraus womöglich für den Umfang der Geschenke ergeben). Ich erinnere mich noch gut, dass das in meiner Familie in der Tat eine ganze Zeitlang so ähnlich ablief. Die Frage ist hier, für wessen Blick die Illusion überhaupt aufrecht erhalten wird. Žižek als Lacanianer antwortet: für den Blick des großen Anderen - also letztlich für eine Entität, die genauso fiktiv ist wie der Weihnachtsmann selbst.
Alethos hat geschrieben :
Sa 30. Sep 2017, 21:04
Meiner 5-jährigen Tochter lasse ich lieber die Illusion, es gebe einen Weihnachtsmann oder Elfen, weil es ihr dabei besser geht als umgekehrt.
Wodurch kommst du zu der Überzeugung, dass es deiner Tochter damit besser geht? Unmittelbar scheint das ja auf den ersten Blick noch halbwegs einsichtig, aber langfristig?

Vierte Frage:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 15:21
[*]Warum ist der Wolf in Märchen immer der Böse?
Weil in den Verhältnissen der frühen Neuzeit, als diese Geschichten entstanden, der Wolf ein recht unmittelbarer Konkurrent des Menschen und Fressfeind vieler seiner Nutztiere war.

Fünfte Frage:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 15:21
[*]Ich fühle mich durch die offenherzige Weise, in der sich viele kleiden, oft geradezu belästigt. Gibt es dafür eine philosophische Rechtfertigung?
Eine Rechtfertigung für Gefühle ist recht generell witzlos. Es ist ja nicht so, als hättest du freie Gewalt darüber, wie du dich fühlst. Eine Rechtfertigung brauchst du erst, wenn du daraus Ansprüche ableiten willst.



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Jörn Budesheim
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Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 14:59
Wieso sollte es einen Unterschied machen, ob man es mit Kindern oder mit Erwachsenen zu tun hat?
Bei dem, was wir sagen, spielen meiner Ansicht nach immer diverse Aspekte eine Rolle. Hier sind drei davon: Was wir sagen, sollte wahr sein, dem Gegenüber/der Situation ethisch angemessen sein und natürlich auch aufrichtiger Ausdruck unserer Selbst. Diese Aspekte können in Konflikt zueinander geraten. Und es ist nicht einzusehen, finde ich, dass dabei die Wahrheit immer siegen muss :-) Man kann in Bezug auf die Schönheit der Herzensdame auch mal etwas übertreiben, wenn es den eigenen Gefühlen angemesseneren Ausdruck verleiht ...

Diese "Sollensansprüche" bestehen der Form nach im Grunde immer, egal ob man mit Erwachsenen oder Kindern zu tun hat. Nur ist gegenüber den eigenen Kindern die Verantwortung, die man hat, in der Regel eine andere und sie ist tiefer verankert als gegenüber einem zufälligen Passanten in der Fußgängerzone mit dem man einen kurzen Plausch hat. Und das kann dazu führen, dass man die Kinder auch mal vor der Wahrheit schützt.




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Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 14:59
Eine Rechtfertigung für Gefühle ist recht generell witzlos. Es ist ja nicht so, als hättest du freie Gewalt darüber, wie du dich fühlst. Eine Rechtfertigung brauchst du erst, wenn du daraus Ansprüche ableiten willst.
Man hat durchaus Einfluss auf die eigenen Gefühle, denke ich. Wenn man erkennt, dass sie unbegründet sind, gar irrational sind, kann man versuchen, sich zu ändern - das ist eine der vielfältigen Erscheinungsweisen des Kampfes des Herrn gegen den Knecht, wenn auch eine "intrasubjektive" :-)




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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 16:16

Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 14:59
Zweite Frage:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 15:21
[*]Politiker sagen oft, ihre Entscheidung sei alternativlos. Aber das würde ja bedeuten, dass sie gar keine Spielräume haben?
Die Behauptung der Alternativlosigkeit ist eigentlich eine Bankrotterklärung und eine Aufforderung zur Abwahl. Wenn der Politiker die Entscheidung nicht anders treffen könnte, dann ist er ersetzbar. Es gibt also keinen Grund für seinen Arbeitgeber (d.h. die Wähler), die Stelle nicht mit jemand anderem zu besetzen. In Unternehmen wird das genauso gehandhabt. Entweder ein Politiker ist personell unersetzbar, dann ist seine Entscheidung nicht eigentlich alternativlos. Oder sie kann tatsächlich nicht anders getroffen werden, dann könnte man genausogut auch Forrest Gump oder dem Penner um die Ecke den Posten geben.
Du bist nach Elim Garak schon unser zweiter SciFi-Charakter :-) John Sheridan ist der Kommandant von Babylon 5, lese ich gerade bei Google. Leider kenne ich die Serie nicht. James T. Kirk (den ich natürlich gut kenne) würde wahrscheinlich entgegnen, dass man immer eine Alternative hat :-) Zu sagen, dass eine Entscheidung alternativlos ist, kann aber auch einfach heißen, dass man meint, sie die einzig richtige Entscheidung. So was mag nicht oft vorkommen, aber es kommt vor :-)




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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 17:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 15:50
Und das kann dazu führen, dass man die Kinder auch mal vor der Wahrheit schützt.
Ich kann mir mit etwas Anstrengung ja durchaus Situationen vorstellen, in denen das Sinn macht - aber beim Weihnachtsmann? "Schutz" impliziert Bedrohung. Inwiefern setzt denn die Wahrheit über den Weihnachtsmann die Kinder einer Gefahr aus. Selbst das Argument, dass das eine Gefahr für ihre seelische Gesundheit sein könnte, finde ich etwas an den Haaren herbeigezogen. Erstens glaube ich nicht, dass Kinder im Alter von 5-8 im Normalfall derart emotional instabil sind - Ausnahmen mag es natürlich geben. Zweitens lernen sie früher oder später ja doch die Wahrheit, und wenn sie es nicht von den Eltern erfahren, kommt noch das Gefühl des Vertrauensbruchs als zusätzlicher psychologischer Faktor hinzu. Es mag sein, dass das vom Einzelfall abhängt, aber im Normalfall finde ich das sehr konstruiert.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 16:01
Man hat durchaus Einfluss auf die eigenen Gefühle, denke ich.
Indirekt, ja sicher. Das ist aber eigentlich nicht der Punkt. Eine Verpflichtung, Gefühle zu ändern, erwächst daraus ja nicht und wäre selbst wieder begründungsbedürftig.

Die Sache ist doch so: Nehmen wir an, du hast die von dir dargestellte Abneigung. Die gesellschaftliche und kulturelle Situation lässt aber nicht zu, dass du daraus verbindliche Vorschriften für andere ableitest. Du hast mehrere Optionen: Entweder du kannst auf die eine oder andere Weise versuchen, das zu ändern. Oder du kannst versuchen, dich möglichst von Menschen, die sich so kleiden, fernzuhalten. Oder du kannst eben versuchen, deine Gefühle zu ändern, um mit der Situation besser klarzukommen. Eine Verpflichtung für dich, diese dritte Option zu wählen, wäre selbst wieder begründungsbedürftig.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 16:16
James T. Kirk (den ich natürlich gut kenne) würde wahrscheinlich entgegnen, dass man immer eine Alternative hat :-)
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Sheridan ähnliches sagen würde. Er ist fast noch mehr als Kirk ein Meister des unorthodoxen Vorgehens. Mein Punkt war aber eher eine immanente Kritik der Behauptung der Alternativlosigkeit.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 16:16
Zu sagen, dass eine Entscheidung alternativlos ist, kann aber auch einfach heißen, dass man meint, sie die einzig richtige Entscheidung. So was mag nicht oft vorkommen, aber es kommt vor :-)
Wenn Politiker das damit meinen, dann sollen sie es eben auch genau so sagen. Nur wären dann sie in der Pflicht, das auch zu begründen. Indem sie das Schlagwort "alternativlos" hinwerfen, verschieben sie die Belegpflicht auf ihre Kritiker und entbinden sich selbst gleichzeitig von der Pflicht, darzulegen, was genau sie zu der Entscheidung gebracht hat. Das ganze ist ein rhetorischer Trick, mehr nicht.
Zuletzt geändert von Tarvoc am Di 3. Okt 2017, 17:39, insgesamt 1-mal geändert.



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Stefanie
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Di 3. Okt 2017, 17:38

Tarvoc: Man muss sich generell nicht für Leute aus dem Fenster lehnen, die einem aus guten Gründen unsympathisch sind. Das heißt aber nicht, dass es nicht trotzdem im Einzelfall eine gute Idee sein kann.
Müssen nicht, aber können. Ich nehme nicht die Auffassung desjenigen an, dem ich helfe. Ich gehe davon, dass zumindest der Einzelfall dann vorliegt, wenn es nicht um davonrollenden Lebensmittel geht, sondern um Gefahr für das Leben.



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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 17:41

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 17:38
Tarvoc: Man muss sich generell nicht für Leute aus dem Fenster lehnen, die einem aus guten Gründen unsympathisch sind. Das heißt aber nicht, dass es nicht trotzdem im Einzelfall eine gute Idee sein kann.
Müssen nicht, aber können. Ich nehme nicht die Auffassung desjenigen an, dem ich helfe. Ich gehe davon, dass zumindest der Einzelfall dann vorliegt, wenn es nicht um davonrollenden Lebensmittel geht, sondern um Gefahr für das Leben.
Über eine Pflicht zur Hilfeleistung in einem lebensbedrohenden Notfall müssen wir eigentlich nicht moralisch streiten. Das ist rechtlich vorgeschrieben und die Unterlassung ist strafbar (§ 323c StGB). Geschriebenes Recht gibt es u.A. gerade dafür, dass man nicht in jedem Einzelfall alles neu moralisch verhandeln muss. Einen erneuten moralischen Diskurs darüber bräuchte es also eigentlich erst, wenn jemand die Abschaffung dieser Strafbarkeit fordern würde. Mir persönlich fiele das allerdings nie ein.



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Stefanie
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Di 3. Okt 2017, 17:49

Ich formuliere es mal etwas salopper: Nur weil jemand ein Ar... ist, muss ich nicht auch Ar... sein. Mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn ich jemanden bei was alltäglichen helfe, von dem ich weiß, er oder sie ist ein Rassist. Ich bin nicht perfekt, und es gelingt mir nicht immer, aber daran arbeiten kann ich ja.



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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 17:55

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 17:49
Ich formuliere es mal etwas salopper: Nur weil jemand ein Ar... ist, muss ich nicht auch Ar... sein. Mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn ich jemanden bei was alltäglichen helfe, von dem ich weiß, er oder sie ist ein Rassist. Ich bin nicht perfekt, und es gelingt mir nicht immer, aber daran arbeiten kann ich ja.
Wie ich schon sagte: Nur weil man nicht muss, heißt das ja nicht, dass es nicht trotzdem eine gute Idee sein kann. Das ist eben der Unterschied zwischen Verpflichtungs- und Entscheidungsethik. Wenn man sich verpflichtet fühlt, kann das natürlich ein möglicher Grund dafür sein, sich so zu entscheiden. Nur folgt aus dem Gefühl eben nicht, dass man ganz allgemein eine Verpflichtung dazu hat.

Bezüglich der Frage nach einer tatsächlichen Verpflichtung stellt sich z.B. die Frage, ob die Frau in einer umgekehrten Situation unabhängig von Äußerlichkeiten (wie z.B. der "Rasse") Hilfe leisten würde. Wenn nicht, dann kann sie auch nicht rational plausibel einfordern, dass andere die Verpflichtung hätten, ihr in dieser Situation unabhängig von Äußerlichkeiten (wie z.B. ihrem Rassismus) zu helfen. Das ist letztlich eine Anwendung des Grundsatzes der Konsistenz. (Kurz gesagt: Ich kann keine moralischen Verpflichtungen einfordern, die ich in umgekehrter Situation nicht auch für mich selbst als bindend anerkennen würde.)



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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 18:07

Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 17:35
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 15:50
Und das kann dazu führen, dass man die Kinder auch mal vor der Wahrheit schützt.
Ich kann mir mit etwas Anstrengung ja durchaus Situationen vorstellen, in denen das Sinn macht - aber beim Weihnachtsmann?
Nee, beim Weihnachtsmann ergibt das keinen Sinn :-)

Das Beispiel sollte nur zeigen, dass es überhaupt Situationen geben kann, wo man auch mal kreativ mit der Wahrheit umgeht, weiter oben gab es das Beispiel mit der verunglückten Katze. Das Beispiel sollte aber nicht sagen, dass diese Schutz das einzige Muster ist nach dem man entscheidet kann und soll.

Zum Mythos: Dass die Kinder das Spiel irgendwann durchschauen und ihrerseits ein Spiel draus machen, wie du es mit Verweis auf Žižek erzählt hast, glaube ich sofort. Ich hab das in einem anderen Fall sogar selbst erlebt :-) Spricht das dafür oder dagegen, dass man Kinder an dem "sozialen Mythos" teilhaben lässt?




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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 18:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 18:07
Das Beispiel sollte nur zeigen, dass es überhaupt Situationen geben kann, wo man auch mal kreativ mit der Wahrheit umgeht, weiter oben gab es das Beispiel mit der verunglückten Katze.
Wenn ich das mit der verunglückten Katze richtig verstanden hatte, ging es ja darum, dass man zuerst eine Zeitlang lügt, weil man sich noch nicht im Klaren darüber ist, wie man die Wahrheit am besten kommuniziert. Der große Unterschied ist hier ja, dass die Täuschungsabsicht buchstäblich völlig fehlt, weil man von Anfang an vorhatte, die Wahrheit zu sagen, und das nur zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht konnte.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 18:07
Zum Mythos: Dass die Kinder das Spiel irgendwann durchschauen und ihrerseits ein Spiel draus machen, wie du es mit Verweis auf Žižek erzählt hast, glaube ich sofort. Ich hab das in einem anderen Fall sogar selbst erlebt :-) Spricht das dafür oder dagegen, dass man Kinder an dem "sozialen Mythos" teilhaben lässt?
Nein, aber es stellt sich die Frage, wie man das so konstruiert, dass es nicht die Lüge reproduziert. Žižek wirft ja diesbezüglich die interessante Frage auf, für wen eigentlich dieses Spiel inszeniert wird. Wie es so seine Art ist, setzt er das zum stalinistischen Totalitarismus in Beziehung: Ich weiss, dass die Parteidoktrin eine Lüge ist, der Parteifunktionär, mit dem ich rede, weiss es selbstverständlich auch, aber wir reproduzieren sie trotzdem. Für wen wird sie also reproduziert? Wir erfinden (womöglich unbewusst) eine weitere fiktive Person, eben Lacans "großen Anderen", für den wir die Charade inszenieren. Und die Frage ist, ob man mit dem Mythos auch anders umgehen kann.



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Di 3. Okt 2017, 18:37

Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 18:25
Der große Unterschied ist hier ja, dass die Täuschungsabsicht buchstäblich völlig fehlt, weil man von Anfang an vorhatte, die Wahrheit zu sagen, und das nur zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht konnte.
Ja, fast. Wir hätten natürlich auch sofort damit rausrücken können, wir hätten also gekonnt. Statt dessen haben wir einen günstigeren Moment abgewartet und uns vor allem überlegt, wie wir es am Besten machen. Ich finde das nach wie vor vollkommen okay.

Das mit der Täuschung ist so eine Sache. Lügen heißt nach meinem Dafürhalten ja nicht einfach die Unwahrheit sagen, darin dürfte vermutlich Einigkeit herrschen. Es heißt wohl eher etwas in der Art: Der Lügner stellt sich mit der Absicht zu täuschen als jemand dar, der X glaubt, während er eigentlich U glaubt/für wahr hält. Aber ist die "Erzählung eines Sozialen Mythos" einfach bloß eine Täuschung? Da knirscht es doch begrifflich, finde ich. Täuschung hat eine negative Konnotation, aber bei der Weihnachtsmannstory liegt das doch anders, oder?

Gut, dass hier keine mitliest, man würde uns wohl sonst für etwas seltsam halten :-))




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Di 3. Okt 2017, 18:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 18:37
Aber ist die "Erzählung eines Sozialen Mythos" einfach bloß eine Täuschung? Da knirscht es doch begrifflich, finde ich. Täuschung hat eine negative Konnotation, aber bei der Weihnachtsmannstory liegt das doch anders, oder?
Ich hab' ja selbst den Mythos von der bloßen Lüge unterschieden. Eine bewusst und willentlich perpetuierte Falschheit ist die Geschichte von der Existenz des Weihnachtsmanns halt trotzdem. Wir gehen damit hier so locker um, weil es sich beim Weihnachtsmann um ein Beispiel handelt, das relativ harmlos ist. Nicht immer sind die Auswirkungen der Perpetuierung religiöser Mythen so harmlos. Unter Atheisten gibt es auch das Argument, dass die Perpetuierung des Weihnachtsmann-Mythos die Kinder gewissermaßen zu irrationalem Denken erzieht. In anderen Zusammenhängen kann das sehr viel unschönere Auswirkungen haben. Aber das alles geht im Grunde genommen an meinem Kerngedanken etwas vorbei. Ich zitiere das nochmal.
Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 18:25
Žižek wirft ja diesbezüglich die interessante Frage auf, für wen eigentlich dieses Spiel inszeniert wird. Wie es so seine Art ist, setzt er das zum stalinistischen Totalitarismus in Beziehung: Ich weiss, dass die Parteidoktrin eine Lüge ist, der Parteifunktionär, mit dem ich rede, weiss es selbstverständlich auch, aber wir reproduzieren sie trotzdem. Für wen wird sie also reproduziert? Wir erfinden (womöglich unbewusst) eine weitere fiktive Person, eben Lacans "großen Anderen", für den wir die Charade inszenieren. Und die Frage ist, ob man mit dem Mythos auch anders umgehen kann.
Das gibt dem Argument nochmal eine etwas andere Wendung. Ich finde, man sollte das nicht ignorieren.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 18:37
Gut, dass hier keine mitliest, man würde uns wohl sonst für etwas seltsam halten :-))
Das hat mich noch nie gekümmert. :mrgreen:



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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 18:47

Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 18:45
Ich hab' ja selbst den Mythos von der bloßen Lüge unterschieden.
Yepp. Ich fand die Formulierung mit dem sozialen Mythos (Žižek?) nicht schlecht.




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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 18:52

Ich hab noch mal die exakte Frage nachgeschaut:

"Ist es in Ordnung, Kinder zu belügen, wenn sie nichts davon bemerken?"

Jetzt stutze ich. Wenn der Frager nämlich meint, dass das "nicht bemerken" schon als Rechtfertigung (oder was auch immer) reicht, wäre er natürlich total auf dem Holzweg. Ich will noch mal klar stellen: Man sollte Kinder nicht so mirnichtsdirnichts belügen. Das meine ich auch. Ich meine nur einschränkend, dass es immer irgendwie geartete Ausnahmen geben kann, wo andere Dinge einfach mehr wiegen als das "Lügenverbot".




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Alethos
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Di 3. Okt 2017, 19:21

Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 14:59
Alethos hat geschrieben :
Sa 30. Sep 2017, 21:04
Meiner 5-jährigen Tochter lasse ich lieber die Illusion, es gebe einen Weihnachtsmann oder Elfen, weil es ihr dabei besser geht als umgekehrt.
Wodurch kommst du zu der Überzeugung, dass es deiner Tochter damit besser geht? Unmittelbar scheint das ja auf den ersten Blick noch halbwegs einsichtig, aber langfristig?
Du hast deinen Zweifel in Frageform angebracht, das ist mir grundsätzlich sympathisch. :) Es bietet mir zudem die Möglichkeit, mit einer Gegenfrage zu antworten: Wenn es kurzfristig halbwegs einsichtig ist, dann warum auch nicht langfristig? Ich frage deshalb, weil es sich doch früher oder später immer herausstellt, dass der Weihnachtsmann nur eine sanfte Lüge war. Und ich kenne niemanden, der deswegen in eine tiefere Lebenskrise gestürzt wäre. Meistens ist das Kind dann grösser, etwas reifer schon und hat eine gewisse Stabilität erreicht. Hingegen wenn ich meine 5-jährige Tochter aus einer sie tröstenden Illusion hole, dann fühlt sie sich traurig, versteht unter Umständen die Welt nicht mehr, vieles gerät ins Wanken. Vielleicht geriete es weniger ins Wanken, wenn sie in anderen Bereichen über mehr Selbstbewusstsein und mehr emotionalen Halt verfügte, z.B. über die Gewissheit, dass es den bösen Wolf nicht gibt, der kleine Kinder frisst. :) Es verträgt sich in einem gesicherteren Weltbild besser, ein vielleicht tragendes Element (zu dem der Weihnachtsmann gehören kann) zu entfernen, weil die Selbstgrundlagen stabiler sind.

Man kann einwenden und sagen: Deine Tochter wird aber nie stark werden, wenn du sie nicht an die Härte des Lebens heranführst. Das ist natürlich ein Argument, dem man nicht einfach mit einer entgegengesetzten Erziehungshaltung begegnen kann. Aber man kann vielleicht am oben angeführten Gedanken anknüpfen und sagen, dass eine Persönlichkeit auch deshalb Stärke entwickelt, weil sie in Kinderjahren den Raum hatte, sich in alle möglichen Richtungen, auch in phantastische, zu entfalten. Es gibt daher auch so etwas wie den (nie eindeutig) richtigen Moment für alles, auch den Moment um zu warten, bis die vielleicht notwendigen Krücken abgelegt werden können.



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