Leser fragen, Philosoph*innen antworten

Das ist die Rubrik für die ewige Wiederkunft des Gleichen: Ohrwürmer, Humor und Anekdoten, Buchempfehlungen etc. Einfach für alles, was gut ist und immer wieder kommt.
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Stefanie
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Di 3. Okt 2017, 19:30

Bezüglich der Frage nach einer tatsächlichen Verpflichtung stellt sich z.B. die Frage, ob die Frau in einer umgekehrten Situation unabhängig von Äußerlichkeiten (wie z.B. der "Rasse") Hilfe leisten würde. Wenn nicht, dann kann sie auch nicht rational plausibel einfordern, dass andere die Verpflichtung hätten, ihr in dieser Situation unabhängig von Äußerlichkeiten (wie z.B. ihrem Rassismus) zu helfen. Das ist letztlich eine Anwendung des Grundsatzes der Konsistenz. (Kurz gesagt: Ich kann keine moralischen Verpflichtungen einfordern, die ich in umgekehrter Situation nicht auch für mich selbst als bindend anerkennen würde.)
Du hast selber die unterlassene Hilfeleistung angesprochen, und geschrieben: "Geschriebenes Recht gibt es u.A. gerade dafür, dass man nicht in jedem Einzelfall alles neu moralisch verhandeln muss."
Die unterlassen Hilfeleistung ist strafbar völlig unabhängig davon, ob derjenige, der in Not ist, auch helfen würde oder nicht. Der Mörder kann einfordern, selber nicht ermordet zu werden, der Dieb kann einfordern, selber nicht bestohlen zu werden.
Deine Ansicht klingt doch sehr danach, dass nur derjenige Hilfe bekommt, der sie auch verdient. Sei es, weil der Hilfesuchende ein "böser" Mensch ist, oder anderen nicht das zugesteht, was er für sich von anderen fordert.
Das widerspricht doch - wenn ich mich nicht irre- doch ziemlich der Ansicht von Kant. Dem zufolge es doch in etwa so heißt: Handel nach dem Grundsatz, von dem Du willst, dass er allgemein gültig wird. Es heißt nicht: Handel nach dem Grundsatz, von dem Du willst, dass andere diesen Grundsatz auch verinnerlicht haben.

Davon abgesehen, ist so eine Theorie und die Umsetzung dem menschlichen Zusammenleben nicht gerade förderlich.



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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 19:49

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 19:30
Du hast selber die unterlassene Hilfeleistung angesprochen, und geschrieben: "Geschriebenes Recht gibt es u.A. gerade dafür, dass man nicht in jedem Einzelfall alles neu moralisch verhandeln muss."
Ja, das betrifft rechtlich relevante Fälle. Darum ging es aber an der Stelle gar nicht mehr, denn meine Bemerkung bezog sich auf diese Äußerung von dir:
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 17:49
Ich formuliere es mal etwas salopper: Nur weil jemand ein Ar... ist, muss ich nicht auch Ar... sein. Mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn ich jemanden bei was alltäglichen helfe, von dem ich weiß, er oder sie ist ein Rassist.
Da wird ja klar, dass es eben nicht um den Rechtsfall der unterlassenen Hilfeleistung geht, sondern um Fälle alltäglicher Hilfe außerhalb der rechtlichen Relevanz.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 19:30
Die unterlassen Hilfeleistung ist strafbar völlig unabhängig davon, ob derjenige, der in Not ist, auch helfen würde oder nicht. Der Mörder kann einfordern, selber nicht ermordet zu werden, der Dieb kann einfordern, selber nicht bestohlen zu werden.
Dir ist klar, dass ein Recht im juristischen Sinne etwas anderes ist als ein Recht im moralischen Sinne? Wenn jemand bereits gemordet hat und etwa meine Familie bedroht, dann kann er rechtlich einfordern, dass ich mich nicht mit präventiver Gewalt zur Wehr setze, sondern stattdessen die Polizei und die rechtlichen Autoritäten einschalte. Eine entsprechende moralische Forderung ist aber schon deutlich schwieriger zu begründen. Wenn wir uns beispielsweise eine Situation vorstellen, in der kein funktionierendes Rechtssystem und dementsprechend z.B. auch keine Polizei gegeben ist, so ist es keineswegs ohne weiteres klar, dass jemand, der bereits gemordet hat und nun meine Familie bedroht, ein moralisches Recht darauf hat, dass ich mich nicht mit präventiver Gewalt gegen ihn zur Wehr setze. Ich sage nicht, dass man nicht die These vertreten kann, dass es ein solches moralisches Recht gibt, wenn man denn Begründungen dafür anführen kann - aber ohne Weiteres klar ist das keineswegs.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 19:30
Deine Ansicht klingt doch sehr danach, dass nur derjenige Hilfe bekommt, der sie auch verdient.
Nein, es ging überhaupt nicht darum, ob jemand in einer Alltagssituation Hilfe bekommt, sondern darum, ob er sie einfordern kann. Und das von mir angeführte Kriterium war nicht das individuelle Verdienst der jeweiligen Person, sondern die Konsistenz der gestellten Forderung. Nicht ohne Grund habe ich den Rassismus der Frau explizit als Äußerlichkeit bezeichnet.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 19:30
Das widerspricht doch - wenn ich mich nicht irre- doch ziemlich der Ansicht von Kant.
Kann ja sein. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, dass es in der Kantischen Ethik eine Verpflichtung gibt, jemandem zu helfen, der seine Einkäufe fallen gelassen hat. So kleine Brötchen backt Kant nicht.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 19:30
Dem zufolge es doch in etwa so heißt: Handel nach dem Grundsatz, von dem Du willst, dass er allgemein gültig wird.
Nicht ganz. Eine Übersicht über die verschiedenen Formulierungen findest du hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorischer_Imperativ
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 19:30
Davon abgesehen, ist so eine Theorie und die Umsetzung dem menschlichen Zusammenleben nicht gerade förderlich.
Du übersiehst wieder völlig, dass ich hier eine Abgrenzung zwischen einer Ethik der Verpflichtung und einer Ethik der Entscheidung vorgenommen habe - beziehungsweise zwischen zwei verschiedenen Bereichen der Ethik. Nur weil ich zu etwas nicht moralisch verpflichtet bin, heißt das nicht, dass ich mich nicht trotzdem aus guten Gründen dafür entscheiden kann, es zu tun. Meine Ausführungen bezüglich des Konsistenzkriteriums bezogen sich auf die Frage nach der Verpflichtung, nicht auf die nach der "Förderlichkeit für das Zusammenleben". Das kann sowieso kein grundsätzliches Kriterium sein. Wenn jemand zum Beispiel gar nicht mit einer Rassistin zusammenleben will, kann ihn dein Argument auch nicht überzeugen. Das Kriterium der Konsistenz ist hingegen ein rein logisches.



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Stefanie
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Di 3. Okt 2017, 20:17

Wir haben hier eine grundlegende Meinungsverschiedenheit.
Ich sage, dass wir sehr wohl moralisch verpflichtet sind, zu helfen, auch in vermeintlich kleinen Alltagssituationen. Die Rassistin kann einfordern, dass ihr geholfen wird, genauso wie ich es einfordern kann.

Das ergibt sich u.a. aus dem Umstand, das jeder Mensch eine Würde innehat, die es mir verbietet, diese zu mißachten und gar abzusprechen. Deshalb kann ich auch in einem rechtsfreien Raum nicht einfach präventiv den Mörder töten.
Er kann es auch aus moralischen Gründen einfordern.
Dir ist klar, dass ein Recht im juristischen Sinne etwas anderes ist als ein Recht im moralischen Sinne?
Natürlich ist mir das nicht klar, denn ich halte diesen Satz so für falsch. Elementare moralische - menschliche-
Grundpositionen spiegeln sich in den Gesetzen wieder: Die Würde des Menschen, das Menschen sich nicht gegenseitig umbringen, dass Menschen, die in Not sind, geholfen wird, Freiheit, Gleichheit usw.
Bei gesellschaftlichen Moralvorstellungen und Ansichten, die sich wandeln können, und die den o.g. grundlegenden Wertevorstellungen nicht widersprechen, ändern sich, und finden sich dann etwas verzögert auch in Gesetzen wider. Z.B. die Änderungen bei der Strafbarkeit von Homosexualität.

... und jetzt nehme ich mir die persönliche Freiheit eine Sendung im Fernsehen zu schauen.



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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 20:27

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:17
Die Rassistin kann einfordern, dass ihr geholfen wird, genauso wie ich es einfordern kann.
Es gibt doch Abstufungen, meine ich. Wenn ihr was aus der Einkaufstüte fällt, würde es mir schon in den Finger kribbeln, nicht zu helfen. Wenn sie hingen stürzt, dann muss ich (im moralischen Sinne) natürlich helfen, auch wenn es mir unangenehm wäre.




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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 20:38

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:17
Ich sage, dass wir sehr wohl moralisch verpflichtet sind, zu helfen, auch in vermeintlich kleinen Alltagssituationen. Die Rassistin kann einfordern, dass ihr geholfen wird, genauso wie ich es einfordern kann.
Die entscheidende Frage hier ist, ob sie eine solche Forderung überzeugend begründen kann. Das heißt eben auch ohne Selbstwiderspruch. Und das wiederum heißt, wenn sie es begründen kann, dann muss diese Begründung auch für ihr eigenes Handeln gelten - was wiederum bedeutet, dass sie nur dadurch Andere dazu verpflichten kann, ihr ohne Ansehen von Äußerlichkeiten helfen, wenn sie damit ebenfalls sich selbst verpflichtet, ohne Ansehen von Äußerlichkeiten zu helfen. Diese beiden Verpflichtungen sind reziprok: Die eine besteht nicht, wenn die andere nicht besteht. Das ist genau das, was der Konsistenzgrundsatz bedeutet: dass die Begründungen, mit denen ich andere verpflichte, auch für mein eigenes Handeln gelten müssen.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:17
Das ergibt sich u.a. aus dem Umstand, das jeder Mensch eine Würde innehat, die es mir verbietet, diese zu mißachten und gar abzusprechen.
Die "Würde des Menschen" ist zunächst mal ein verfassungsrechtliches Konzept, und zwar eins, das in allererster Linie für staatliches Handeln rechtlich bindend ist. Die Behauptung, dass "Würde" über den legalen Kontext des deutschen Grundgesetzes und der deutschen Rechtsordnung hinaus auch als für individuelles Handeln moralisch relevantes ontologisches Faktum existiert, hättest du genauso zu beweisen wie z.B. die Behauptung, dass Gott oder der Weihnachtsmann existieren und für Moralfragen von Relevanz sind. Voraussetzen kannst du das keineswegs. Wir sind hier immerhin in einem Philosophieforum und nicht in einem Forum für Verfassungsdogmatismus - und das bedeutet, dass solche Behauptungen einer Begründung bedürfen.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:17
Elementare moralische - menschliche- Grundpositionen spiegeln sich in den Gesetzen wieder:
Das kann ja sein, ändert aber eben nichts daran, dass ein juristisches Gesetz ganz grundsätzlich etwas anderes ist als eine Forderung der Moral. Das zeigt sich schon daran, dass Gesetze auch von Moralforderungen massiv abweichen können und umgekehrt - historische und auch gegenwärtige Beispiele dafür zu finden ist ja nun wirklich nicht allzu schwer, zumindest wenn man den Blick über die BRD hinaus wagt. Wenn sich in den gegenwärtigen Gesetzen legitime Moralforderungen widerspiegeln, so ist das ein großes Glück, aber das ist nicht schon deshalb der Fall, weil es sich um Gesetze handelt.
Zuletzt geändert von Tarvoc am Di 3. Okt 2017, 20:49, insgesamt 1-mal geändert.



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Stefanie
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Di 3. Okt 2017, 20:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:27
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:17
Die Rassistin kann einfordern, dass ihr geholfen wird, genauso wie ich es einfordern kann.
Es gibt doch Abstufungen, meine ich. Wenn ihr was aus der Einkaufstüte fällt, würde es mir schon in den Finger kribbeln, nicht zu helfen. Wenn sie hingen stürzt, dann muss ich (im moralischen Sinne) natürlich helfen, auch wenn es mir unangenehm wäre.
Mir würde es auch in den Finger kribbeln, nicht zu helfen- das gebe ich zu- aber sie mindestens darauf aufmerksam machen, das ihr was aus der Tüte gefallen ist, und auch aufheben, wenn es vor meine Füße fällt.



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Stefanie
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Di 3. Okt 2017, 20:59

Die "Würde des Menschen" ist zunächst mal ein verfassungsrechtliches Konzept, und zwar eins, das in allererster Linie für staatliches Handeln rechtlich bindend ist.
Die Würde des Menschen ist nicht nur ein verfassungsrechtliches Konzept. Kant verwendete "Würde" schon, bevor es in deutschen Gesetzen überhaupt auftauchte.
Menschenwürde wird weder zugesprochen noch abgesprochen, der Mensch hat sie, dieses Konzept ist nicht nur ein rechtliches, verfassungsrechtliches Konzept. Das Grundgesetz und viele anderen Verfassungen bilden es ab.
Das Konzept der Menschenwürde gibt es nicht erst seit dem deutschen Grundgesetz oder der WRV.

Meine Behauptung, dass wir moralisch verpflichtet sind, anderen Menschen ohne Ansehen der Person zu helfen ist Widerspruchsfrei. Das dieser Grundsatz nicht immer von allen beachtet wird, macht diesen nicht unwirksam.



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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 21:01

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:47
Mir würde es auch in den Finger kribbeln, nicht zu helfen- das gebe ich zu- aber sie mindestens darauf aufmerksam machen, das ihr was aus der Tüte gefallen ist, und auch aufheben, wenn es vor meine Füße fällt.
Bei den meisten Menschen ist das ja schon ein recht unmittelbarer, kaum reflektierter Impuls, oft noch bevor man realisiert hat, wem da etwas heruntergefallen ist. Falls man es dann doch "noch rechtzeitig" realisiert, spricht ja auch gar nichts dagegen, sich auch dafür zu entscheiden, diesem Impuls dann doch zu folgen. Ich bin nur der Ansicht, dass die Hürden für das Postulat einer moralischen Verpflichtung nicht zu niedrig hängen sollten, weil sonst die Freiheit der Entscheidung in einer Gesinnungsdiktatur unterzugehen droht und man darüberhinaus eben zunehmend Gefahr läuft, die Forderung nach der Konsistenz in den Begründungen zu verlieren. Es ist eben so, dass eine Verpflichtung überhaupt nur gedacht werden kann als Verpflichtung gegenüber jemandem, und wenn die Begründungen dafür konsistent sind, heißt dass, dass sie das Gegenüber ebenso verpflichten können müssen wie einen selbst. Wie gesagt gibt es aber eben neben der Ethik der Verpflichtung auch noch eine Ethik der Entscheidung.



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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 21:03

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:59
Kant verwendete "Würde" schon, bevor es in deutschen Gesetzen überhaupt auftauchte.
Kann ja sein. Aber dass Kant irgendwas gesagt hat, ist kein Argument für die Richtigkeit des Gesagten. Kant hat auch gesagt, dass Neger stinken, weil ihre Haut Phlogiston produziert.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:59
Menschenwürde wird weder zugesprochen noch abgesprochen, der Mensch hat sie
Das hast du immer noch zu beweisen.
Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 20:59
Meine Behauptung, dass wir moralisch verpflichtet sind, anderen Menschen ohne Ansehen der Person zu helfen ist Widerspruchsfrei.
Wem gegenüber besteht denn diese Verpflichtung? Dass sie widerspruchsfrei ist, heißt ja nur, dass sie nicht unmoralisch ist. Es beweist nicht, dass sie zwingend ist. Begründet werden muss sie immer noch.



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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 21:08

Argumentieren kommt nicht ohne gemeinsame Voraussetzungen aus. Wenn eine Prämisse jedoch wider erwartend nicht geteilt wird, muss / kann man darüber streiten. Wir hier die Beweislast jeweils trägt, ist nicht immer ganz einfach zu entscheiden. Warum muss nicht der Würde-Skeptiker seinen Zweifel plausibel machen? Wer zudem nahelegt, dass diejenigen, die den Menschen eine Würde zubilligen, sich so verhalten, als würden sie an den Weihnachtsmann glauben, der stellt schon eine ziemlich steile These auf und sollte daher auch die Beweislast tragen.




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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 21:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:08
Argumentieren kommt nicht ohne gemeinsame Voraussetzungen aus.
Die einzigen gemeinsamen Voraussetzungen, die es hier braucht, sind erstens Logik und zweitens die gemeinsame Kenntnis der deutschen Sprache.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:08
Warum muss nicht der Würde-Skeptiker seinen Zweifel plausibel machen?
Aus dem selben Grund, warum der Theist in der Belegpflicht ist und nicht der Atheist. Wie beweist man denn bitte, dass etwas nicht existiert?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:08
Wer zudem nahelegt, dass diejenigen, die den Menschen eine Würde zubilligen, sich so verhalten, als würden sie an den Weihnachtsmann glauben, der stellt schon eine ziemlich steile These auf und sollte daher auch die Beweislast tragen.
Es geht hier nicht um das Verhalten von Leuten, die an Menschenwürde glauben, sondern um die Stellung von Existenzbehauptungen im Diskurs. Wer eine Existenzbehauptung aufstellt, ist in der Belegpflicht.
Zuletzt geändert von Tarvoc am Di 3. Okt 2017, 21:14, insgesamt 1-mal geändert.



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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 21:13

Ziel dieses Threads im Smalltalk war übrigens, in lockerer Form über die Alltagsfragen an die Philosophen zu sinnieren :) das sollte man nicht ganz aus den Augen verlieren. Dass man weder im Smalltalk noch sonst irgendwo, seine Ansichten letztlich beweisen kann, sollte ohnehin klar sein.




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Di 3. Okt 2017, 21:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:13
Ziel dieses Threads im Smalltalk war übrigens, in lockerer Form über die Alltagsfragen an die Philosophen zu sinnieren :) das sollte man nicht ganz aus den Augen verlieren.
Ja, verstehe ich. Ich wollte ursprünglich nur meine Antworten auf deine Fragen hier präsentieren, damit die Leute mich und meine Art zu denken etwas kennen lernen können. Allerdings sind einige meiner Ansichten und auch Herangehensweisen leicht mal kontrovers und werden auch leicht missverstanden, weil ich gerne mal "gegen den Strich" denke. Das kann leicht zu etwas ernsthafteren Diskursen führen.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:13
Dass man weder im Smalltalk noch sonst irgendwo, seine Ansichten letztlich beweisen kann, sollte ohnehin klar sein.
Das stimmt nur dann, wenn man Beweis in einem absoluten Sinne versteht, aber so meinte ich es nicht. Die Behauptung, dass rosa Elefanten existieren, lässt sich z.B. dadurch beweisen, dass man einen zeigt. Nichts anderes bedeutet Beweis hier: die Präsentation einer nachvollziehbaren Begründung, die der Kritik standhält. Mehr braucht es nicht. Natürlich wird das bei der Menschenwürde nicht ganz so einfach. Es stimmt aber nicht, dass die Begründungspflicht entfallen könnte, nur weil man nicht genau weiss, wie hier eine Begründung überhaupt aussehen könnte. Im Gegenteil: Das sollte ein Warnsignal sein.



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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 21:25

Es geht hier nicht um das Verhalten von Leuten, die an Menschenwürde glauben, sondern um die Stellung von Existenzbehauptungen im Diskurs. Wer eine Existenzbehauptung aufstellt, ist in der Belegpflicht.
Wer behauptet, dass es Autos gibt, muss dies nicht beweisen. Wer hingegen behauptet, daß Autos nur eine Illusion sind, der sollte triftige Argumente dafür parat haben.




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Di 3. Okt 2017, 21:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:25
Wer behauptet, dass es Autos gibt, muss dies nicht beweisen. Wer hingegen behauptet, daß Autos nur eine Illusion sind, der sollte triftige Argumente dafür parat haben.
Etwas als Illusion zu bezeichnen ist etwas anderes als seine Nichtexistenz auszusagen. Autos lassen sich ganz einfach vorzeigen, und die Behauptung ihrer Nichtexistenz ist schon damit widerlegt.

Zeig' mir mal die Menschenwürde. Bitte so, dass ich sie sehen kann.
Zuletzt geändert von Tarvoc am Di 3. Okt 2017, 21:31, insgesamt 2-mal geändert.



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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 21:30

Vielleicht sollte man zum Thema Würde mal einen Thread eröffnen... Dort könnte man dann auch diskutieren, inwiefern die Behauptung, Menschen hätten eine Würde, eine Existenz Behauptung ist und ob man eine Würde haben kann, auch wenn man nicht mit dem Finger drauf zeigen kann :)




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Stefanie
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Di 3. Okt 2017, 21:35

Jörn, Du hattest doch hier nach philosophischen Dauerbrennern gefragt oder so ähnlich: Die Menschenwürde, deren Herleitung und Existenz scheint in unserer heutigen Zeit zu einem solchen Dauerbrenner zu werden. Das ist für mich ein Warnsignal.



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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 21:41

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:35
Die Menschenwürde, deren Herleitung und Existenz scheint in unserer heutigen Zeit zu einem solchen Dauerbrenner zu werden. Das ist für mich ein Warnsignal.
Für manche ist es auch ein Warnsignal, dass das Thema der Herleitung und Existenz Gottes in unserer heutigen Zeit zu einem Dauerbrenner geworden ist. Und auch hier scheinen manche zu glauben, dass alle moralischen Grundsätze in sich zusammenfallen, wenn die Leute nur zu sehr das hinterfragen, was sie selbst vorausgesetzt sehen wollen. Auch hier ist ein historischer Blick hilfreich: Auch Menschen, die noch nicht mal einen Begriff von Menschenwürde haben, konnten und können moralisch handeln und auf konsistente Art und Weise moralische Grundsätze formulieren. Das heißt nicht, dass ich mit der Idee der Menschenwürde grundsätzlich ein Problem hätte. Für mich sind Menschenrechte zwar wichtiger als Menschenwürde, aber wenn es für den Diskurs hilfreich ist, Erstere aus Letzterer herzuleiten, warum nicht? Mein Punkt war einfach der, dass man in einem philosophischen Diskurs über Moral nicht einfach Dinge voraussetzen kann, die der Begründung bedürfen. Übrigens halte ich die Eröffnung eines Threads speziell zu dem Thema für eine gute Idee. Ich möchte das aber nicht selbst machen, weil zumindest der Threaderöffner vielleicht neutral an das Thema herangehen sollte.



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Alethos
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Di 3. Okt 2017, 22:33

Ihr habt heute ein Tempo drauf, Mensch :)

Es heisst doch, die Würde des Menschen sei unantastbar. Ich will nicht auf den verfassungsphilosophischen Punkt hinaus, sondern auf den reinen Begriff: Wir sprechen nicht von der Würde der Rassistin, des Mörders oder des rothaarigen Bengels, sondern des Menschen ungeachtet seiner vielen Facetten, die er hat. Der Mörder ist ja nicht nur Mörder, sondern vielleicht auch ein guter Freund, ein fürsorglicher Vater oder ein guter Schachspieler, oder Karottengärtner und Briefmarkensammler. Wir können aber nicht den Menschen teilweise achten, und teilweise nicht. Wenn wir das täten, so zögen wir jedesmal individuell eine Grenze und beschlössen jedesmal aufs Neue: Diesen Teil achte ich, diesem Teil helfe ich, diesen Teil schütze ich, diesen Teil aber nicht. Soll man den Fuss der Rassistin achten, weil sie eine gute Mutter ist, ihren Kopf aber nicht, weil sie Rassistin ist? Das ist doch offensichtlich absurd.

Die Würde, nicht rechtlich gesehen, aber moralisch betrachtet, ist unantastbar im Sinne eines Absehens von politischer Einstellung, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder anderen Merkmalen. Wenn wir dieses Konzept umdeuten und anfangen, nur dort zu helfen, wo uns gerade die Frisur passt oder das Vorstrafenregister, dann verletzen wir den Grundsatz der Mitmenschlichkeit. Ich sehe nicht, wo wir dann die Grenze ziehen zwischen helfen, die Lebensmittel aufzulesen und dem Stupsen. Denn wenn ich nicht den Menschen achte, weil er Mensch ist, sondern ihn missachten darf, weil er so und so ist, dann kann ich die Tüte auch gleich selbst zu Boden stossen. Wo ziehen wir die Grenze zwischen Helfen, Unterlassung und absichtlicher Schädigung? Die Richtschnur unserer Ethik geriete aus dem Lot und Selbstjustiz wäre angezeigt. Wenn das aber so ist, dass Selbstgerechtigkeit das oberste Gebot wäre, und konsequenterweise wäre das so, dann kann ich die Rassistin oder den Mörder auch gleich erschiessen, wenn er mir nicht passt. Die Kekse auf dem Gehsteig, das wären dann kleine Mitgifte einer gelungenen Tat.

Also ja: Wir müssen der Rassistin helfen, denn der kategorische Imperativ ist das Fundament unseres Miteinanders.

Und mit diesem moralingeschwängerten Wort zum Dienstag... verabschiede ich mich in die Nacht :)



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 22:41

Alethos hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 22:33
Es heisst doch, die Würde des Menschen sei unantastbar. Ich will nicht auf den verfassungsphilosophischen Punkt hinaus, sondern auf den reinen Begriff: Wir sprechen nicht von der Würde der Rassistin, des Mörders oder des rothaarigen Bengels, sondern des Menschen ungeachtet seiner vielen Facetten, die er hat.
Ja. Deshalb hatte ich ja auch geschrieben, dass der Rassismus der Frau eine Äußerlichkeit darstellt und kein Kriterium. Zum Kriterium wird die Äußerlichkeit ja nur dadurch, dass die Frau ebenfalls Äußerlichkeiten zu moralischen Kriterien erhebt. Es ging ja in meinen Beiträgen um die Frage, mit welcher Begründung die Frau selbst ein Recht auf Hilfe einfordert. Diese Begründung muss wie gesagt auch für sie selbst gelten. Bezieht sie sich also in ihrer Begründung auf ihre Würde als Mensch, also unabhängig von ihrer "Rasse", Hautfarbe, sexueller Orientierung, politischer Einstellung und sonstiger Äußerlichkeiten, so muss sie anerkennen, dass dieselbe Begründung auch ihr eigenes Handeln von nun an verpflichtet. D.h. sie wäre dann ebenfalls verpflichtet, anderen Menschen unabhängig von solchen Äußerlichkeiten zu helfen.
Alethos hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 22:33
Der Mörder ist ja nicht nur Mörder, sondern vielleicht auch ein guter Freund, ein fürsorglicher Vater oder ein guter Schachspieler, oder Karottengärtner und Briefmarkensammler. Wir können aber nicht den Menschen teilweise achten, und teilweise nicht. Wenn wir das täten, so zögen wir jedesmal individuell eine Grenze und beschlössen jedesmal aufs Neue: Diesen Teil achte ich, diesem Teil helfe ich, diesen Teil schütze ich, diesen Teil aber nicht. Soll man den Fuss der Rassistin achten, weil sie eine gute Mutter ist, ihren Kopf aber nicht, weil sie Rassistin ist? Das ist doch offensichtlich absurd.
So wie ich das sehe, besteht das Problem darin, dass deine Argumentation tendentiell ins gegenteilige Extrem umschlägt, an dem nicht nur die Selbstjustiz fragwürdig wird, sondern ganz grundsätzlich jede Justiz und jedes handlungsleitende negative Urteil über die Handlungen anderer Menschen. Der Richter kann ja auch den Mörder nur als Mörder verurteilen, und ob dieser auch ein guter Familienvater ist, kann allenfalls für das Strafmaß eine Rolle spielen, aber nicht für die Bestrafung selbst. Die Frage wäre also, warum dein Argument bei staatlicher Justiz nicht genauso ziehen sollte wie bei Selbstjustiz.

Es ist ja so, dass der Rassismus gerade auf die von dir beschriebene Weise Äußerlichkeiten moralwidrig zum Kriterium erhebt. Die Frage, die sich dann stellt, ist, wie wir das sanktionieren.



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