Leser fragen, Philosoph*innen antworten

Das ist die Rubrik für die ewige Wiederkunft des Gleichen: Ohrwürmer, Humor und Anekdoten, Buchempfehlungen etc. Einfach für alles, was gut ist und immer wieder kommt.
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Jörn Budesheim
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Mi 4. Okt 2017, 07:37

Alethos hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 22:33
Ihr habt heute ein Tempo drauf, Mensch :)
Stimmt, gestern haben wir hier über 100 Posts geschrieben. Nicht schlecht für so ein kleines Forum, meine ich :mrgreen:




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Jörn Budesheim
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Mi 4. Okt 2017, 07:41

Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 21:10
Wer eine Existenzbehauptung aufstellt, ist in der Belegpflicht.
Über Beweislasten und ihre Verteilung haben wir
hie
r mal einen Thread gestartet. Natürlich ohne Einigung, wie unter Philosophen nicht unüblich :-)




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Tarvoc
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Mi 4. Okt 2017, 18:29

Hab' dort mal einen Beitrag hinterlassen.



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Jörn Budesheim
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Do 5. Okt 2017, 07:17

Sind Überraschungspartys ethisch verwerflich? Und zwar auch dann, wenn man weiß, dass das "Opfer" der Party Überraschungspartys liebt? :) Es geht dabei um die Frage nach der Lüge. Um eine solche Überraschungsparty zu veranstalten, wird mein ziemlich oft täuschen müssen und lügen. Handelt man man in diesen Fällen, auch wenn man einen guten Zweck verfolgt, ethisch verwerflich?




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Tarvoc
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Do 5. Okt 2017, 14:07

Das Problem scheint mir primär ein kantisches zu sein. Außer Kant gibt es ja nicht viele Philosophen, die ein so rigoroses Verbot der Lüge haben wie er. Ich antworte also mal kantisch.

Da wäre meine Antwort: Ich würde vermuten, dass die Maxime, einem anderen eine Freude zu machen, in der Lage sein sollte, widerspruchsfrei allgemeines Gesetz werden zu können.



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Jörn Budesheim
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Do 5. Okt 2017, 16:07

Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 14:07
Außer Kant gibt es ja nicht viele Philosophen, die ein so rigoroses Verbot der Lüge haben wie er.
Ich hatte es so verstanden, dass einige User hier im Thread auch dieser Ansicht sind, aber ich kann mich täuschen.




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Herr K.
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So 8. Okt 2017, 22:30

Zumindest ich bin nicht für ein rigoroses Verbot der Lüge. In einigen (wenigen) Fällen mag es gar geboten sein, zu lügen, (das Beispiel mit dem Mörder, der sein Opfer sucht, das man versteckt hält), in anderen Fällen mag es zumindest zulässig sein, (in Fällen, in denen es den Frager nichts angeht und die Wahrheit für einen von Nachteil wäre, Beispiel: der Arbeitgeber fragt eine sich bewerbende Frau, ob sie schwanger sei).

Wieso aber nun Kinder belogen (bezüglich Weihnachtsmann oder Osterhase oder Zahnfee) werden sollen, ist mir bislang unerfindlich geblieben. Die obigen Fälle treffen ja nun nicht darauf zu. Also muss ein anderer Fall vorliegen, aber welcher denn eigentlich? Ist die zugrundeliegende These etwa die, dass Kinder keine Phantasie entwickeln könnten, wenn sie nicht derart belogen würden? Was jedoch eine ziemlich steile These wäre. Aber was sonst?

Und: Kinder derart zu belügen ist eine Sache, aber eine Steigerung dessen ist es noch, wenn von älteren Kindern verlangt wird, dass sie ihre jüngeren Geschwister ebenfalls anlügen sollen.

Geschichten und Phantasien sind eine feine Sache, aber wieso muss man die anderen im Unklaren lassen, dass es sich um Erfundenes handelt?




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Jörn Budesheim
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Fr 19. Jan 2018, 16:14

Hab gerade beim Stöbern diesen Thread wiederentdeckt. Zur Erinnerung: In der "Kolumne Philosophie Magazin" beantwortet Barbara Bleisch die Fragen der Leser/innen des PhiloMag. Die erste Frage des Jahres dort lautet: "Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?"

Worin besteht unsere Identität und können wir sie verlieren etwa durch eine schwere Krankheit oder ein Behinderung?

Hier gibt es die Antwort der Philosophin > http://barbarableisch.ch/images/kolumne ... eFrage.pdf




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Stefanie
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Fr 19. Jan 2018, 23:40

Mir verschlägt es fast die Sprache, ob dieser Antwort.
Wenn ich es in 30 Minuten schaffe, mittels google und Suchbegriffen Behinderung und Identität oder geistige Behinderung und Identität differenziertere Sichtweisen insbesondere zu ihrer Eingangsdefinition in Bezug auf Behinderung zu finden, hätte sie das auch schaffen können.
Ihr Ansatz ist ein Defizitansatz, und dann versucht sie diesen in der zweiten Spalte wieder zu entschärfen, in dem sie von unserem (wir gesunden und nicht behinderten Menschen) Unvermögen spricht. Mit letzterem hat sie Recht. Das war es aber schon.

Was soll das mit der Gehirnwäsche?
Was für ein Bild hat sie im Kopf, wenn sie schreibt "ohne Selbstbezug vor sich hin vegetiert (!)".

Hat sie jemals mit einem Menschen gesprochen, der von Geburt an eine schwere körperliche oder geistige Behinderung hat, und wenn ja, hat sie auf diese ihre Eingangsdefinition angewendet?



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Jörn Budesheim
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Sa 20. Jan 2018, 06:41

Stefanie hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 23:40
Ihr Ansatz ist ein Defizitansatz
Der Ausdruck sagt mir leider nichts! Kannst du das kurz erläutern?
Stefanie hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 23:40
Eingangsdefinition
Ich habe den Artikel jetzt noch mal gelesen, mir ist aber nicht klar, worauf sich das bezieht.




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Stefanie
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Sa 20. Jan 2018, 18:35

Die Autorin schreibt in ihrer Antwort:
In aller Regel verbinden wir mit Identität ein stabiles Selbstbild: Dass wir uns als Personen verstehen, die für bestimmte Überzeugungen, Beziehungen und Lebensweisen verlässlich eintreten. Identität setzt also in erster Linie
ein Selbstverhältnis voraus, das uns ermöglicht, die Frage zu beantworten, wer wir sind und wofür wir
stehen.
und weiter:
(...)muss eine Biografie kein in sich geschlossener Lebenszusammenhang sein, um von einer gleichbleibenden Identität auszugehen. Sie muss Brüche und Scherbenhaufen jedoch sinnvoll integrieren können.
Das meinte ich als Eingangsdefinition. Sie benennt die Voraussetzungen für eine Identität.

Dies auf Menschen mit kognitiven, intellektuellen Beeinträchtigungen (geistige Behinderung) angewendet, würde bedeuten, dass viele Menschen mit dieser Beeinträchtigung (geistige Behinderung) keine Identität hätten. Das stimmt so einfach nicht.
Wir "Normalen" setzen bestimmte Fähigkeiten voraus, an der wir Identität festmachen. Diese Fähigkeiten haben aber nicht alle Menschen im gleichen Umfang.
Vor meinem Auge hatte ich einige Menschen, die ich kenne, als ich das las, und sagte mir "Aber Hallo, natürlich haben diese eine eigene Identität". Sie kommunizieren, haben Vorstellungen davon, was ihnen gefällt, was nicht, davon wie sie leben wollen, und wie sie nicht leben wollen, sie können sich abgrenzen (durchaus in abgestufter Form)- Dies alles ist oft nicht auf den ersten Blick erkennbar oder nicht für uns verständlich. Wenn wir "Normalen" mit unserem Verständnis, mit unserem Vorstellungen dies beurteilen, kommt dabei oft raus, sie haben nach unseren Vorstellungen eben keine Identität. Es wird noch immer nur bei dem angesetzt, was diese Menschen nicht können- z.B. alleine und selbstständig die Brüche im Leben zu integrieren, oder und bei schwerst geistigen Behinderung die Frage, ob diese überhaupt ein Bewusstsein von sich selbst haben- anstatt bei dem anzusetzen, was sie können. (Das ist der Defizitansatz, das Gegenteil ist der Kompetenzansatz).
Ein Link zu diesem Thema:
https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/ ... u_2012.pdf

Menschen, die aufgrund einer Krankheit, oder Behinderung "nur" körperliche Beeinträchtigungen haben, sollte sich die Frage nach der Identität überhaupt nicht mehr stellen. Es liegt oft an den Lebensbedingungen, die ihnen vorgibt, dass sie das, was die Autorin beschreibt, nicht umsetzen können.

An Demenz/Alzheimer erkrankte Menschen sind (wohl) nicht mehr "dieselben" Menschen wie vor Ausbruch der Krankheit. Natürlich haben sie dennoch eine Identität. In dem Buch "Der alte König in seinem Exil" beschreibt der Autor folgende Szene: Er (Sohn) kommt in das Heim, in dem sein Vater jetzt lebt. Der Vater sitzt an einem Tisch mit einem ebenfalls an Alzheimer erkrankten anderen Mann. Die beiden unterhalten sich vergnügt und mit viel Lachen in einer eigenen Sprache, die der Sohn nicht versteht. Der Sohn fühlt sich etwas ausgeschlossen. Diese beiden Männer haben eine Identität. Sie kommunizieren miteinander, sie wissen wer sie sind, haben offensichtlich den gleichen Humor, und sie sind in ihrer Welt sehr wohl in der Lage, für das was die Autorin oben beschreibt, verlässlich einzutreten (wenn wir sie denn lassen). In ihrer Welt, nicht in unserer Welt, der nicht Erkrankten. Aber sie haben eine Identität.

Auch eine Persönlichkeitsänderung - besser vielleicht eine Veränderung der Einstellung zum Leben- aufgrund einer schweren Erkrankung, die mit sich bringt, dass jemand Unterstützung braucht, um das alltägliche Leben zu meistern, bewirkt doch kein Verlust der Identität. Sie hat sich vielleicht geändert. Aber die Identität ist doch nicht verloren gegangen. Sie sind doch nicht Identitätslos.



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Jörn Budesheim
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Sa 20. Jan 2018, 18:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 16:14
"Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?"
Stefanie hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2018, 18:35
An Demenz/Alzheimer erkrankte Menschen sind (wohl) nicht mehr "dieselben" Menschen wie vor Ausbruch der Krankheit.
Nur erstmal kurz, morgen hoffentlich mehr: Ich verstehe die Frage anders als du. "Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?" heißt meines Erachtens nicht: "Hat jemand, der eine Behinderung erleidet, danach keine Identität mehr? Es fragt nur danach, ob er nach der "Verwandlung" die gleiche Identität wie zuvor hat. Zumindest verstehe ich es so.




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Stefanie
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Sa 20. Jan 2018, 19:21

Die Frage lautet "verliert" er/sie seine Identität, und so verstehe ich das auch. Es wird nicht gefragt, ob sich die Identität ändert. So antwortet auch die Autorin.

Die Autorin beschreibt zunächst, was sie unter Identität versteht und was Identität voraussetzt. Wer das nicht hat, hat keine Identität. Ist doch wohl die Schlussfolgerung. Das betrifft sowohl Menschen, die von Geburt an diese Voraussetzungen nicht erfüllen können, oder diese Voraussetzungen aufgrund von Krankheit nicht mehr erfüllen können.

Sie schreibt doch selber:
"Führt eine schwere Krankheit dazu, dass sich eine Person plötzlich als jemand ganz anderes versteht oder ohne jeden Selbstbezug vor sich hin vegetiert, verliert sie auch ihre Identität. " Da steht nicht, verändert sich seine Identität.

Die Aussage "verliert sie auch ihre Identität" nimmt sie im zweiten Teil (also die rechte Spalte) nicht wirklich zurück.
Sie schreibt dann von unserem Unvermögen, mit einer Veränderung umzugehen, und wir sollten dann zu einer neuen Bewertung kommen. Wie die aber aussehen kann, oder gar muss, schreibt sie nicht. Sie schreibt nur "Persönlichkeitsveränderung, oder tiefgreifende Veränderungen der anderen Person, aber ihre Aussage "verliert sie auch ihre Identität" wird nicht zurückgenommen.
Das bedeutet, dass sich unser Unvermögen, von dem sie spricht, sich darauf bezieht, dass jemand seine Identität verloren hat, und nicht darauf, dass jemand eine veränderte Identität hat.



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Alethos
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Sa 20. Jan 2018, 21:42

Aber Identität ist doch etwas Stetes? Es hat mit einer gewissen Beständigkeit der Eigenschaften zu tun, finde ich. Ich bin heute derselbe wie gestern, weil ich gleich 'gestrickt' bin.

Das bedeutet aber auch, dass ich meine Identität als kleines Kind verloren habe, wenn zur Identität gewisse emotionalen und geistige Fähigkeiten hinzugezählt werden, und das müssen sie ja, denn ich bin ja nicht nur mein Körper oder ein Name auf meiner Identitätskarte.



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Jörn Budesheim
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So 21. Jan 2018, 05:53

Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?
"Er ist nicht mehr derselbe“, bringen wir also in erster Linie unser eigenes Unvermögen zum Ausdruck, die Veränderung in das Bild integrieren zu können, das wir uns von ihm gemacht haben. Zuweilen ist diese fehlende Passung tatsächlich einer Krankheit oder einer Gehirnwäsche geschuldet.
Die beiden Sätze "verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität" und "sie ist nicht mehr dieselbe" verstehe ich nach wie vor anders als du Stefanie.

Wenn wir sagen "sie ist nicht mehr dieselbe", dann meinen wir schließlich nicht, sie ist niemand mehr, sondern sie ist eine ganz andere. Und wenn wir uns fragen, ob jemand aufgrund einer schweren Erkrankung seine Identität verliert, dann fragen wir nicht automatisch, ob sie aufgrund dieser Erkrankung überhaupt keine Identität mehr hat, sondern ob sie noch die alte ist.

Die Formulierung vom "Dahinvegetieren" schließt jedoch auch die andere Möglichkeit, die du im Sinn hast, mit ein. Das heißt in diesem Fall, verliert jemand nicht nur seine Identität, sondern ist danach womöglich auch identitätslos. Das scheint mir allerdings nicht die generelle Fragestellung zu sein, sondern höchstens eine von zwei Möglichkeiten.




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So 21. Jan 2018, 06:30

Alethos hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2018, 21:42
Das bedeutet aber auch, dass ich meine Identität als kleines Kind verloren habe
Dieter Thomä hat geschrieben : „Erzähle dich selbst“
Ich bin jetzt natürlich nicht mehr so, wie ich als kleines Kind war. Der Jörn vor 50 Jahren war sicher ein ganz anderer. Allerdings ist meine Lebensgeschichte doch das, was mich in sehr großen Teilen überhaupt ausmacht. Dazu gehören die Wege, die ich gegangen bin, die Umwege, die Irrwege, die Abwege...

Die Frage, so wie ich sie bisher verstehe, lautet nun, ob es Ereignisse in unserem Leben geben kann z.b. Krankheiten oder Unfälle, die derart gravierende Einschnitte bedeuten, dass wir sie nicht mehr sinnvoll in den eigenen Lebenszusammenhang integrieren können, so dass wir uns am Ende nicht mehr selbst erzählen können, so als sei der Faden gerissen. So als hätten wir es mit mehreren verschiedenen Erzählung zu tun, die gar keinen Zusammenhang mehr kennen.

"Können" mag hier ein doppeltes bedeuten. Es kann sich zum einen auf die Ereignisse beziehen, die sich nicht mehr in den Zusammenhang integrieren lassen, sodass sich keine kohärente Geschichte mehr geben kann. Es kann sich zum anderen aber auch auf unsere Fähigkeit beziehen, die Geschichte zu erzählen. Wir können sie nicht mehr erzählen, hieße dann, wir sind nicht mehr in der Lage, sie zu erzählen, weil es den Erzähler in einem gewissen Sinne nicht mehr gibt.




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So 21. Jan 2018, 08:58

John Locke in Versuch über den menschlichen Verstand hat geschrieben :
Über Identität und Verschiedenheit (1)

[Wir müssen, um festzustellen] worin die Identität der Person besteht, zunächst untersuchen, was Person bedeutet. Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist und, wie mir scheint, zu dessen Wesen gehört. Denn unmöglich kann jemand wahrnehmen, ohne wahrzunehmen, daß er es tut. Wenn wir etwas sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, überlegen oder wollen, so wissen wir, daß wir das tun. Das gilt jederzeit hinsichtlich unserer gegenwärtigen Sensationen und Wahrnehmungen; jeder wird dadurch für sich selbst zu dem, was er sein eigenes Ich nennt. Hierbei kommt es in diesem Fall nicht darauf an, ob dasselbe Selbst in derselben oder in verschiedenen Substanzen weiterbesteht.

[...]

Auf diese Weise kann man sich ohne Schwierigkeiten vorstellen, daß bei der Auferstehung dieselbe Person vorhanden sein kann, sei es auch in einem Körper, der seiner Bildungsweise und seinen Bestandteilen nach nicht genau mit dem irdischen übereinstimmt, indem nämlich dasselbe Bewußtsein mit der dem Körper innewohnenden Seele verknüpft ist. Beim Wechsel der Körper würde jedoch kein Mensch die Seele allein für ausreichend halten, um die Identität eines Menschen zu begründen; es sei denn, jemand setze die Seele mit dem Menschen gleich. Nehmen wir an, die Seele eines Fürsten, die das Bewußtsein des vergangenen Lebens des Fürsten mit sich führt, träte in den Körper eines Schusters ein und beseelte ihn, sobald dessen eigene Seele ihn verlassen hätte. Jeder sieht ein, daß der Schuster dann dieselbe PERSON sein würde wie der Fürst und nur für dessen Taten verantwortlich. Aber wer würde sagen, es sei ein und derselbe Mensch? Auch der Körper gehört also mit zum Begriff des Menschen. Ja, ich vermute, in diesem Fall würde der Körper nach jedermanns Ansicht über den Menschen entscheiden. Denn die Seele würde trotz all ihrer fürstlichen Gedanken keinen anderen Menschen aus ihm machen. Vielmehr würde jener Mensch für jeden, sich selbst ausgenommen, derselbe Schuster sein.
Wer sind wir? Unser Körper oder unser Geist? So könnte man das Locksche Gedankenexperiment ziemlich verkürzt zusammen fassen. John Locke malt sich das an zwei sehr verschiedenen Personen/Menschen aus, die Körper und Geist tauschen. Weisen die Szenarien, um die es bei der Frage oben geht, nicht mit dieser Versuchsanordnung von Locke gewisse Ähnlichkeiten auf? Natürlich mit einigen gravierenden Unterschieden: Wir haben es anders als bei Locke nur mit einer Person/einem Menschen zu tun. Und entweder findet sich ein gesunder Geist plötzlich in einem behinderten Körper wieder (etwa nach einem Verkehrsunfall). Oder ein veränderter Geist lebt in dem "selben" Körper weiter (etwa bei Demenz). Wenn ich Locke richtig deute, sollte im ersten Fall (sehr vereinfacht gesagt) die Identität im Grunde gewahrt sein und im zweiten Fall nicht. Ob man dem zustimmen kann? Bei mir sträubt sich da einiges ...
Franz Kafka, der Verwandlung hat geschrieben : Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

http://www.textlog.de/31996.html
Es mag etwas gewalttätig erscheinen, diese Geschichte für diese Fragestellung nutzbar zu machen. Aber es könnte einen Versuch wert sein. Wenn man so will, ist das eine "ziemlich stark" abgewandelte/verwandelte Form des Szenarios, welches sich Locke ausgedacht hat. Barbara Bleisch hat, wenn mich nicht alles täuscht, im wesentlichen die Perspektive der fraglichen Person selbst im Sinn. Die Geschichte Kafkas ist hier deutlich vielschichtiger. Samsas Geist mag zu Beginn noch ganz bei sich gewesen sein, als er in die ungeheure Veränderung an sich entdeckt, die Locksche Identität ist somit gewahrt. Allerdings ist einerseits der gepanzerte Körper nun kein "nach Außen" gerichteter mehr (sondern ein solipsistisch verpanzerter) und anderseits bietet er natürlich nicht mehr das Bild der früheren "identischen Person" ...

Die Geschichten, die wir über uns erzählen können, sind auf engste verwoben mit unserem Körper, unserem Aussehen, unserer Stellung im sozialen Raum. Zudem "bestehen" wir wohl in einem nicht ganz unwesentlichen Maß aus "geteilten Geschichten", also solchen, die uns mit anderen verknüpfen, welche man bei abrupten Verwandlungen oft nicht mehr ohne weiteres weiterspinnen kann.

Das hieße fürs Erste, dass die Identität einer Person sehr viel stärker an ihren Beziehungen und sozialen Stellungen hängt, als dieser kurze Abriss von Barbara Bleisch nahelegt. Wenn man etwa am Krankenbett eines alten Freundes steht und sich fragt, ob er noch der selbe ist, wird man mit dieser Frage zum Teil seiner (neuen) Identität. (Könnte man weiter spinnen...)




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Alethos
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So 21. Jan 2018, 10:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 08:58

Wer sind wir? Unser Körper oder unser Geist? So könnte man das Locksche Gedankenexperiment ziemlich verkürzt zusammen fassen. John Locke malt sich das an zwei sehr verschiedenen Personen/Menschen aus, die Körper und Geist tauschen. Weisen die Szenarien, um die es bei der Frage oben geht, nicht mit dieser Versuchsanordnung von Locke gewisse Ähnlichkeiten auf? Natürlich mit einigen gravierenden Unterschieden: Wir haben es anders als bei Locke nur mit einer Person/einem Menschen zu tun. Und entweder findet sich ein gesunder Geist plötzlich in einem behinderten Körper wieder (etwa nach einem Verkehrsunfall). Oder ein veränderter Geist lebt in dem "selben" Körper weiter (etwa bei Demenz). Wenn ich Locke richtig deute, sollte im ersten Fall (sehr vereinfacht gesagt) die Identität im Grunde gewahrt sein und im zweiten Fall nicht. Ob man dem zustimmen kann? Bei mir sträubt sich da einiges ...
Ich verstehe Locke anders als du: nicht nur die Seele (Psyche) stiftet Identität, sondern auch Körperlichkeit. Es gehört ja zur Person, wie sie aussieht, wie sie handelt, wie sie spricht, wie sie riecht und wie sie geht: dank dieser wesenstypischen Merkmale lässt sie sich identifizieren als von allen anderen Personen verschiedene Person. So wie ich Locke verstehe, kann trotz gleichbleibender, unversehrter Seele ein stark veränderter Körper zum Identitätsverlust (im Sinne einer Ich-Veränderung) führen.

Wir müssten uns demnach zuerst einmal fragen: Was bedeutet Identität? Was zeichnet einen Menschen als diesen konkreten Menschen aus? Was gehört alles zu ihm, was macht ihn aus? Wenn wir diese Wesensmerkmale von Personen in ihrer Fülle festhalten, müssen wir sie nach der Notwendigkeit gliedern, mit der sie dieser Person zukommen müssen, damit die personale Identität gewahrt bleibt. Denn offensichtlich sprechen wir von Identitätsveränderung oder -verlust und meinen zugleich den Wegfall von gewissen Merkmalen zugunsten von anderen. Und ich bin schon der Meinung, dass alle sozialen Aspekte (Beziehungen, geteilte Geschichten etc.) zum Wesenskern der Person zählen, mithin zu ihrer Identität.

Darum meinte ich aber auch, dass ich nicht derselbe sein kann, der ich mit 5 Jahren war, denn ich sah nicht nur anders aus, ich dachte auch ganz anders. Ich war ein anderer Mensch, auch wenn ich dieses Andersein als zu meiner Lebensgeschichte gehörend hinzuzählen kann. Ich bin noch immer diese biologische Entität, die ich damals war, aber meine Körperlichtkeit, meine Sozialität, mein Denken: das alles hat sich so sehr verändert, dass mir nicht sinnvoll erscheint zu sagen, ich sei heute derselbe wie damals.

Nun haben wir es also hier gerade mit einer Modifikation des Problems des Sandhaufens zu tun. Wir hatten das andernorts angefangen zu denken, aber das Thema hat sich irgendwie im Sand verlaufen. :) Ab wann beginnt ein Sandhaufen durch Wegnahme nicht mehr dieser Sandhaufen zu sein?

Ich denke, wenn ein Mensch mit Alzheimer im Bett liegt und nicht mehr weiss, wer er ist, dann hat er sehr wohl einen wesentlichen Teil seines Selbstbildes verloren. Er hat gewisse Fähigkeiten verlernt, er hat Erinnerungen verloren. Er hat sein Selbstbewusstsein in einer Weise verloren, dass er nicht mehr feststellen kann, dass er er ist resp. er kann sein Ichsein nicht mehr einordnen in die Stetigkeit, die Kohärenz seiner Lebensgeschichte. Aber er bleibt natürlich für die Angehörigen immer noch der Grossvater, der Vater, der Bruder, insofern die Erinnerung an ihn, die geteilte Vergangenheit nicht einfach ausgelöscht wird. Er bleibt in gewissem Sinn die Person, die er immer war, ohne die Person zu sein, die er immer war. Ist das irgendwie verständlich?



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So 21. Jan 2018, 11:40

Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 10:35
Ich verstehe Locke anders als du: nicht nur die Seele (Psyche) stiftet Identität, sondern auch Körperlichkeit.
Es ist richtig, dass meine Darstellung vereinfacht ist, worauf ich ja selbst hinweise. Locke will verschiedenes zeigen, nach meiner Einschätzung unter anderem:

Wenn der Geist eines Menschen in einen anderen Körper verpflanzt wird, sind wir in einem solchen Fall nicht ohne weiteres bereit, zu sagen, dass wir es dann noch mit demselben Menschen zu tun haben. Dennoch würde etwas Wichtiges am Schuster gleich bleiben, auch wenn sein Geist sich vollkommen wandelte. Dieser würde immer noch derselbe Mensch bleiben. Es gibt jedoch auch etwas an uns, das nicht an einen bestimmten Körper gebunden ist, sondern seine Identität aus einem Bewusstsein von sich selbst, seiner Geschichten etc. bestimmt ist.

Beide Szenarien lassen sich auch auf die Frage anwenden. Und sehr weitläufig ähnliches wird auch in der Verwandlung behandelt




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So 21. Jan 2018, 12:09

Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 10:35
Er bleibt in gewissem Sinn die Person, die er immer war, ohne die Person zu sein, die er immer war. Ist das irgendwie verständlich?
Ich denke schon, dass das "irgendwie verständlich" ist. Seine Geschichte ist und bleibt, die die sie war. Er hat dieses Leben geführt, diese Werte vertreten, stand für dieses ein etc. Das sind eben die unabänderlichen Tatsachen. Was fehlt ist seine Fähigkeit, sich weiter als diese Person zu verstehen, weil der Bezug zu sich selbst verloren zu gehen droht.




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