Was heißt Dekonstruktion?

Jacques Derrida war ein französischer Philosoph, der als Begründer und Hauptvertreter der Dekonstruktion gilt.
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Jörn Budesheim
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Sa 7. Apr 2018, 07:52

Joachim hat geschrieben :
Do 5. Apr 2018, 20:55
@Tommy: Um ehrlich zu sein kann ich Dir auch nicht wirklich genau sagen, was Dekonstruktion ist. Es geht in der Tat um den Zugang zu Texten, wobei für Derrida prinzipiell alles "Text" sein kann. Derrida sagte einmal (ich habe jetzt nicht den genauen Wortlaut), dass es nichts außerhalb des Textes gebe. Auch hat er selbst sich eher geweigert, genau zu sagen, was Dekonstruktion letztendlich ist. Vielleicht wusste er am Schluss selbst nicht mehr genau, was das ist und hat sich in seinen eigenen Gedanken verheddert? Das wäre ja fast schon tröstlich ;-)
In dem Buch "in der Welt der Sprache" (von Bertram, Lauer, Liptov und Seel) heißt es über Jacques Derrida. Jacques Derridas "frühe Philosophie lässt sich von Grund auf als eine Philosophie begreifen, die zentrale Begriffe des philosophischen Vokabulars einer Kritik unterziehen. Bekanntlich hat Derrida seiner Version der Kritik den Namen Dekonstruktion geben. Dieser Begriff, so können wir vorläufig sagen, hält fest, dass die kritisierten Begriffe von Derrida gleichermaßen aufgegeben und beibehalten werden. Die Dekonstruktion verfolgt das Ziel, die Konstruktion, auf denen Begriffe beruhen, und die Bruchstellen in diesen Konstruktionen freizulegen. Damit sollen die betreffende Begriffe gleichermaßen überwunden und als unvermeidlich dargestellt werden."

Im intellektuellen Diskurs ist dieser Begriff mittlerweile unvermeidlich geworden. In der Regel wird er jedoch Synonym mit dem Begriff der Destruktion verwendet. Den Doppelcharakter, den dieser Begriff zu haben scheint, falls der Text oben richtig liegt, berücksichtigt kaum ein Autor.

Bild
Ferdinand Hodler, Holzfäller

Aus einer anderen Quelle habe ich dazu ein anschauliches Bild im Kopf, leider weiß ich weder den Autoren noch das Buch. Dort wird folgendes vorgeschlagen: das Bild der Destruktion (aber nicht Dekonstruktion) der Metaphysik evoziert ein Bild von einem Berserker, der gleichsam auf einem festen Grund steht und die bestehende Metaphysik zerstört. Da Derrida jedoch, soweit ich es verstanden habe, bestreitet, dass es diese Art festen Grund gibt, muss er auch auf dieses Bild verzichten. Das passt sehr gut zu der Beschreibung oben. Die Metaphysik lässt sich nicht einfach destruieren, da die fraglichen Begriffe nach seiner Einschätzung gleichermaßen zu überwinden und unvermeidlich sind.

Das sind aber alles Secondhand-Einschätzung, da ich Derrida praktisch überhaupt nicht kenne.




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Friederike
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Di 10. Apr 2018, 13:48

Merksatz für mich: Das heißt, Derrida liest die soziale Wirklichkeit wie einen Text. Ich glaube, @Jörn hatte es oben zwar schon erwähnt, aber die konkrete Anwendungsmöglichkeit habe ich erst verstanden, als ich den von Dir zitierten Abschnitt las. Was in dem Artikel darüberhinaus noch deutlich wird, daß auch -geschriebene- Texte dekonstruierend gelesen werden können.

Diese Form der Einführung in ein schwieriges Thema, @Tommy, gefällt mir. Deine Vorarbeit in kleinen Schritten.




Tosa Inu
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Mi 11. Apr 2018, 09:52

Tommy hat geschrieben :
Di 10. Apr 2018, 21:09
Findet ihr letzteres einsichtig? Mich hat das extrem irritiert. Lernen wir so sprechen?
Das ist zwar ungewöhnlich als Ansatz, aber nicht ganz falsch.
Hier wird einfach die Kommunikation ins Zentrum gerückt. Ich würde es ungern verabsolutieren, was in der Postmoderne leider oft passiert ist.
Wir lernen auch ganz klassisch, indem man was gezeigt und erklärt bekommt, aber es gibt eine breite Bewegung, die Disziplinen übergreift und meint, dass wir zuerst Beziehungswesen sind und Interpretationen anzubieten, Welt zu deuten und wie ein Text aufzufassen, ist eine Art, in Beziehungen einzutreten.

Wittgenstein parkt ja nicht weit weg.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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Mi 11. Apr 2018, 13:41

Ich kapiere den Zusammenhang zwischen dem letzten Absatz und den vorhergehenden Absätzen überhaupt nicht. Falls da ein Zusammenhang besteht.

Wörter erhalten ihre Bedeutung nicht aus dem Zusammenspiel von Signifkant und Signifikat, sondern aus der Differenz zu den Wörtern um sie herum. Was heißt das denn auf das Spracherlernen bezogen? "Situation" wäre dann der Ausdruck für die Bedeutung von Wörtern, die sich aus der Differenz zu anderen Situationen ergibt?




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Friederike
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Mi 11. Apr 2018, 17:43

Den zweiten Schritt hatte ich vergessen.
D hat geschrieben : Die Differenz steht dann für die Grenze zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung und in einem zweiten Beobachtungsschritt für die Einheit der Unterscheidung.




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Jörn Budesheim
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Mi 11. Apr 2018, 18:09

Wie der Zufall so spielt, hat das Philosophie Magazin ein kleines Booklet über Jacques Derrida und die Dekonstruktion ausgegeben. Aus einem Gespräch zwischen Christian Descamps und Jacques Derrida möchte ich eine ganz kurze Sequenz wiedergeben.

Frage: Sie praktizieren die Dekonstruktion und nicht die Destruktion. Dieses Wort bezeichnet möglicherweise eine Art und Weise, eine Struktur zu zerlegen, um ihr Skelett zum Vorschein zu bringen. Die Dekonstruktion, die einer Reihe angehörte, hat sich großer Beliebtheit erfreut. Sie taucht in einem vom Strukturalismus beherrschten Kontext auf. Durch sie wurde es sicherlich für einige wieder möglich, aus jedem "alles ist ausgespielt" ausbrechen.

Antwort. Ja, der Begriff hat sich erst in der Ära des Strukturalismus durchsetzen können, was mich überrascht hat. Dekonstruieren ist zugleich eine strukturalistische und eine antistrukturalistische Bewegung. Man legt einen Aufbau, ein Artefakt auseinander, um, wie sie sagten, seine Strukturen, seine Aderung oder sein Skelett freizulegen, aber auch und gleichzeitig die ruinöse Zerbrechlichkeit einer formalen Struktur aufzuzeigen, die nichts erklärt, die weder ein Zentrum noch im Prinzip oder eine Kraft ist, nicht einmal das Gesetz der Ereignisse, in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes.

Die Dekonstruktion als solche lässt sich weder auf eine Methode noch auf eine Analyse (Reduktion auf das einfache) reduzieren, sie übersteigt die kritische Entscheidung selbst. Deshalb ist sie nicht negativ, auch wenn man sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen oft dahingehend interpretiert hat. Für mich geht sie immer mit einem affirmativen Anspruch ein her, ich würde sogar sagen, dass sie nie ohne Liebe auskommt...




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Friederike
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Mi 11. Apr 2018, 19:04

D hat geschrieben : Man legt einen Aufbau, ein Artefakt auseinander, um, wie sie sagten, seine Strukturen, seine Aderung oder sein Skelett freizulegen, aber auch und gleichzeitig die ruinöse Zerbrechlichkeit einer formalen Struktur aufzuzeigen, die nichts erklärt, die weder ein Zentrum noch im Prinzip oder eine Kraft ist, nicht einmal das Gesetz der Ereignisse, in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes.
Die Schwierigkeit besteht darin, diese wunderschön klingenden Sätze ins Konkrete zu übersetzen. Ich kann es nicht. Besonders das Gesetz der Ereignisse in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes, was soll das sein?
Aber vielleicht ist es wie mit Adorno, man kann einzelne Sätze zerfieseln und sich daran abarbeiten oder größere Abschnitte nehmen, aus denen sich möglicherweise auf einmal ein Sinn erhellt.




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Jörn Budesheim
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Mi 11. Apr 2018, 21:01

Im Brief an einen japanischen Freund schreibt Jacques Derrida: "ich selbe wollte unter anderen die Heideggerschen Wörter Destruktion und Abbau übersetzen und in meiner eigenen Darlegung und Absichten einpassen. Beide bezeichneten in diesem Kontext eine Operation im Bezug auf die traditionelle Struktur oder Architektur der Grundbegriffe der Ontologie der abendländischen Metaphysik. Im französischen würde der Ausdruck Destruktion jedoch alzu sichtbar eine Vernichtung implizieren eine negative Reduktion, die vermutlich dem Nitscheschen Niederreißen/Zerschlagen näher stünde als der Interpretation Heideggers oder jeder Art von Lektüre, wie ich sie vorschlug. Ich habe diesen Ausdruck also verworfen. ..."




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Jörn Budesheim
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Mi 11. Apr 2018, 21:01

Friederike hat geschrieben :
Mi 11. Apr 2018, 19:04
ins Konkrete zu übersetzen
Offensichtlich will Jacques Derrida genau das verhindern?! Der Begriff soll nicht konkret sein zumindest stellt es sich bisher so dar ...




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Jörn Budesheim
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Do 12. Apr 2018, 19:15



Derrida in 3 Minuten :-) Alles ganz easy also!




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Friederike
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Fr 13. Apr 2018, 16:22

Um die Sache ein wenig handhabbarer zu machen, möchte ich auf die Dekonstruktion eines Begriffes eingehen, nämlich dem der "Gewalt". In "Gesetzeskraft" (insgesamt habe ich den Text ziemlich unverständig gelesen), dessen zentrales Thema die Gerechtigkeit ist, geht Derrida in seinen einführenden Überlegungen von juristischen Kategorien aus. Verfassungsgebende Gewalt, Exekutivgewalt beispielsweise. Keine wie immer geartete Staatsform kommt ohne Gewalt aus. Die Verfassung eines Staates ist ein Akt der Gewalt. Gewalt wird verstanden als das Vermögen, Wirklichkeit zu setzen, u.a. ein Gesetz zu erlassen, und dieses mittels der an bestimmte Personen delegierten Exekutivgewalt auch zu bewahren bzw. umzusetzen. D.h., daß kein Akt, der Wirkung hat, gewaltfrei sein kann.

Damit kriegt der Begriff der Gewalt einen positiven Aspekt, es ist die Fähigkeit, Wirklichkeit zu schaffen, zu wirken. Derrida folgt hier Heidegger: Ge-walt von "walten“, "wirken“. So wird, wenn man Derridas Gedanken in diese Richtung weiter verfolgt, die Aufmerksamkeit auf die Handlungsintention der/des Gewalt Ausübenden gelenkt. Setzung eines dem Leben dienenden Aktes oder Zerstörung. Die negative, zerstörerische Gewalt kann man als "Brutalität" der Gewalt gegenüberstellen. Dabei ist der Wille zur Vernichtung das entscheidende Moment. Ein Wille, der kein anders Ziel hat als zu zerstören, zu ver-ge-waltigen. Brutalität handelt gegen das Leben, gegen die Natur, gegen soziale Gesetze ohne autorisiert zu sein, sie ist eine Gewalt ohne kreatives Handlungsziel. Dagegen steht die positive Gewalt als eine, die autorisiert ist; die mit Macht* und Kraft handelt, die Lebensraum schaffende Ziele hat.

*Ähnlich, worüber vor einiger Zeit in einem anderen Thread gesprochen wurde, die "Macht" und wie Foucault den Begriff der Macht neu bestimmt hat. Als eine produktive Kraft.




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Joachim
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So 15. Apr 2018, 21:35

In der Stanford Encyclopedia of Philosophy gibt es einen Artikel über Derrida, der auch einen längeren Abschnitt über die Dekonstruktion enthält: https://plato.stanford.edu/entries/derrida/.

Wenn ich das mit der Dekonstruktion halbwegs richtig verstanden habe, war die Dekonstruktion für Derrida auch gleichzeitig eine Kritik der Metaphysik bzw. eine Kritik daran, dass die damals gängigen Sprachtheorien die Bedeutungen von Worten metaphysisch begründeten. Mir ist allerdings schleierhaft, inwieweit die Bedeutung eines Wortes metaphysisch begründet werden kann!? Wenn ich einen Baum sehe bzw. dann das Wort "Baum" ausspreche, meine ich nicht eine transzendente "Baumheit", sondern eben diesen konkreten Baum. Oder was wäre in diesem Fall ein metaphysisches Signifikat?

Joachim



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So 15. Apr 2018, 23:45

Joachim hat geschrieben :
So 15. Apr 2018, 21:35
Wenn ich einen Baum sehe bzw. dann das Wort "Baum" ausspreche, meine ich nicht eine transzendente "Baumheit", sondern eben diesen konkreten Baum. Oder was wäre in diesem Fall ein metaphysisches Signifikat.
Das, was Dich den Baum überhaupt als solchen erkennen lässt.



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Joachim
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Mo 16. Apr 2018, 10:37

Tosa Inu hat geschrieben :
So 15. Apr 2018, 23:45
Joachim hat geschrieben :
So 15. Apr 2018, 21:35
Wenn ich einen Baum sehe bzw. dann das Wort "Baum" ausspreche, meine ich nicht eine transzendente "Baumheit", sondern eben diesen konkreten Baum. Oder was wäre in diesem Fall ein metaphysisches Signifikat.
Das, was Dich den Baum überhaupt als solchen erkennen lässt.

Nun ja, das muss ja aber doch nicht notwendig metaphysisch sein!? Es könnte doch auch sein, dass irgendwann mal ein Mensch für einen Baum eben das Wort "Baum" aussprach (aus welchem Anlass auch immer), und man einigte sich durch Übereinkunft darauf, dass das eben nun in Zukunft als "Baum" bezeichnet wird. Gewiss, Platon würde dem wohl scharf widersprechen...

Mir ist trotzdem nicht klar, warum Derrida die Dekonstruktion auch als Metaphysikkritik verstand.

Viele Grüße,

Joachim



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Mo 16. Apr 2018, 13:15

Joachim hat geschrieben :
Mo 16. Apr 2018, 10:37
Es könnte doch auch sein, dass irgendwann mal ein Mensch für einen Baum eben das Wort "Baum" aussprach (aus welchem Anlass auch immer), und man einigte sich durch Übereinkunft darauf, dass das eben nun in Zukunft als "Baum" bezeichnet wird.
Ja, sehr gut möglich.
Einen ersten Benenner wird es gegeben haben, aber der meinte ja schon etwas, was er dann mit dem Namen/Begriff "Baum" belegte. Dies muss er als abgeschlossene Einheit oder logisches Einzelding gesehen haben. Aber wie und warum eigentlich?
Man kann nun weiter ins Tierreich zurück gehen und es als evoltionär bewährte Eigenschaft bezeichnen, bestimmte Einzeldinge erkennen zu können, aber das erklärt nichts.
Joachim hat geschrieben :
Mo 16. Apr 2018, 10:37
Mir ist trotzdem nicht klar, warum Derrida die Dekonstruktion auch als Metaphysikkritik verstand.
Kommt wohl immer auch drauf an, was man unter Metaphysik versteht.
Derrida folgte Heidegger, der wiederum wies, selbst metaphysikkritisch, Descartes' denkendes/zweifelndes Ich zurück, weil er im theoretischen Akt des Zweifelns (ob es die Welt überhaupt gibt) etwas sieht, mit dem sich das Selbst einer Welt zu entledigen sucht, in die es immer schon, vortheoretisch, eingebunden war. Heidegger findet diesen Schritt vollkommen absurd, in dem irgendwann ein zur Reflexion fähiges Ich, seine Wurzeln oder Herkunft leugnet oder vergisst.

Dass das was ich wahrnehme alles auch eine Täuschung sein könnte, wird heute nicht mehr als ausreichend starkes Argument gewertet, was für einen fundierten Zweifel hinreicht. Man muss auch sagen, warum man meint, dass es tatsächlich anders ist. Das bloße könnte, der Zweifel um seiner sebst willen, wird in der Philosophie auch "paper doubt" genannt.
Derrida könnte man so verstehen, dass das Wort oder der Text diese künstliche Abtrennung nicht erlaubt, indem das Wesen von etwas und seine Erscheinung, in ein und demselben "Ding" oder eben jenem Ganzen, jener Situation, jenem Kontext zu finden ist.

Kein getrenntes Ich, was mit ebenfalls von der Welt getrennten Worten/Begriffen/Texten ein wiederum getrenntes Gemeintes benennt, sondern im Text oder Begriff sind deutendes Ich und wie es sieht und interpretert, was es eben sieht und interpretiert, benennend und damit auch deutend/interpretierend vereint. Der Borkenkäfer nimmt vielleicht gar keinen vereinzelten Baum wahr.



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Joachim
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Mo 16. Apr 2018, 14:32

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 16. Apr 2018, 13:15
Derrida könnte man so verstehen, dass das Wort oder der Text diese künstliche Abtrennung nicht erlaubt, indem das Wesen von etwas und seine Erscheinung, in ein und demselben "Ding" oder eben jenem Ganzen, jener Situation, jenem Kontext zu finden ist.

Kein getrenntes Ich, was mit ebenfalls von der Welt getrennten Worten/Begriffen/Texten ein wiederum getrenntes Gemeintes benennt, sondern im Text oder Begriff sind deutendes Ich und wie es sieht und interpretert, was es eben sieht und interpretiert, benennend und damit auch deutend/interpretierend vereint. Der Borkenkäfer nimmt vielleicht gar keinen vereinzelten Baum wahr.
So ähnlich habe ich es mir auch gedacht - dass nach Derrida auf die Bedeutung eines Begriffes durch andere Begriffe hingewiesen gibt und dass dies letztendlich für alles gilt, da nach seiner Auffassung es ja nichts außerhalb des Textes gibt. Und so bräuchte man (vielleicht? theoretisch?) keine wie auch immer geartete höhere Instanz (Idee?) die einem Begriff oder einem Ding Bedeutung verleiht. Vermutlich ist dann alles gleichzeitig Signifikat und Signifikant.

Joachim



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Joachim hat geschrieben :
Mo 16. Apr 2018, 14:32
Vermutlich ist dann alles gleichzeitig Signifikat und Signifikant.
Ich kann nicht sagen, ob es so gemeint ist, aber Bezeichung und Bezeichnetes bleiben m.E. in vielen Fällen zwei Paar Schuhe.
Die Postmoderne hat da oft verwischt, Umberto Eco hat nachher konstatiert, dass nicht alles ein Text ist.
Daran hat sich ja so mancher Streit entzündet.



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Mo 16. Apr 2018, 17:07

Tommy hat geschrieben :
Mo 16. Apr 2018, 14:38
Und niemand findet das komisch?
Nehmen wir mal an die Welt wäre tatsächlich nur eine "Täuschung": Dann ist der Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Welt solange unzulässig wie ich nicht auch "beweisen" kann, dass meine Zweifel korrekt sind?
Oder reicht es nur einfach Indizien vorzulegen, die den Zweifel begründen?
Du neigst oft zum ganz oder gar nicht, die Postmoderne liegt irgendwo dazwischen, will diese Trennung trennen, dekonstruieren.
Tommy hat geschrieben :
Mo 16. Apr 2018, 14:38
Dann würde ich nämlich sagen: Sowohl Indizien als auch "Beweise" für die Anfälligkeit des Menschen zur Täuschung gibt es ja ohne Ende.
Die Tatsache, dass man Menschen täuschen kann, heißt nicht, dass sie immer auch getäuscht werden.
Tommy hat geschrieben :
Mo 16. Apr 2018, 14:38
Auf wen geht denn die "Weisung", dass hier nicht mehr "einfach so" gezweifelt werden dürfe, zurück?
Ich hab's bei Brandom gelesen.



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So 3. Jun 2018, 06:22

Derrida hat geschrieben : Man darf den Ausdruck "Dekonstruktion" nicht im Sinne von Auflösen oder Zerstören verstehen. Gemeint ist das Analysieren der verfestigten Strukturen, in denen wir denken.

https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... 395#p20395
Der erste Buchstabe entscheidet. Obwohl das Wort "Dekonstruktion" viel näher an "Rekonstruktion" (nur der erste Buchstabe ist verschieden) als an "Destruktion" liegt, wird es nach meinem Gefühl oft einfach wie "Destruktion", Auflösen oder Zerstören verwendet; daher dürfte der Hinweis von Derrida ("Man darf den Ausdruck 'Dekonstruktion' nicht im Sinne von Auflösen oder Zerstören verstehen..." ) nicht von ungefähr kommen.

"Wer die Überzeugungskraft und Tragfähigkeit von Argumenten, Theoremen, Sätzen und Konstruktionen aller Art überprüfen will, muss sie rekonstruieren können, muß sie genau auf ihre Einzelemente und auf deren Verfugung hin analyieren. Eben dies tut die Dekonstruktion. Sie rekonstruiert Texte. Dekonstruktion ist keine Methode, sondern nicht mehr und nicht weniger als das praktizierte Ethos äußerster Genauigkeit (Kritiker meinen: hypertropher Genauigkeit) bei der Lektüre von Texten, die Aufschluß über relevante Themen und Probleme (Wahrheit, Sinn, Gerechtigkeit. Verständigung, Kommunikation, Präsenz, Tod) versprechen. Dekonstruktion ist rekonstruierende Lektüre ..." (Jochen Hörisch)




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Tommy hat geschrieben :
Do 12. Apr 2018, 20:08
Keiner kann behaupten, dass er den anderen (vollständig?) versteht!
Ist das jetzt hart... oder eigentlich ganz normal?

(Ich glaube es ist normal. Diese Befürchtung hatte ich schon immer :-) )
Wirklich normal? Ich glaube eher, dass es einfach falsch ist. Der Grund dafür ist dies: Verstehen und Bedeutung hängen ganz dicht zusammen. Es gibt keine Bedeutung, wenn es kein Verstehen gibt. Kommunikation ist bestimmt nicht entstanden, weil einer was gesagt hat und die anderen haben gegrübelt, was es bedeuten könnte :-)

Verstehen und und Bedeutung sind gleichursprünglich. Das ist die Basis der Kommunikation. Natürlich gibt es im Alltag oder auch bei der Lektüre Missverständnisse, keine Frage. Aber das basiert auf einem viel größeren Feld des grundlegenden gegenseitigen Verstehens. Diese Basis ist aber "unsichtbar". Sie wird nicht thematisch - warum auch? Sie funktioniert ja. Die Irrtümer und Missverständnisse hingegen geraten und en Blick, will sie Störungen darstellen. Sie Falle auf - und dann kann der Eindruck entstehen, dass man den anderen nie versteht, wahrend man nicht merkt, dass Missverständnisse Inseln sind im Meer des Verstehens :-)




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