Der Link von @'Stefanie' führt ins Archiv von Zeit.Online. In dem verlinkten Artikel über Sarah Kofman findet sich folgender Absatz, der vor dem Hintergrund des darauf folgenden kurzen Interviewausschnitts es ganz interessant ist und und zwar wegen der Verblüffung die Jürg Altwegg konstatiert.Stefanie hat geschrieben : ↑So 29. Apr 2018, 21:49Ein weiteres Puzzlestück zu Sarah Kofman:
http://altesblog.zeit.de/1989/31/fuer-j ... ettansicht
Jetzt, in ihrem neuen Buch, spricht die Autorin wieder von der „Möglichkeit einer neuen Ethik“, von einer erneuerten „Gemeinschaft der Menschen“, die sich auf Vernunft stützen müsse. „Das sind verblüffende Sätze“, konstatiert Jürg Altwegg im Vorwort, „überraschende Hoffnungen“ auf eine Veränderung der philosophischen Landschaft Frankreichs. Die Rehabilitierung und Renaissance intellektueller, moralischer und politischer Werte, so Jürg Altwegg, komme nicht nur bei Sarah Kofman aus der Beschäftigung „mit dem totalen Trauma, das sie kompromittiert hatte“.
Es gibt ein Buch aus den 80er Jahren mit Interviews französischer Philosophen. Ich hab online danach gesucht, aber nichts gefunden. Florian Röther interviewt unter anderen auch Jacques Derrida. Um ein Gefühl für Derrida zu bekommen, zitiere ich Mal die erste Frage und Derridas Antwort. In die Antwort von Jacques Derrida füge ich einige Absätze ein - der besseren Leserlichkeit halber.
Rötzer: In Deutschland führt man gegenwärtig eine Auseinandersetzung iiber Rationalität und Irrationalität einer radikalen Vernunftkritik. Kritisiert werden französische Philosophen, die sich einer rationalen Argumentation entziehen oder sie verweigern. Gibt es in Frankreich einen derartigen Trend des Philosophierens, der in Richtung Irrationalität geht?
Derrida: Zunächst einmal möchte ich eine Vorsichtsmaßnahme treffen, nämlich die, es abzulehnen, von »der« französischen Philosophie zu sprechen. Wenn wir heute in der deutsch-französischen Debat te eine Klärung nötig haben, dann müssen wir soweit wie möglich versuchen, nicht zu pauschalisieren und nicht von »der« deutschen und »der« französischen Philosophie zu sprechen. Ich werde also das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, nicht im Namen »der« französischen Philosophie sagen, sondern von einem Standpunkt aus, der meiner oder vielleicht der von ein paar Philosophen ist, die mir nahestehen: innerhalb des französischen Gebietes der Philosophie gibt es viele Diskontinuitäten, Brüche und Konflikte.
Nachdem ich diese erste Vorsichtsmaßnahme getroffen habe, muß ich sagen, daß ich über die Bezichtigung des Irrationalismus oder des Antirationalismus erstaunt bin. In der Philosophiegeschichte hat man niemals einen Philosophen des Irrationalismus verdächtigt, wenn er Fragen hinsichtlich der Vernunft gestellt hat. Wenn es hier und dort in Frankreich eine Vernunftkritik gibt, z.B. von mir selbst, dann bedeutet das ganz und gar nicht ein Verwerfen der Vernunft, eine Tendenz zum Irrationalismus, sondern im Gegenteil in großem Maße eine Verantwortlichkeit und ein Bewußtwerden der Verantwortlichkeit des Philosophen vor der Vernunft. Wenn man fragt, wie die Geschichte der Vernunft verlaufen ist, woher das Vernunftprinzip kommt, welches die verschiedenen Formen von klassischer oder moderner Rationalität sind, so nimmt man nicht notwendigerweise eine irrationale Position ein. Fragt man nach dem Ursprung des Vernunftprinzips, dem Satz vom Grund (i.o.dt.), so wird diese Frage selbstverständiich nicht von der Vernunft reguliert, ist sie nicht einfach der Autorität des Vernunftsprinzips unterworfen. Dazu bedarf es tatsächlich eines gewissen Heraustreten aus dem Legitimationsgebiet, das vom Vernunftprinzip definiert wird. Aber dieses Heraustreten steht nicht im Gegensatz zum Vernunftprinzip, sondern es eröffnet erst die Möglichkeit, die Vernunft zu befragen.
Mir scheint also der Gegensatz zwischen Rationalismus und Irrationalismus, wie er sich heutzutage mitunter in Deutschland und auch in Frankreich verhärtet, höchst groß zu sein. Man möchte jegliche Frage hinsichtlich der Vernunft unter dem Vorwand verbieten, anzweifeln oder zensieren, daß sie eine Irrationalismusgefahr verbreite, natürlich mit der politischen Bedrohung, die man dahinter ahnt. Ich spreche hier von Politik, weil ich glaube, daß die Situation, auf die Sie angespielt haben, sich größtenteils aus der Erinnerung (mémoire) an die jeweilige politische Geschichte unserer beiden Länder erklärt.
Wenn man von Deutschland aus wahrnehmen will, was in Frankreich geschieht, muß man die Texte differenziert lesen und dabei berücksichtigen, daß sowohl die historische als auch die politische und philosophische Lage in Frankreich anders ist. So haben z.B. Bezugnahmen auf Nietzsche oder auf Heidegger in Frankreich nicht denselben Stellenwert oder dieselbe Bedeutung und man muß damit vielleicht nicht dieselbe Gefahr laufen wie in Deutschland. Deshalb, da sich diese Frage nun einmal zu Beginn unseres Gespräches stellt, sind Zeitungsartikel und Radiogespräche selbstverständlich nützlich für den deutsch-französischen Austausch, aber es muß auch eine geduldige Arbeit in den Universitäten an den Texten geleistet werden. Dabei sollten Etikettierungen, Pauschalisierungen und vorschnelle Synthesen vermieden werden.
Quelle: http://www.boerverlag.de/ROETZER1.HTM