Jacques Derrida im Interview mit Florian Rötzer

Jacques Derrida war ein französischer Philosoph, der als Begründer und Hauptvertreter der Dekonstruktion gilt.
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Jörn Budesheim
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Di 1. Mai 2018, 08:35

Stefanie hat geschrieben :
So 29. Apr 2018, 21:49
Ein weiteres Puzzlestück zu Sarah Kofman:

http://altesblog.zeit.de/1989/31/fuer-j ... ettansicht
Der Link von @'Stefanie' führt ins Archiv von Zeit.Online. In dem verlinkten Artikel über Sarah Kofman findet sich folgender Absatz, der vor dem Hintergrund des darauf folgenden kurzen Interviewausschnitts es ganz interessant ist und und zwar wegen der Verblüffung die Jürg Altwegg konstatiert.
Jetzt, in ihrem neuen Buch, spricht die Autorin wieder von der „Möglichkeit einer neuen Ethik“, von einer erneuerten „Gemeinschaft der Menschen“, die sich auf Vernunft stützen müsse. „Das sind verblüffende Sätze“, konstatiert Jürg Altwegg im Vorwort, „überraschende Hoffnungen“ auf eine Veränderung der philosophischen Landschaft Frankreichs. Die Rehabilitierung und Renaissance intellektueller, moralischer und politischer Werte, so Jürg Altwegg, komme nicht nur bei Sarah Kofman aus der Beschäftigung „mit dem totalen Trauma, das sie kompromittiert hatte“.

Es gibt ein Buch aus den 80er Jahren mit Interviews französischer Philosophen. Ich hab online danach gesucht, aber nichts gefunden. Florian Röther interviewt unter anderen auch Jacques Derrida. Um ein Gefühl für Derrida zu bekommen, zitiere ich Mal die erste Frage und Derridas Antwort. In die Antwort von Jacques Derrida füge ich einige Absätze ein - der besseren Leserlichkeit halber.

Rötzer: In Deutschland führt man gegenwärtig eine Auseinandersetzung iiber Rationalität und Irrationalität einer radikalen Vernunftkritik. Kritisiert werden französische Philosophen, die sich einer rationalen Argumentation entziehen oder sie verweigern. Gibt es in Frankreich einen derartigen Trend des Philosophierens, der in Richtung Irrationalität geht?

Derrida: Zunächst einmal möchte ich eine Vorsichtsmaßnahme treffen, nämlich die, es abzulehnen, von »der« französischen Philosophie zu sprechen. Wenn wir heute in der deutsch-französischen Debat te eine Klärung nötig haben, dann müssen wir soweit wie möglich versuchen, nicht zu pauschalisieren und nicht von »der« deutschen und »der« französischen Philosophie zu sprechen. Ich werde also das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, nicht im Namen »der« französischen Philosophie sagen, sondern von einem Standpunkt aus, der meiner oder vielleicht der von ein paar Philosophen ist, die mir nahestehen: innerhalb des französischen Gebietes der Philosophie gibt es viele Diskontinuitäten, Brüche und Konflikte.

Nachdem ich diese erste Vorsichtsmaßnahme getroffen habe, muß ich sagen, daß ich über die Bezichtigung des Irrationalismus oder des Antirationalismus erstaunt bin. In der Philosophiegeschichte hat man niemals einen Philosophen des Irrationalismus verdächtigt, wenn er Fragen hinsichtlich der Vernunft gestellt hat. Wenn es hier und dort in Frankreich eine Vernunftkritik gibt, z.B. von mir selbst, dann bedeutet das ganz und gar nicht ein Verwerfen der Vernunft, eine Tendenz zum Irrationalismus, sondern im Gegenteil in großem Maße eine Verantwortlichkeit und ein Bewußtwerden der Verantwortlichkeit des Philosophen vor der Vernunft. Wenn man fragt, wie die Geschichte der Vernunft verlaufen ist, woher das Vernunftprinzip kommt, welches die verschiedenen Formen von klassischer oder moderner Rationalität sind, so nimmt man nicht notwendigerweise eine irrationale Position ein. Fragt man nach dem Ursprung des Vernunftprinzips, dem Satz vom Grund (i.o.dt.), so wird diese Frage selbstverständiich nicht von der Vernunft reguliert, ist sie nicht einfach der Autorität des Vernunftsprinzips unterworfen. Dazu bedarf es tatsächlich eines gewissen Heraustreten aus dem Legitimationsgebiet, das vom Vernunftprinzip definiert wird. Aber dieses Heraustreten steht nicht im Gegensatz zum Vernunftprinzip, sondern es eröffnet erst die Möglichkeit, die Vernunft zu befragen.

Mir scheint also der Gegensatz zwischen Rationalismus und Irrationalismus, wie er sich heutzutage mitunter in Deutschland und auch in Frankreich verhärtet, höchst groß zu sein. Man möchte jegliche Frage hinsichtlich der Vernunft unter dem Vorwand verbieten, anzweifeln oder zensieren, daß sie eine Irrationalismusgefahr verbreite, natürlich mit der politischen Bedrohung, die man dahinter ahnt. Ich spreche hier von Politik, weil ich glaube, daß die Situation, auf die Sie angespielt haben, sich größtenteils aus der Erinnerung (mémoire) an die jeweilige politische Geschichte unserer beiden Länder erklärt.

Wenn man von Deutschland aus wahrnehmen will, was in Frankreich geschieht, muß man die Texte differenziert lesen und dabei berücksichtigen, daß sowohl die historische als auch die politische und philosophische Lage in Frankreich anders ist. So haben z.B. Bezugnahmen auf Nietzsche oder auf Heidegger in Frankreich nicht denselben Stellenwert oder dieselbe Bedeutung und man muß damit vielleicht nicht dieselbe Gefahr laufen wie in Deutschland. Deshalb, da sich diese Frage nun einmal zu Beginn unseres Gespräches stellt, sind Zeitungsartikel und Radiogespräche selbstverständlich nützlich für den deutsch-französischen Austausch, aber es muß auch eine geduldige Arbeit in den Universitäten an den Texten geleistet werden. Dabei sollten Etikettierungen, Pauschalisierungen und vorschnelle Synthesen vermieden werden.

Quelle: http://www.boerverlag.de/ROETZER1.HTM




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Stefanie
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Di 1. Mai 2018, 20:17

Ehrlich, ich stehe verstandesmäßig auf dem Schlauch.

Wo ist der Zusammenhang?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Enno
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Di 1. Mai 2018, 22:51

Derrida ist mir über Rudolf Kaehr bekannt geworden, ohne sagen zu können, dass ich mehr als ein paar Seiten von Derrida gelesen habe.

Ich finde Derridas Statement wunderbar. Allein die Fragestellung des Interviewers zeigt das Problem. Die Limitiertheit des Denkens in Gegensätzen. Das Gegenteil von Rationalität muss zwangsläufig Irrationalität sein. Das ist die klassische Logik. Derridas Denken geht darüber hinaus. Rationalität/Irrationalität wird als Gesamtes negiert. Das Resultat ist die Frage nach dem Entstehen von Rationalität/Irrationalität. Wie Derrida schön sagt, tritt man aus dem Thema heraus, betrachtet das Problem von außen. Das ermöglicht ein ganz anders Verständnis.




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Jörn Budesheim
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Enno hat geschrieben :
Di 1. Mai 2018, 22:51
Derrida ist mir über Rudolf Kaehr bekannt geworden, ohne sagen zu können, dass ich mehr als ein paar Seiten von Derrida gelesen habe.

Ich finde Derridas Statement wunderbar. Allein die Fragestellung des Interviewers zeigt das Problem. Die Limitiertheit des Denkens in Gegensätzen. Das Gegenteil von Rationalität muss zwangsläufig Irrationalität sein. Das ist die klassische Logik. Derridas Denken geht darüber hinaus. Rationalität/Irrationalität wird als Gesamtes negiert. Das Resultat ist die Frage nach dem Entstehen von Rationalität/Irrationalität. Wie Derrida schön sagt, tritt man aus dem Thema heraus, betrachtet das Problem von außen. Das ermöglicht ein ganz anders Verständnis.
Dass Derrida die Frage nach dem Entstehen von Rationalität/Irrationalität stellt, zeigt auch die Antwort auf die nächste Frage recht schön. (Ich füge, damit einem der Text nicht so unfreundlich entgegentritt wieder ein paar Absätze ein, die es im Original nicht gibt.)
Rötzer: Wenn Philosophieren heißt, Fragen auch bezüglich der Vernunft zu stellen, die aber selbst nicht durch die Vernunft kontrollierbar sind, gibt es dann überhaupt eine allgemeine philosophische Methode des Nachfragens?

Derrida: Das, was man in der Philosophiegeschichte Irrationalismus ge­nannt hat, ist zur selben Zeit aufgekommen wie die Etablierung des Vernunftprinzips. Bevor nicht die Vernunft im 17. Jahrhun­dert diese ganz besondere Form des Vernunftprinzips durch Leibniz angenommen hatte, gab es keine irrationale Philosophie. Irra­tionalismus und eine gewisse V ernunftposition sind also symme­trisch zueinander verlaufen. Und das Befragen der Vernunft, über ihre Herkunft, ihre Geschichte, ihre Grenzen, die Wirkungen, die ein gewisser Typus des Rationalismus haben kann, das Befra­gen über den Zusammenhang von Vernunft und Sinn, von Ver­nunft und Wissenschaft usw. muß in einem Gebiet geschehen, in dem der Irrationalismus keine Chance hat.

Der Irrationalismus ist sozusagen ein symmetrisches Zusammenschrumpfen des Ra­tionalismus. Die Fragen an die Vernunft, die mich interessieren, erscheinen mir sogar im Namen einer neuen »Aufklärung« (i.O.dt.) notwendig. Also kein Irrationalismus, vor allem kein methodischer.

Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren, Techniken hervorbringen, aber im Grund genommen ist sie keine Methode und auch keine wissenschaftliche Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll. Die Dekonstruktion ist keine Technik. Sie befaßt sich mit Texten, besonderen Situationen, Sig­naturen, mit der Gesamtheit der Philosophiegeschichte, in der sich der Begriff der Methode konstituiert hat. Wenn die Dekon­struktion die Geschichte der Metaphysik und die des Methoden­begriffs untersucht, kann sie sich nicht einfach selbst als Methode darstellen.

Ich würde nicht sagen, daß sich die Dekonstruktion im allgemeinen lehren läßt, aber sie kann einen gewissen Unter­richt erlauben und Regeln hervorbringen, die sich weitergeben lassen. Die Dekonstruktion ist also nicht einfach eine Methode der Lektüre von Texten im engen Sinne. Bei mir setzt die Dekon­struktion die Änderung der Begriffe Text und Schrift (ecriture) voraus. Was ich Text nenne, ist nicht mehr einfach das Buch in ei­ner Bibliothek. Ich habe aus strategischen Gründen, weil mir das in einer bestimmten Situation notwendig erschien, den Begriff des Textes verallgemeinert und als Text ebenso eine Institution wie eine politische Situation, einen Körper, einen Tanz usw. be­zeichnet, was offenbar zu vielen Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, denn man hat mich beschuldigt, alles zu textualisieren, die ganze Welt in ein Buch zu stecken, was offensichtlich absurd ist.




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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Di 1. Mai 2018, 20:17
Wo ist der Zusammenhang?
Sarah Kofman hat wohl viel mit Derrida zusammengearbeitet und auch über ihn geschrieben. Dass Kofman von einer erneuerten „Gemeinschaft der Menschen“, die sich auf Vernunft stützen müsse, hält Jürg Altwegg für "verblüffende Sätze" wie man dort liest. Das hat mich ganz spontan an Derridas Statement erinnert, insbesondere an diesen Teil: "Wenn es hier und dort in Frankreich eine Vernunftkritik gibt, z.B. von mir selbst, dann bedeutet das ganz und gar nicht ein Verwerfen der Vernunft, eine Tendenz zum Irrationalismus, sondern im Gegenteil in großem Maße eine Verantwortlichkeit und ein Bewußtwerden der Verantwortlichkeit des Philosophen vor der Vernunft."




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Jörn Budesheim
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Fr 4. Mai 2018, 08:49

Derrida hat geschrieben : Aber dieses Heraustreten steht nicht im Gegensatz zum Vernunftprinzip, sondern es eröffnet erst die Möglichkeit, die Vernunft zu befragen.
Enno hat geschrieben :
Di 1. Mai 2018, 22:51
Wie Derrida schön sagt, tritt man aus dem Thema heraus, betrachtet das Problem von außen.
Hier fragt sich natürlich, was/wo dieses "außen" ist. Ich für meinen Teil glaube nicht so ohne weiteres, dass man die Vernunft "von außen verstehen kann. Was heißt das? Worauf läuft das hinaus? Auf ein Historisierung? Relativierung? Naturalisierung?

Ich gebe aber freimütig zu, dass ich das Interview noch nicht zur Gänze gelesen habe ... ich dachte nur, es könnte für unser kleines Projekt hilfreich sein, mal die "Stimme" Derridas zu hören :-)




Enno
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So 6. Mai 2018, 23:33

Ein spannendes Thema.
Ich versuch mal ein anschauliches Beispiel. Das Schwarze Quadrat von Malewitsch.

Das Bild rational zu betrachten bedeutet, das Bild völlig isoliert zu betrachten. Es läßt sich in Form, Farbe, Größe leicht beschreiben. Man fertig also eine komplette und absolut vollständige Beschreibung des Bildes an, so wie man ein technisches Gerät beschreiben würde. Rational, analytisch, technisch, funktional, objektiv.

Die andere Sichtweise ist, den Betrachter des Bildes und das Bild selbst als Teil eines Kommunikationszusammenhanges zu betrachten. Der Betrachter ist gezwungen, sich zu dem Bild zu verhalten. In seinem Inneren läuft ein Prozess der Meinungsbildung ab (bei einigen geht das sehr schnell). Am Ende des Prozesses steht die mehr oder weniger gut formulierte rationale Meinung/Aussage/Bescheibung.
(Auch der Entstehungsprozess des Bildes lässt sich als Kommunikationszusammenhang verstehen.)

Kurz gesagt (das ist jetzt nur meine Interpretation), geht es Derrida beim 'Außen' um mehr, als das rational Beschreibbare, es geht um den gesamten, wie ich es nannte, Kommunikationszusammenhang, der die Rationalität hervorbringt und sich auch wieder darauf beziehen kann. Dass das nichts mit Irrationaltät zu tun hat, ist offensichtlich. Es geht um Verhältnis von Entstehen und Entstandenem. (Ging es jemals um etwas anderes? ;) )




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Jörn Budesheim
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Mo 7. Mai 2018, 09:02

Derrida hat geschrieben : Heraustreten
Enno hat geschrieben :
Di 1. Mai 2018, 22:51
außen
Enno hat geschrieben :
So 6. Mai 2018, 23:33
Teil eines Kommunikationszusammenhanges
"Heraustreten" und "außen" - das sind räumliche Metaphern. Damit sind natürlich nicht Räume gemeint, die sich in Metern messen ließen. Wichtig dürfte daher die Frage sein, wie sich so ein Raum konstituiert und was das für den Blick von außen bzw. für das Heraustreten bedeutet.

Nehmen wir dazu also als Beispiel den Malewitsch. Ich sehe es (in manchen Hinsichten) so ähnlich wie du: die Arbeit von außen zu betrachten, hieße (beispielsweise) Form, Farbe, Größe, Gewicht, Maße etc. zu beschreiben. Warum ist das eine Betrachtung von außen? Weil die Arbeit nicht gemäß der Ordnung des Raumes betrachtet wird, zu dem es als Bild zählt, sondern nach Art einer anderen Ordnung, sagen wir einer "physischen" Ordnung. (Es gibt diverse anderes Außenbereiche natürlich, man könnte auch ein wirtschaftliche Betrachtung machen, zum Beispiel in folgender Art: Malewitsch hat nach einem Alleinstellungsmerkmal gesucht, um seinen Marktwert zu erhöhen. Auch das wäre eine Außenbetrachtung.)

Eine Innenbetrachtung stelle ich mir anders vor, sie vollzieht sich gemäß der Ordnung des Raumes, zu dem das Bild als Bild zählt: Zu dieser Ordnung des Bildes gehört unüberschaubar vieles, was man als Betrachter keineswegs alles kennen muss oder kann - manchmal ist es sogar das Ziel der Betrachtung, diesen Raum überhaupt erst zu erkunden. Was kann dazu gehören? Zum Beispiel: diverse Ausschnitte aus der Kunstgeschichte, die Entwicklung Malewitschs selbst, seine Vorstellungen von Suprematismus, die Phänomenologie des Bildes (ich hab's nie gesehen, Welsch beschreibt das Schwarz und seine Wirkung irgendwo sehr eindrücklich - das soll sehr beeindruckend sein) Insbesondere gehört man (richtig justiert) selbst zu dieser Ordnung. Man ist selbst Teil dieser Ordnung. Das was diese Arbeit als Kunstwerk ausmacht, kann man nach meinem Verständnis nur von innen verstehen. Zu dieser Ordnung gehört man - wie gesagt - selbst, zum Beispiel mit den ästhetischen- und Werterfahrungen, die man an dem Bild machen kann.

Das Gleiche kann man bei der Vernunft durchspielen. Eine Betrachtung von außen würde von der Ordnung, die den Raum der Vernunft konstituiert, absehen und - sagen wir - sie statt dessen als Effekt von Geld- oder Machtverhältnissen betrachten. Oder man wirft den Hirnscanner an und schaut auf das Gehirn als biologisches Phänomen. Das sind Beispiele für Betrachtungen von außen.

Die Frage wäre nun: was schwebt Derrida selbst vor? Daher hab ich oben geschrieben: Hier fragt sich natürlich, was/wo dieses "außen" ist. Ich für meinen Teil glaube nicht so ohne weiteres, dass man die Vernunft "von außen verstehen kann. Was heißt das? Worauf läuft das hinaus? Auf ein Historisierung? Relativierung? Naturalisierung?

Dass die Vernunft sich selbst zum Objekt machen kann und wir damit dieses Bild von der Außenbetrachtung in irgendeiner Form auch wieder aufrufen ... macht die Sache nicht gerade leichter :-)




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Friederike
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Mo 7. Mai 2018, 10:04

Ich möchte eine Verständnisfrage zwischendurch stellen, die sich nicht auf das Innen und Außen bezieht, sondern auf den thematisierten Gegenstand selbst.
R/D hat geschrieben : Derrida: Das, was man in der Philosophiegeschichte Irrationalismus ge­nannt hat, ist zur selben Zeit aufgekommen wie die Etablierung des Vernunftprinzips. Bevor nicht die Vernunft im 17. Jahrhun­dert diese ganz besondere Form des Vernunftprinzips durch Leibniz angenommen hatte, gab es keine irrationale Philosophie. Irra­tionalismus und eine gewisse V ernunftposition sind also symme­trisch zueinander verlaufen. Und das Befragen der Vernunft, über ihre Herkunft, ihre Geschichte, ihre Grenzen, die Wirkungen, die ein gewisser Typus des Rationalismus haben kann, [...]
Verstehe ich es richtig, daß Derrida die Vernunft als einen gewissen Typus der Rationalität ansieht? Und falls ja, was ist denn das Spezifische dieses Rationalitätstypus? Bei meinem Versuch, etwas über das Vernunftprinzip, das wohl auch noch etwas Anderes ist als die Vernunft, herauszubekommen, bin ich gescheitert. Was unterscheidet das Vernunftprinzip (Satz vom Grund) von der Rationalität bzw. inwiefern ist dieses Prinzip ein Sonderfall von Rationalität. Könntet Ihr mir kurz auf die Sprünge helfen?

Ich lese Euer Gespräch interessiert mit. Zur Frage nach der Möglichkeit des Heraustretens aus dem Bereich, den man jeweils einer Kritik unterziehen möchte, sagt Derrida (Unterstreichung von mir):
R/D hat geschrieben : Fragt man nach dem Ursprung des Vernunftprinzips, dem Satz vom Grund (i.o.dt.), so wird diese Frage selbstverständiich nicht von der Vernunft reguliert, ist sie nicht einfach der Autorität des Vernunftsprinzips unterworfen. Dazu bedarf es tatsächlich eines gewissen Heraustreten aus dem Legitimationsgebiet, das vom Vernunftprinzip definiert wird.
Das ist natürlich recht langweilig im Vergleich mit Euren grundlegender schürfenden Überlegungen, aber ein "gewisses" Heraustreten relativiert das Heraustreten. Es ist eine bestimmte, eine modifizierte Form des Heraustretens. Man tritt zwar raus, aber eben doch nicht vollständig.




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Jörn Budesheim
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Di 8. Mai 2018, 06:18

Ich hab das erste Wort des Interviews zitiert und nun noch das letzte :-) weil es zu einigem, was hier geschrieben wurde passt, vielleicht bietet es auch eine Antwort auf Friederikes Frage(n). Es kommen die Bereiche und ihre Ordnungen vor sowie deren Grenzen und damit die Grenzgänge und Überschreitungen.

[Absätze wie immer von mir]

Florian Rötzer: Meine [vorherige] Frage zielt darauf ab, ob das, was Sie machen, einer legitimen Kritik zu unterziehen ist, oder können Sie machen, was Sie wollen?

Jacques Derrida: Es ist in der Tat keine Kritik an dem, was ich mache, möglich. Sie können das ruhig schreiben. Es ist keine Kritik als Kritik möglich.

Was man kritisieren kann - und da akzeptiere ich die Kritik und die Argumentation -, das ist die Art und Weise, wie die Dekonstruktion in einem gegebenen Kompetenzgebiet interveniert. Wenn ich z.B. Kant von einem dekonstruktiven Standpunkt aus lese und weiß, daß es eine kompetente Lektüre geben kann, dann kann ich nicht irgend etwas Beliebiges sagen. In dem Augenblick also, in dem die Dekonstruktion sich äußert, in dem sie in eine Auseinandersetzung (i.O.dt.) mit einem Text von Kant eintritt, mit einem wissenschaftlichen Lehrsatz oder mit der Linguistik, in dem Augenblick akzeptiere ich die Kritik, weil diese Gebiete Argumentations- und Gültigkeitsregeln besitzen.

Aus der dekonstruktiven Perspektive kann es mir passieren, dummes Zeug oder Unfug über diesen oder jenen wissenschaftlichen Lehrsatz oder diese oder jene Fügung eines philosophischen Systems von mir zu geben. Darüber kann man diskutieren. Sobald ich trotz allem Interpretationen von Kant, von Platon und von der Linguistik vorschlage, kann ich kritisiert werden.

Ich versuche oft, selbst zu überprüfen, was ich geschrieben habe, Irrtümer zu korrigieren, wenn ich welche gemacht habe. Das ist möglich. Kritisierbar ist in diesem Fall das, was sich innerhalb eines gegebenen Gebietes bewegt und sich dessen Regeln fügen muß, und in dem Augenblick kritisierbar wird, in dem es sich den Regeln nicht fügt.

Aber der Typus dekonstruktiver Fragen, den ich letzten Endes stellen will und der die Grenzen des Gebietes betrifft, kann nicht der immanenten Kritik des Gebietes unterworfen werden. Deshalb sagte ich, daß die Dekonstruktion nicht kritisierbar ist.

Als solche ist sie nicht kritisierbar, aber alles, was sie macht, alles, was sie sagt, kann insoweit kritisiert werden, als es die Form von Aussagen annimmt, die sich auf bestimmte Gebiete beziehen. Deshalb bin ich im Unterricht mit den Studenten eher anspruchsvoll. Ich glaube nicht, daß man irgend etwas Beliebiges sagen darf. Ich bin für die Disziplin. Aber ich bin in einer Situation, in der das Verhältnis zwischen der Disziplin und dem Undisziplinierbaren immer offen ist. Das ist freilich ziemlich kompliziert.




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Friederike
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Di 8. Mai 2018, 17:26

Ich nehme mir einen Kant-Text vor und untersuche ihn daraufhin, ob und inwiefern das anscheinend geschlechtslose "Wesen" oder die anscheinend geschlechtslose "Urteilskraft" tatsächlich gar nicht geschlechtslos, sondern "männlich" sind. Einerseits würde den Argumentationen von Kant gefolgt, andererseits würde durch eine von außen herangetragene Fragestellung, die gar nicht im Blickfeld des Autors liegt, der Text dekonstruierend gelesen.
Das ist mein Kurzversuch, die letzten Interviewaussagen D's beispielhaft anzuwenden.

NS: Ich lasse es stehen, als Ansatz, der aber weiter ausgeführt gehört. Mir scheint das Beispiel eher die Inhalte eines Textes zu betreffen und weniger die Methoden. Mit "Methoden" meine ich die Formen des Denkens, die außerhalb oder innerhalb eines Textes angewendet werden bzw. mit denen die Grenzen eines Gebietes gesteckt werden sollen.

*NS: Eben las ich, binäre Oppositionen seien in Texte eingeschrieben und sie offenzulegen, sei auch dekonstruierend.

Derrida ist eine harte Nuss.




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