Mereologischer Fehlschluss

Argumente gehören zum Kernbestand der Philosophie. Die Argumentationstheorie ist derjenige Bereich Philosophie, der sich mit der Form und dem Gebrauch von Argumenten befasst.
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Consul
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"Mereology is the logic of part/whole relations. The neuroscientists’ mistake of ascribing to the constituent parts of an animal attributes that logically apply only to the animal as a whole we shall call ‘the mereological fallacy’ in neuroscience. The principle that psychological predicates which apply only to human beings (or other animals) as wholes cannot intelligibly be applied to their parts, such as the brain, we shall call ‘the mereological principle’ in neuroscience. Human beings, but not their brains, can be said to be thoughtful or thoughtless; animals, but not their brains, let alone the hemispheres of their brains, can be said to see or not to see, to hear or not to hear, to smell or not to smell and to taste or not to taste things; people, but not their brains, can be said to be decisive or to be indecisive."
———
"Mereologie ist die Logik der Teil/Ganzes-Beziehungen. Den Fehler der Neurowissenschaftler, den Bestandteilen eines Tieres Attribute zuzuschreiben, die logischerweise nur auf das Tier als Ganzes zutreffen, nennen wir 'den mereologischen Fehlschluss' in der Neurowissenschaft. Den Grundsatz, dass psychologische Prädikate, die nur auf menschliche Wesen (oder andere Tiere) als Ganze zutreffen, nicht in verständlicher Weise auf deren Teile wie das Gehirn angewandt werden können, nennen wir 'den mereologischen Grundsatz' in der Neurowissenschaft. Menschliche Wesen, aber nicht ihre Gehirne, können als gedankenvoll oder gedankenlos bezeichnet werden. Über Tiere, aber nicht über ihre Gehirne, geschweige denn über die Hemisphären ihrer Gehirne, kann man sagen, dass sie Dinge sehen oder nicht sehen, hören oder nicht hören, riechen oder nicht riechen, schmecken oder nicht schmecken. Personen, aber nicht ihre Gehirne, können als entschlossen oder unentschlossen bezeichnet werden."
[© meine Übers.]

(Bennett, M. R., & P. M. S. Hacker. Philosophical Foundations of Neuroscience. 2nd ed. Hoboken, NJ: Wiley Blackwell, 2022. p. 84)
"The brain is the organ of consciousness, not the subject of consciousness—unless I am myself my brain. The nose, similarly, is the organ of smell and not the subject of smell—unless I am myself my nose."
———
"Das Gehirn ist das Organ des Bewusstseins, nicht das Subjekt des Bewusstseins—es sei denn, ich bin mein Gehirn. Die Nase ist gleichermaßen das Geruchsorgan und nicht das Geruchssubjekt—es sei denn, ich bin meine Nase."
[© meine Übers.]

(Chisholm, Roderick M. On Metaphysics. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 1989. p. 126)
Dahinter steht die folgende Frage: Was für eine Art von Dingen sind psychologische Subjekte? (Was bin ich als psychologisches Subjekt?)

Bennett & Hacker setzen voraus, dass wir Tiere sind. Diese Ansicht nennt man Animalismus, aber sie wird nicht von allen Philosophen geteilt. Es gibt mehrere andere Standpunkte bei diesem Thema—darunter einen, den ich als Zerebralismus bezeichne:
"Each person is the subject of the relevant PF [psychological framework] or psychological bundle. We who are materialists hold that in actual fact the thing that thinks, feels, and so on is a certain material thing, most plausibly a brain. So, in actual fact each person is a brain.
...
On my proposal, then, persons are neither egos nor bundles. They are the subjects of appropriately complex psychological bundles. In actual fact, I claim, these subjects are brains insofar as those brains are in the appropriate physical states (states sufficient for psychological states making up a single PF)."
———
"Jede Person ist das Subjekt des relevanten psychologischen Rahmens oder Bündels [psychologischer Eigenschaften—hinzugefügt]. Wir Materialisten sind der Meinung, dass das Ding, das denkt, fühlt usw. tatsächlich ein bestimmtes materielles Ding ist, am glaubhaftesten ein Gehirn. Jede Person ist also in der Tat ein Gehirn.
...
Meinem Vorschlag nach sind Personen weder Egos noch Bündel. Sie sind die Subjekte angemessen komplexer psychologischer Bündel. Ich behaupte, dass diese Subjekte tatsächlich Gehirne sind, insofern sich jene Gehirne in den geeigneten physikalischen Zuständen befinden (Zustände, die für psychologische Zustände hinreichend sind, welche einen einzelnen psychologischen Rahmen bilden)."
[© meine Übers.]

(Tye, Michael. Consciousness and Persons: Unity and Identity. Cambridge, MA: MIT Press, 2003. pp. 142-3)



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Jörn Budesheim
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Fr 17. Mai 2024, 13:46

Ich denke, es ist zweifellos richtig, dass wir auch Tiere sind. Das kann man wohl nicht ernsthaft bezweifeln. Aber für die vorliegende Frage ist es meines Erachtens nicht von größerer Bedeutung, ob und wie wir eine "Grenze" zwischen uns und den anderen Tieren ziehen, denn wenn ich sagen würde, das Gehirn meiner Katze hat Hunger, wäre das der gleiche Fehlschluss. In dem Thread ging es, soweit ich mich erinnere, im Wesentlichen um Lebewesen.




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Consul
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Fr 17. Mai 2024, 14:22

"Here are some of the main proposed accounts of what we are (Olson 2007):

* We are biological organisms (“animalism”: van Inwagen 1990, Olson 1997, 2003a).

* We are material things “constituted by” organisms: a person is made of the same matter as a certain animal, but they are different things because what it takes for them to persist is different (Baker 2000, Johnston 2007, Shoemaker 2011).

* We are temporal parts of animals: each of us stands to an organism as your childhood stands to your life as a whole (Lewis 1976).

* We are spatial parts of animals: something like brains, perhaps (Campbell and McMahan 2016, Parfit 2012), or temporal parts of brains (Hudson 2001, 2007).

* We are partless immaterial substances—souls—as Plato, Descartes, and Leibniz thought (Unger 2006: ch. 7), or compound things made up of an immaterial soul and a biological organism (Swinburne 1984: 21).

* We are collections of mental states or events: “bundles of perceptions”, as Hume said (1978 [1739]: 252; see also Quinton 1962, Campbell 2006).

* There is nothing that we are: we don’t really exist at all (Russell 1985: 50, Unger 1979, Sider 2013).

There is no consensus or even a dominant view on this question."
——————
"Hier sind einige der Hauptauffassungen dessen, was wir sind (Olson 2007):

* Wir sind biologische Organismen ("Animalismus": van Inwagen 1990, Olson 1997, 2003a)

* Wir sind von Organismen "konstituierte" materielle Dinge: Eine Person besteht aus derselben Materie wie ein bestimmtes Tier, aber sie sind verschiedene Dinge, weil ihre Fortbestandsbedingungen verschieden sind (Baker 2000, Johnston 2007, Shoemaker 2011).

* Wir sind zeitliche Teile von Tieren: Jeder von uns verhält sich zu einem Organismus so, wie sich deine Kindheit zu deinen ganzen Leben verhält (Lewis 1976).

* Wir sind räumliche Teile von Tieren: Dinge wie Gehirne, vielleicht (Campbell and McMahan 2016, Parfit 2012), oder zeitliche Teile von Gehirnen (Hudson 2001, 2007).

* Wir sind teillose immaterielle Substanzen—Seelen—wie Platon, Descartes und Leibniz dachten (Unger 2006: ch. 7), oder zusammengesetzte Dinge, die aus einer immateriellen Seele und einem biologischen Organismus bestehen (Swinburne 1984: 21).

* Wir sind Sammlungen geistiger Zustände oder Ereignisse: "Bündel von Wahrnehmungen", wie Hume sagte (1978 [1739]: 252; siehe auch Quinton 1962, Campbell 2006).

* Es gibt nichts, das wir sind: Wir existieren nicht wirklich (Russell 1985: 50, Unger 1979, Sider 2013).

Es gibt bezüglich dieser Frage weder einen Konsens noch eine vorherrschende Ansicht."
[© meine Übers.]

Personal Identity: https://plato.stanford.edu/entries/identity-personal/



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Fr 17. Mai 2024, 15:07

So absurd er auch erscheinen mag, es gibt einen weiteren Vorschlag, der auf Roderick Chisholm & Peter Unger zurückgeht (die ihn aber selbst nicht sonderlich ernst nehmen): Jeder von uns ist eine einfache (unzusammengesetzte) materielle Substanz—ein bestimmtes Elementarteilchen in einem Gehirn, z.B. ein Elektron.



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Fr 17. Mai 2024, 15:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 13:46
Ich denke, es ist zweifellos richtig, dass wir auch Tiere sind. Das kann man wohl nicht ernsthaft bezweifeln.
Die Wahrheit des Animalismus wird de facto von vielen Philosophen ernsthaft bezweifelt oder bestritten. Dabei geht es übrigens nicht nur darum, was wir sind, sondern auch darum, was unsere Fortbestandsbedingungen (persistence conditions) sind. Das heißt, es geht um unsere diachronische numerische Identität.

Wenn wir Tiere sind, dann sind auch unsere Fortbestandsbedingungen die rein physischen eines tierischen Körpers—was bedeutet, dass das Vorhandensein psychischer Zustände für unsere Persistenz von einem Zeitpunkt zum anderen völlig unerheblich ist. Ein totes Tier ist immer noch ein Tier; und das bedeutet aus der Sicht des Animalismus, dass mein Tod nicht (unbedingt) das Ende meines Daseins ist. Ein totes Tier hört erst dann auf zu existieren, wenn es körperlich vernichtet ist (durch natürliche Verwesung oder Verbrennung). Falls die Todesursache die vollständige körperliche Zerstörung z.B. durch eine Explosion ist, dann endet das Dasein eines Tieres freilich mit dessen Tod.

Eines der stärksten Argumente gegen den Animalismus ist das folgende:
Stelle dir vor, dein Gehirn als Sitz deiner Psyche wird in einen anderen menschlichen Körper transplantiert, der danach aufwacht, sich für dich hält und all deine psychischen Charakteristika hat. Dem Animalismus zufolge bis du aber nicht jener andere Körper mit deinem Gehirn, der sich für Jörn Budesheim hält, sondern dein nun gehirnloser ursprünglicher Körper. Der andere Körper mit deinem Gehirn und deiner Psyche ist eine andere, numerisch verschiedene Person, während du als gehirnlose Leiche zurückbleibst. – Das erscheint sehr vielen Leuten als höchst unplausibel, aber Animalisten müssen hier in den sauren Apfel beißen; denn für sie spielen psychische Aspekte bei der Frage der Persistenz einer Person keinerlei Rolle.



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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 13:46
Ich denke, es ist zweifellos richtig, dass wir auch Tiere sind. Das kann man wohl nicht ernsthaft bezweifeln.
Consul hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 15:48
Die Wahrheit des Animalismus wird de facto von vielen Philosophen ernsthaft bezweifelt oder bestritten.
Das mag sein oder auch nicht. Ich schreibe allerdings etwas anderes, ich sage, dass es zweifellos richtig ist, dass wir auch Tiere sind.

Ich sehe allerdings (beim "Animalismus") nicht den Punkt für die Diskussion um den mereologischen Fehlschluss. Darauf habe ich weiter oben schon hingewiesen, denn es ist sicherlich ebenso falsch zu sagen, dass das Gehirn einer Katze Hunger hat; wer hier Hunger hat, ist die Katze.

Aus deinem Beiträgen hier im Faden geht für mich gar nicht hervor, welche Position du zum mereologischen Fehlschluss überhaupt einnimmst.




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Consul
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Fr 17. Mai 2024, 21:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 17:42
Das mag sein oder auch nicht. Ich schreibe allerdings etwas anderes, ich sage, dass es zweifellos richtig ist, dass wir auch Tiere sind.
Was sind wir denn noch?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 17:42
Ich sehe allerdings (beim "Animalismus") nicht den Punkt für die Diskussion um den mereologischen Fehlschluss. Darauf habe ich weiter oben schon hingewiesen, denn es ist sicherlich ebenso falsch zu sagen, dass das Gehirn einer Katze Hunger hat; wer hier Hunger hat, ist die Katze.
Aus deinem Beiträgen hier im Faden geht für mich gar nicht hervor, welche Position du zum mereologischen Fehlschluss überhaupt einnimmst.
Als Animalist sage ich, dass psychologische Subjekte Tiere sind (aber nicht notwendigerweise körperlich ganze, vollständige Tiere); und Tiere sind nur partiell (und nicht total) identisch mit ihren Gehirnen. Ich denke und fühle zwar mit meinem Gehirn als dem Organ meines Denkens und Fühlens, aber ich bin größer als es.



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Jörn Budesheim
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Sa 18. Mai 2024, 07:23

Consul hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 21:26
Ich denke und fühle zwar mit meinem Gehirn als dem Organ meines Denkens und Fühlens, aber ich bin größer als es.
Mit anderen Worten auch in deiner Sicht wäre die fragliche Redeweise vom Gehirn, das denkt falsch, richtig?




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Consul
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Sa 18. Mai 2024, 11:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 18. Mai 2024, 07:23
Consul hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 21:26
Ich denke und fühle zwar mit meinem Gehirn als dem Organ meines Denkens und Fühlens, aber ich bin größer als es.
Mit anderen Worten auch in deiner Sicht wäre die fragliche Redeweise vom Gehirn, das denkt falsch, richtig?
Ja. Mein Gehirn ist zwar die Quelle und der Sitz meines Denkens, und es bringt meine Gedanken hervor; aber es ist nicht der ganze Denker, sondern nur ein Teil davon.

Die Zerebralisten argumentieren dagegen, dass das Subjekt des Geistes nicht größer sein kann als das Organ des Geistes, weil nur darin und in keinem anderen Teil des Körpers geistige Ereignisse unmittelbar verursacht werden und stattfinden. Letzteres ist zwar wahr, aber daraus folgt für mich nicht, dass ein psychologisches Subjekt als Denker keine Teile haben kann, die nicht direkt an der Verursachung von Denkvorgängen beteiligt sind.

Außerdem kann man den Zerebralisten vorhalten, dass auch nicht alle Teile des Gehirns an allen psychischen Vorgängen oder Zuständen ursächlich beteiligt sind, sodass sie konsequenterweise sagen müssten, dass nicht das ganze Gehirn denkt oder fühlt, sondern nur ein bestimmter Teil davon.



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Jörn Budesheim
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Sa 18. Mai 2024, 11:50

Wenn das Gehirn die Gedanken hervorbringen würde, dann wäre es sicherlich klüger, das Denken zu lassen. Denn Denken ist schließlich ziemlich "teuer", mit anderen Worten wir wären mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von "der Evolution" längst aussortiert worden.

Aber das ist natürlich ein anderes Thema.




Timberlake
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Sa 18. Mai 2024, 21:18

Quk hat geschrieben :
Fr 17. Mai 2024, 10:33
Oje, jetzt geht das schon wieder los.

Das Lebewesen, das gerade am Sehen ist, nenne ich in diesem Moment das sehende Lebewesen; das Lebewesen im Ganzen als Sehsystem.

Deswegen schreibe ich System und nicht Sehsinn.
Oje , hast du denn nicht mein Beitrag 77909 dazu gelesen ? Darum ging es darin gar nicht , was du da "nennst" . Dazu nur mal zum Vergleich ..

Das Sehsystem des sehenden Lebewesen sieht
Der Sehsinn des sehenden Lebewesen sieht
hoheluft-magazin.de hat geschrieben : Na logisch! Der mereologische Fehlschluss


Es sei das Gehirn, das nachts um zehn noch ein Bier bestellt oder das sich an der bunten Vielfalt einer Blumenwiese erfreut. Das Gehirn würde handeln, wahrnehmen, fühlen, entscheiden – und manches davon sogar ohne unser Wissen.
...
Der Grund dafür lag (und liegt) darin, dass das Gehirn zwar eine notwendige und materiale Bedingung dafür ist, dass wir uns mit der Welt und eben auch: mit dem Gehirn gedanklich befassen können. Das konkrete Denken, darunter das logische, ist immer schon korrelativ mit der Existenz eines funktionierenden Gehirns verbunden. Daraus folgt aber keineswegs, dass das Gehirn das Denken im Sinne eines einfachen kausalen Determinismus verursacht ....
So wie es ein mereologischer Fehlschluss ist , dass es das Gehirn sei , dass nachts um zehn noch ein Bier bestellt , so ist es auch ein mereologischer Fehlschluss , dass es das Sehsystem oder der Sehsinn des sehenden Lebewesen sei , der anschließend dieses Bier an der Theke der Kneipe sieht. Obgleich das Sehsystem oder der Sehsinn zwar eine notwendige und materiale Bedingung für das Sehen ist , so folgt auch hier keineswegs daraus , dass es im Sinne eines einfachen kausalen Determinismus davon verursacht wird.

Merke

Der Fehlschluss versucht, den Horizont verfügbarer Informationen von Anfang an zu verkleinern. ( HOHE LUFT Magazin )

Um den Horizont verfügbarer Informationen von Anfang zu vergrößern , um nicht sogar gänzlich offen zu lassen , sagt am anstatt dessen besser ...

Das sehenden Lebewesen sieht mit dem Sehsystem
Das sehenden Lebewesen sieht mit dem Sehsinn.

Ob du nun "deswegen" System und nicht Sehsinn schreibst, hat mit einem mereologischen Fehlschluss somit also so rein gar nichts zu tun.




Wolfgang Endemann
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So 19. Mai 2024, 12:30

Wie wäre es mit ein paar begrifflichen Präzisierungen: Ein Organismus ist eine systemische Ganzheit auf der Grundlage einer Innen-Außen-Differenzierung und der Stabilisierung eines Funktionskomplexes, die Teile bilden wiederum organismische Subsysteme, können also relativ unabhängig funktionieren.
Ein Teilsystem ist das Wahrnehmungssystem, das teils mit anderen Subsystemen interagiert, teils im Kognitionssystem zentral erfaßt wird. Letzteres ist ein Subsystem, in dem das Ganze des Organismus repräsentiert ist als Ich, und dies auf zwei Weisen, bewußt und unbewußt, rational gedacht und gefühlt. Das Wahrnehmen endet in einem Kurzschluß, einem unmittelbaren Reflex, oder wird emotional oder kognitiv bearbeitet.
Es gibt also ein Sehen, das in einem Reflex endet, zB bei einem Lichtblitz zum Verschließen der Augen, und so nur einen Teil des Organismus betrifft, ein selektives Sehen, das unmittelbar, direkt vom emotionalen Apparat bearbeitet wird und zu einer Reaktion oder Reaktionsbereitschaft führt und insofern den Organismus als Ganzes betrifft, und es gibt ein Sehen, das selektiv ins Bewußtsein gelangt, das bewußt wahrgenommene Sehen, das damit von dem Organismus als Ganzem als seine Lage in seiner Umwelt reflektierend kognitiv bearbeitet wird. Dieses letztere spricht man dem Individuum als Subjekt zu.




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Jörn Budesheim
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So 19. Mai 2024, 18:17

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 19. Mai 2024, 12:30
Wie wäre es mit ein paar begrifflichen Präzisierungen
Das sind für mich ehrlich gesagt keine Präzisierungen, sondern nur neue Streitpunkte :) außerdem ist mir der Jargon viel zu technisch und zu distanziert, um über das Leben zu sprechen.




Wolfgang Endemann
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So 19. Mai 2024, 19:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Mai 2024, 18:17
Jargon viel zu technisch und zu distanziert, um über das Leben zu sprechen.
Ja, die kalte Rationalität. Adorno hat von der Eiswüste der Abstraktion geredet. Aber er hat sie nicht gescheut.




Timberlake
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Di 21. Mai 2024, 04:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Mai 2024, 18:17
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 19. Mai 2024, 12:30
Wie wäre es mit ein paar begrifflichen Präzisierungen
Das sind für mich ehrlich gesagt keine Präzisierungen ...
Ich ergänze , weil keinerlei Bezugnahme darauf , keine Präzisierungen bezüglich des Themas diese Thread , als da wäre " Mereologischer Fehlschluss". Dazu nur mal zur Erinnerung ...
Dia_Logos hat geschrieben :
Di 5. Dez 2017, 18:55
Mereologischer Fehlschluss

Um einen mereologischen Fehlschluss handelt es sich, wenn man Teil-Ganzes-Beziehungen falsch wiedergibt.

Der Homunkulus-Fehlschluss ist ein Beispiel dafür, weil die Prädikate, die auf die ganze Person zutreffen, nur auf einen Teil der Person bezogen werden: «Der kleine Mann im Kopf dreht das Wahrnehmungsbild um», «Das Gehirn entscheidet», «Das Über-Ich macht mir ein schlechtes Gewissen». Zwei Beispiele aus dem Alltag: «Die Stahlindustrie profitiert von Subventionen, also sollten wir alle Wirtschaftszweige subventionieren», «Das Team liefert hervorragende Leistungen. P ist Mitglied des Teams, also ist P sehr leistungsstark.» Mereologische Fehlschlüsse können sich mit statistischen Fehlschlüssen oder Korrelationsfehlschlüssen überschneiden.

Quelle(n):
Huebl Grundwissen Argumentationstheorie
.. und zum Vergleich ...
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 19. Mai 2024, 12:30
Wie wäre es mit ein paar begrifflichen Präzisierungen: Ein Organismus ist eine systemische Ganzheit auf der Grundlage einer Innen-Außen-Differenzierung und der Stabilisierung eines Funktionskomplexes, die Teile bilden wiederum organismische Subsysteme, können also relativ unabhängig funktionieren.
... wenn es hier heißt "Ein Organismus ist eine systemische Ganzheit " so würde das , weil ein " Organismus" sehr viel mehr, als eine "systemische Ganzheit" sein kann , unter einem mereologischen Fehlschluss fallen. Ganz so , wie wenn es heißt «Das Gehirn entscheidet». Kann doch auch ein Gehirn sehr viel mehr sein , als das es entscheidet. Somit in beiden Fällen eine Teil-Ganzes-Beziehungen falsch wiedergegeben wird . Finde zumindest ich.




Wolfgang Endemann
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Di 21. Mai 2024, 18:31

@ Jörn Budesheim, @ Timberlake
Die Organismus-Qualität ist genau die einer Ganzheit. Ein Organ in einem Organismus ist ein Teil des Organismus, der nicht ohne funktionales Äquivalent dem Organismus entnommen werden kann. Das ist die besondere Eigenschaft eines Organismus im Unterschied zu einem bloßen Konglomerat. Maschinen, technische Ganzheiten sind ebenfalls Systeme, aber eben keine organischen, da ist das Verhältnis von Teil zu Ganzem viel unproblematischer, es ist ein Ganzes, das summativ zusammengesetzt ist. Der Organismus ist organisch zusammengesetzt. Den Unterschied hat man mit dem Begriff "Seele" zu umschreiben versucht. Wann hört der Organismus auf, ein Organismus zu sein? Wann wird aus lebender tote Materie, wann ist der Haufen Mensch nur noch zusammenhangloses chemophysikalisches Sein?
MIt dieser Fragestellung habe ich mich beschäftigt, die die grundlegendste für das Verhältnis von Teil und Ganzem ist. Dazu gehört wesentlich die Frage, wie autonom ein Teil(system) sein kann. Arbeitet es relativ autonom, kann man die Leistung, die unverzichtbar für das Ganze ist, durchaus dem Teil zusprechen. Der Mensch denkt, aber er denkt mit dem kognitiven Apparat, der im Gehirn lokalisiert ist. Die Wahrnehmung läuft über das Nervensystem, teilweise vegetativ, teilweise wird es vorwiegend von der rechten (Emotionalität), teilweise vorwiegend von der linken Hirnhälfte (Rationalität) bearbeitet. Alle Reaktionsweisen stehen jedoch im Dienste des Gesamtorganismus.
Schade, daß das nicht verstanden wurde.




Nick Nickless
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Do 23. Mai 2024, 16:22

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Di 21. Mai 2024, 18:31
Maschinen, technische Ganzheiten sind ebenfalls Systeme, aber eben keine organischen, da ist das Verhältnis von Teil zu Ganzem viel unproblematischer, es ist ein Ganzes, das summativ zusammengesetzt ist. Der Organismus ist organisch zusammengesetzt. Den Unterschied hat man mit dem Begriff "Seele" zu umschreiben versucht.
Du meinst zwar etwas Richtiges, aber am entscheidenden Punkt gehst du auch vorbei. Jede Zusammensetzung ist eine äußerliche Beziehung von Teilen, Entitäten, Etwas, die für sich existieren, eine "organische Zusammensetzung" ist also ein Widerspruch in sich. Es geht letztlich darum, ein Denken zu finden, das Beziehung nicht notwendig als äußerliche, also mechanisch-maschinenförmige, denkt, sondern als wesentliche Beziehung, wo eben das eine nicht ist außerhalb seiner Beziehung auf das andere. Bei der Zusammensetzung existiert letztlich das eine Ganze gar nicht wirklich, sondern wirklich ist nur die Mehrheit der Teile oder deren bloß subjektive Zusammenfassung im Kopf als Aggregat, Maschine etc. Die Hand, abgetrennt vom Körper existiert nicht, ist keine Hand mehr, sagt Aristoteles, und zwar objektiv, nicht bloß sprachlich; und die Hand, Gehirn etc. in einer bloße äußerlichen Zusammensetzung, Kausalverbindung, chemischen Synthese etc. existiert dann eben im strengen Sinne auch nicht. Beim "System" kommt es genauso immer darauf an, ob man das äußerlich, an der abstrakten Identität, Gleichheit, entlang denkt, oder eben als eine wesentliche Bezüglichkeit.

Es ist letztlich die alte Frage nach dem Verhältnis von Einheit (Seele) und Vielheit (Teil), nach dem, was wirklich existiert, wo dann beim beim Leben eben die heute offenbar unvermeidliche äußerlich-mechanische Summation von ganz fraglos existierenden Punktmannigfaltigkeiten an ihre Grenze stößt. Das Leben ist das Eine (Keim, Seele, Ganze etc.), das sich aus sich selbst (nicht durch mech. Anstoß) als Vieles (Körper) entfaltet, nicht ins Blaue hinein, sondern das sich in das Eine (den Keim) zurücknimmt; und jeder der diesen einheitlichen Gedanken (dessen Teile für sich keinen Sinn haben) äußerlich-zusammensetzungsmäßig oder auch "funktional" zu reformulieren sucht, verfehlt den Sinn davon grundsätzlich, simuliert das Leben immer nur maschinenförmig; wie man es freilich tun muss, wenn man das Leben technisch beherrschen, manipulieren, kurieren etc. will. Wenn man aber technische Konzepte, den Mechanismus usw., mit der Wirklichkeit im strengen Sinn verwechselt, dann hat man mit seinem toten Verstand das Leben, das Selbstsein, die Selbstbewegung, auch das Selbsterkennen, grundbegrifflich getötet.




Wolfgang Endemann
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Fr 24. Mai 2024, 11:33

Nick Nickless hat geschrieben :
Do 23. Mai 2024, 16:22

Du meinst zwar etwas Richtiges, aber am entscheidenden Punkt gehst du auch vorbei.
Tue ich das?
<eine "organische Zusammensetzung" ist also ein Widerspruch in sich.>
Nein, denn ein organischer Zusammenhang ist auch ein "mechanisch"-summativer. Wenn wir von einem Organismus, einem Lebewesen, die Eigenschaft, als ein Ganzes zu existieren, also das Leben wegnehmen, bleibt ein materielles Substrat als äußerliche Summe von Einzelteilen. Bei komplexeren Lebensformen ist es noch komplizierter, da kann unter geeigneten Bedingungen die Eigenschaft "Leben" im Teil sogar erhalten bleiben, bis eine quantitative Minimalgröße unterschritten wird, die Leben nicht mehr zuläßt. Und ich sagte ja schon, daß Teile des Organismus durch funktional äquivalente technische Geräte ersetzt werden können, wenn sie nicht als organismusfremd abgestoßen werden. Er bleibt jedoch die große Grenze, an der die Summe zu einem Komplex integriert wird, also ein Organismus emergiert, oder genau diese Qualität verloren geht.
Anders ausgedrückt: Organismen liegen nicht in der Form eines (toten) Objekts vor, sind daher kategorial selbst von den kompliziertesten Maschinen(systemen) unterschieden, inkompatibel, sie bilden ein "Selbst" als Ergebnis einer Selbstorganisation. Der Verstand ist etwas organisches, die höchste Form des Organischen. Insofern gibt es keinen toten Verstand, nur kann der Verstand sich irren und darin versagen, den Unterschied von totem und lebendigem zu begreifen. Um diesen Unterschied zu benennen, differenziert man Verstand und Vernunft.




Timberlake
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Sa 25. Mai 2024, 00:22

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Di 21. Mai 2024, 18:31
Wann hört der Organismus auf, ein Organismus zu sein? Wann wird aus lebender tote Materie, wann ist der Haufen Mensch nur noch zusammenhangloses chemophysikalisches Sein?
MIt dieser Fragestellung habe ich mich beschäftigt, die die grundlegendste für das Verhältnis von Teil und Ganzem ist.
@Wolfgang Endemann

Nur leider hat diese Fragestellung bestenfalls mittelbar etwas mit einem Mereologischen Fehlschluss zu tun . So läuft ein Mereologischer Fehlschluss , zumindest gemäß dem , woraus @Dia_Logos dazu zitiert hat, unter der Überschrifft ...

GRUNDWISSEN
ARGUMENTATIONSTHEORIE

Die Frage "Wann hört der Organismus auf, ein Organismus zu sein?" ... interessiert vor diesem Hintergrund nur in sofern , auf welche Weise man eine mögliche Antwort dazu "argumentiert" . Was die Antwort beinhaltet .. und darauf zielt m.E deine Beschäftigung damit ab .. , spielt dabei , wenn überhaupt , nur eine untergeornetet Rolle.




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Jörn Budesheim
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Sa 25. Mai 2024, 07:10

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Di 21. Mai 2024, 18:31
Schade, daß das nicht verstanden wurde.
Ich denke, ich habe es im Großen und Ganzen verstanden. Ich bin nur nicht einverstanden.

Organismen sind Lebewesen. Das ist mir wichtig. Der Begriff Lebewesen hat den großen Vorteil, dass er erstens schöner ist und zweitens anschaulicher und damit drittens klarer zeigt, worum es eigentlich geht. Die Grundlage des Lebens von Lebewesen ist nicht eine Differenzierung von innen und außen, wie du schreibst. Lebewesen sind vielmehr Teil der belebten Natur, d.h. eines Beziehungsgeflechts mit anderen Lebewesen, die alle das in ihrem Körper verwurzelte Interesse zeigen, am Leben zu bleiben, zu wachsen und sich zu entfalten. Leben ist wertvoll. Das darf man in der Betrachtung nicht ausblenden. Mit anderen Worten, wir dürfen uns selbst als lebende Betrachterinnen nicht ausblenden. Denn nur wer selbst lebt, hat die notwendigen Sinne, um solche Werte zu erkennen und anzuerkennen. Das können wir an kein Elektronenmikroskop delegieren.

Dies ist der Ort, an dem unsere vielfältigen Sinne im Zusammenspiel ihren Sinn haben. "Sehen" zum Beispiel ist natürlich nicht etwas, das irgendwo im Körper stattfindet. Das wäre für meinen Geschmack ein lokalisatorischer Fehlschluss, der sicherlich mit dem mereologischen Fehlschluss eng verwandt ist.




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