Naturalistischer-/Sein-Sollen-Fehlschluss

Argumente gehören zum Kernbestand der Philosophie. Die Argumentationstheorie ist derjenige Bereich Philosophie, der sich mit der Form und dem Gebrauch von Argumenten befasst.
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Jörn Budesheim
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Mo 9. Apr 2018, 10:36

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 09:55
Sonst behauptet man einfach, dass man im Besitz der Wahrheit sei, die anderen im Irrtum und man das einfach glauben muss.
Das ist allerdings ein völlig anderer Sachverhalt. Ich behaupte schließlich nicht, im Besitz aller ethischen Wahrheiten zu sein, ich behaupte nur dass es ethische Wahrheiten gibt. Und das ist meines Erachtens auch der Grund, warum man im Alltag bei ethischen Konflikten oftmals seine Ansichten gegenüber den anderen begründet. Ich vertrete schließlich nicht die Ansicht, dass man seine ethischen Meinung nicht begründen kann, sondern die gegenteilige Ansicht dass man es kann. Aber daraus folgt nicht, dass es eine generelle Methode gibt, die ich angeben können muss, und gleichzeitig behaupten zu können dass es so etwas wie ethische Wahrheit gibt.

Wobei ja hier allein schon die Tatsache, dass man mit dem Anderen oder der Anderen in einen Dialog tritt, eine grundlegende ethische Dimension ausmacht, die darin besteht, dass man überhaupt unterstellt der Andere oder die Andere könnten recht haben und man nicht sich selbst und seine eigene Meinung als das Zentrum der Welt ansieht. Das heißt die Fähigkeit, sich dem Austausch der Gründe zu stellen, ist bereits eine der ganz basalen Fähigkeiten. Das ist allerdings eine Metaebene. Welche Gründe bei welchen Themen im Einzelnen in Anschlag gebracht werden und am Ende überzeugen können, das ist eine andere Frage. Dafür gibt es meines Erachtens kein Rezept.




Tosa Inu
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:13
Und wo bitte schön wurde auf Autoritäten verwiesen?

Ich habe darauf verwiesen, dass es in der Frage der Homosexualität Forschungen gibt, wie es zu diesen ethischen Umschwung kam. Das ist kein Verweis auf eine Autorität. Wenn ich sage ja nicht, freie sexuelle Selbstverwirklichung ist ein Wert in sich, weil diese Autorität das behauptet.
Wie jeder sehen kann, mit dem Verweis auf die Philosphin, "die umfangreiche Forschung zu der Frage gemacht hat, wie es kommt, dass in Fragen der Homosexualität in den letzten Jahrzehnten so eklatante Fortschritte zu verzeichnen sind".

Ich habe aber weder Zeit noch Lust, auf immer neue Verästelungen, bei denen dann das was gerade geschrieben wurde, dann sogleich wieder geleugnet wird, sondern ich würde gerne das Thema besprechen, nämlich eine Antwort auf meine Frage erhalten, woran man die jeweils höheren moralischen Wahrheiten erkennen kann.

Wenn Du darauf keine Antwort hast, ist das ja nicht weiter schlimm. Nur solltest Du, wenn Du es nicht weißt, daraus keine "Wahrheiten" ableiten, die dann nämlich keine sind, sondern nur Behauptungen.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:25
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 09:55
Damit sind wir aber keinen Schritt weiter
Richtig. Ich akzeptiere dein Argument nicht, dass ich erst eine ethische Epistemologie vorlegen muss, bevor ich behaupten kann, dass es ethische Wahrheiten gibt. Das ist übrigens eine Vermischung, die Du selbst selbst sonst vehement zurückweist.
Natürlich kannst Du das behaupten, aber wenn Du keine Belege dafür hast, bleibt es eben bei der Behauptung.
Dann behaupte ich spaßeshalber, dass es nicht so ist und berufe mich darauf, dass ich das ja, wie Du, ganz einfach für wahr halten kann und jeder der was anderes meint, eben ein Träumer ist, der sich irrt.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:36
Ich behaupte schließlich nicht, im Besitz aller ethischen Wahrheiten zu sein, ich behaupte nur dass es ethische Wahrheiten gibt.
Kannst Du ja auch, ich möchte nur wissen, warum.
Gibt es ein letztes Gutes, einen moralischen Omegapunkt?
Es geht ja darum, ob es wirkliche höhere Wahrheiten (der Ethik und Moral) gibt, oder ob diese nur anders sind, z.B. kulturell bedarfsangepasst.
Beides schließt sich m.E. übrigens nicht kategorisch aus.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:36
Und das ist meines Erachtens auch der Grund, warum man im Alltag bei ethischen Konflikten oftmals seine Ansichten gegenüber den anderen begründet.
M.E. ist es so, dass man irgendwas auswendig gelernt hat, was gerade gut zur eigenen Entwicklung passt. Ich bin dezidierter Hierarchist, d.h. ich glaube an höhere Wahrheiten.
Das ethische Problem dabei ist allerdings, dass bei Entwicklungen irgendwann auch mal Sense ist und nicht jeder kann die 100 Meter unter 10 Sekunden laufen, oder ein moralisches Genie sein. Was aber macht man mit denen, für die eine ruppige Moral das Ende der Fahnenstange ist? Das sind ja auch Menschen, die gut leben wollen. Denen es, warum auch immer, nicht gegeben ist, empathisch und offen zu sein.
Denen zu sagen, dass sie nicht nur dumm und unfähig, sondern auch noch böse sind, erscheint mir kontraproduktiv zu sein.

Und vielleicht sagen die Klugen unter ihnen ja, dass sie vielleicht böse sind, aber dafür erfolgreich. Warum ist Moral eine interessantere Kategorie, als Erfolg?
Warum eine bessere? Weil man sich für besser hält? Wenn zufällig oben zu schwimmen zum Argument eigener moralischer Überlegenheit wird, dann ist das eher fies als überzeugend.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:36
Ich vertrete schließlich nicht die Ansicht, dass man seine ethischen Meinung nicht begründen kann, sondern die gegenteilige Ansicht dass man es kann.
Ja, dann mach doch, danach frage ich ja die ganze Zeit.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:36
Aber daraus folgt nicht, dass es eine generelle Methode gibt, die ich angeben können muss, und gleichzeitig behaupten zu können dass es so etwas wie ethische Wahrheit gibt.
Dann begründe meinetwegen ad hoc. Nur ist die Begründung die Grundbedingung aller Philosophie.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Mo 9. Apr 2018, 11:04

Ich leugne nicht, was ich geschrieben habe, sondern stelle nur deine falsch Interpretation richtig.




Tosa Inu
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:36
Wobei ja hier allein schon die Tatsache, dass man mit dem Anderen oder der Anderen in einen Dialog tritt, eine grundlegende ethische Dimension ausmacht, die darin besteht, dass man überhaupt unterstellt der Andere oder die Andere könnten recht haben und man nicht sich selbst und seine eigene Meinung als das Zentrum der Welt ansieht.
Es kommt aber auch drauf an, wie es dann weitergeht.
Man kann Absichten auch vortäuschen, um sich in Welterklärung und Selbstverliebtheit zu gefalllen.
Manche haben es dabei zu erstaunlicher Virtuosität gebracht, auch wenn es nie mehr war, als heiße Luft. (Nur zur Sicherheit: Du bist nicht gemeint.)
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:36
Das heißt die Fähigkeit, sich dem Austausch der Gründe zu stellen, ist bereits eine der ganz basalen Fähigkeiten.
Ja, symmetrisch, mit dem Wunsch den anderen zu verstehen, vom idealen Interesse geleitet, seine Ideen so ernst und wichitg zu nehmen, wie die eigenen.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 10:36
Das ist allerdings eine Metaebene. Welche Gründe bei welchen Themen im Einzelnen in Anschlag gebracht werden und am Ende überzeugen können, das ist eine andere Frage. Dafür gibt es meines Erachtens kein Rezept.
Na, wenn es höhere Wahrheiten gibt, was hältst Du von dynamischen Angeboten? Je nach Stufe mundgerecht präsentiert, aber mit einem ethischen Ziel.
Mit dem höchsten, was man haben kann. Darum geht es mir: Welches ist das? Wo oder was ist die letzte ethische Wahrheit?



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Mo 9. Apr 2018, 12:18

Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 11:57
Aber was ich nicht verstehe:
Wieso ist dann der Satz "Der Mensch ist von Natur aus vernunftbegabt, also soll er seine Vernunft auch nutzen" kein Sein-Sollen-Fehlschluß?
Da wird doch auch von etwas das IST auf das geschlossen was SEIN SOLL.
M.E. ist das ein naturalistischer Fehlschluss.
Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 11:57
Meiner Meinung nach müsste man dann auch sagen: Nein, die Annahme der Mensch müsste seine Vernunft nutzen weil er von Natur aus mit Vernunft ausgestattet ist, ist ein Fehlschluß. Das eine kann nicht aus dem anderen folgen.
Für viele folgt es aber genau so. Gerade auch für Jörn, der ja z.B. in der Tierdebatte die Fähigkeit des Menschen zur Vernunft als Grund für gesteigerte moralische Verantwortung sieht.
Die eine Frage ist, ob man als Mensch überhaupt seine Vernunft nicht nutzen kann. Ich glaube, das geht kaum bis gar nicht.
Der Appell an die Verunft meint aber zumeist, man solle sich entweder mehr Mühe geben und nicht beim erstbesten Vorurteil enden und andererseits oft, man solle in eine bestimmte Richtung denken. Letzteres empfinde ich als ideologisch und eher unphilosophisch.

Dass der Klügere mehr Verantwortung hat, denke ich allerdings auch. Wer sonst?
Wenn ich jemanden ernsthaft für sehr viel dümmer halte als mich und glaube, dass er meine Ideen nicht verstehen kann, dann kann ich auch nicht von ihm verlangen, dass er sich damit auseinandersetzt und zu entsprechenden Schlüssen kommt.
Moralisch ist zu fragen, was man mit dieser realen Erkenntnis anfangen soll.
Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 11:57
Ich habe oft das Gefühl dass Schlußfolgerungen die sich auf Naturprinzipien berufen meist dann zum nat. Fehlschluß erklärt werden, wenn man diese Prinzipien nicht haben will.
Den Eindruck habe ich nicht, weil ich tatsächlich glaube, dass aus der Tatsache, dass etwas so oder so ist, erst mal prinzipiell gar nichts folgt.

Es regnet.
Bayern ist Meister.
Es gibt zu wenig Krankenpfleger.
Deutschland wird immer älter.
Es verhungern noch immer Kinder in der Welt.
Schwul zu sein ist in Deutschland legal und in breiten Kreisen des Landes akzeptiert.
Bohnen enthalten viel Lektine.
...
Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 11:57
Bei anderen nat. Prinzipien lässt man diesen Fehlschluß aber dann durchgehen, bzw wird dann plötzlich behauptet dass das gar kein Fehlschluß sei (das ist dann plötzlich ein gültiger Schluß).
Mir kommt das Ganze sehr willkürlich vor.
Ich finde die Philosophie in dem Punkt ausgezeichnet, da sie in vielem sehr technisch ist. Ein Fehlschluss ist ein Fehlschluss, egal ob man ihn mag, oder nicht.
Darum lohnt es sich, da diie Basics zu wemmsen, da kommt man schon recht weit mit.
Normale Kommunikation hat natürlich wenig bis nichts mit Philosophie zu tun. Heute gilt man als naiv, wenn man an Wahlversprechen glaubt.
Das ist natürlich schon bezeichnend, da braucht es keine Fakenews.



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Mo 9. Apr 2018, 12:49

Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 12:25
Jörns Meinung nach aber nicht, wie er vorhin in Beitrag 17387 geschrieben hat.
Hat Jörn jetzt andere Basics "gewemmst" als Du?

(Und das ist genau das was ich meine: Die selbe Schlußform soll einmal ein Fehlschluß sein und einmal nicht. Es tut mir wirklich leid, aber das erachte ich als inkonsequent und auch unlogisch)
Kann man so und so sehen.
In der von Dir dargestellen Rohform, ist es ein Fehlschluss.
Jörns Einwand ist, Vernunft impliziere bereits ein Sollen.
Halte ich für gewagt, da auch eine kühle instrumentelle Vernunft, die bspw. danach fragt, wie man den anderen am besten instrumentalisieren und ausnutzen kann*, eben Vernunft genannt wird, man könnte sie aber auch Zweckrationalität nennen und von einer umfassenderen und 'wärmeren' Vernunft definitorisch abgrenzen, nach der Definiton von Vernunft würde ich dann allerdings fragen, da man sonst in den nächstenn Fehlschluss schlitter, der Homonymie oder Äquivokation: Gleiches Wort, aber unterschiedliche Bedeutung.

*strenggenommen ist aber auch das instrumentelle Denken moralisch, nur eben nicht sehr weit entwickelt.
Falls die Idee stimmt, dass es höhere und niedere moralische Ordnungen gibt.



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Jörn Budesheim
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Mo 9. Apr 2018, 12:50

Es ist meines Erachtens nicht der Fall, dass derselbe Schluss einmal an Fehlschluss ist und einmal nicht, wie Tommy unterstellt. Ein Fehlschluss liegt meines Erachtens nur dann und ausschließlich dann vor, wenn man aus einem Bereich, der kein Werte und kein Sollen enthält, ohne Umstände also ohne weitere Prämissen oder sonstige Zusatzannahmen auf ein Sollen schließt.
Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 11:57
Wieso ist dann der Satz "Der Mensch ist von Natur aus vernunftbegabt, also soll er seine Vernunft auch nutzen" kein Sein-Sollen-Fehlschluß?
Da die Vernunft das Vermögen ist, Gründe insbesondere auch Rechtfertigungsgründe zu erkennen und damit umzugehen, befinden wir uns hier eben nicht mehr im wertfreien Bereich der reinen Naturgesetze.

Der Ausgangspunkt der Frage war jedoch, ob jede Argumentation, in der überhaupt - also egal wie - eine natürliche Tatsache vorkommt, bereits an naturalitischer Fehlschluss ist, wie du, Tommy angenommen hast. Und das ist offensichtlich nicht der Fall, wie auch tosa-inu erläutert hat. Daher handelt es sich beim Rücksicht nehmen auf Alte und Gebrechliche nicht um einen naturalistischen Fehlschluss.




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Alethos
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Mo 9. Apr 2018, 13:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 12:50
Daher handelt es sich beim Rücksicht nehmen auf Alte und Gebrechliche nicht um einen naturalistischen Fehlschluss.
Das sehe ich auch so. Die Einschätzung, dass man einer älteren Person den Sitz freigibt, hängt nicht allein an der natürlichen Gegebenheit, dass diese Person z.B. gebrechlich und schwach ist. Das sind lediglich Umstände, die den Anstoss geben überhaupt zu reflektieren, dass da eine Person in einer besonderen, hilfsbedürftigen Situation steckt. Das ist zunächst nur eine rein deskriptive Angelegenheit. Aber das ist ja bei weitem nicht die einzige Überlegung, die wir in einer solchen Situation anstellen.
Es kommen hinzu z.B. urilitaristische Gedanken, dass man schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft hilft, weil es dem Ganzen der Gesellschaft nützt oder weil man in einigen Jahren froh wäre, wenn man in derselben Situation einen Platz zur Verfügung gestellt bekommt. Oder man denkt, dass sich diese Person ein wenig Erholung verdient hat, weil sie wahrscheinlich das ganze Leben gearbeitet hat und es angemessen ist, ihr diese Rast zu gönnen etc. Diese und natürlich weitere Überlegungen fliessen in die Begründung des Gedankens, man SOLLE so und so handeln, ein. Dieses Begründungsnetz bildet die Grundlage für einen entsprechenden moralischen Anspruch an uns selbst. Er erwächst aus ihm und nicht aus der Natur des Zustands dieser Person. Die moralische Begründungsstruktur, das überschreitet die reine Information der Gegebenheit und führt die reine Deskription über in eine Handlungsanleitung.

Nun kann man zwar nicht sagen, apriori, dass diese Anleitung zum Sollen allgemeingültige Wahrheit sei, denn sie gibt zunächst nur mir Handlungsgrund. Aber wenn es mir als Grund reicht, wenn ich mich selber überzeugen kann, dass es richtig ist, dann ist es wenigstens potenziell möglich, dass dieser Handlungsgrund zur Handlungsmaxime in dieser und ähnlichen Situationen werden kann. Dann wären die Gründe vielleicht hinreichend auch für andere, dass sie danach handeln. Gründe sind ja, weil rational, nicht subjektiv, auch wenn ich allein es bin, der sie sich gibt. Sie haben objektiven Charakter.



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Mo 9. Apr 2018, 13:39

Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 12:25
Aus dem Umstand dass wir naturgegeben alle Atmen und Essen müssen folgt selbstverständlich direkt und ohne Umschweife, dass uns das Atmen und Essen erlaubt sein soll.
Ich verstehe deinen Gedanken. Aber impliziert denn der Umstand, dass wir Vernunftswesen sind nicht auch die Tatsache, dass es uns erlaubt sein soll, diese anzuwenden?

Vernunft anwenden heisst zu einem Urteil zu kommen. Über alle komplexen sozialen Sachverhalte zum Urteil zu kommen, dass es sich nicht entscheiden lasse, wie zu handeln sei, weil es keine Wahrheit gebe im Sollen, bedeutete aber doch ein Urteil zum Nichturteil und daher der freiwillige Verzicht, von der Vernunft Gebrauch zu machen.

Nochmal, eine Vernunft zu haben impliziert nicht, zu denselben Schlüssen zu kommen, man kann auch zum Schluss kommen, die alte Dame umzustossen, so dass man über sie lachen kann. Aber das werden wir als sozialisierte Wesen nicht tun und dass wir es nicht tun, zeigt doch, dass es objektive Widerstände gibt, so und so zu handeln.



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Mo 9. Apr 2018, 17:17

Es gibt keine Verrenkungen. Wer aus dem Bereich der Kausalität umstandslos in den Bereich der Geltung wechselt - wer Ursachen und Gründe verwechselt - begeht diesen Fehlschluss.

Es geht hier nicht darum, dass man natürliche Tatsachen begrüßt oder auch nicht, sondern dass man die angebliche oder tatsächliche Natur zum Maßstab des Richtigen machen: zum Beispiel das Recht des Stärkeren oder sonstige Formen des Sozialdarwinismus, die Widernatürlichkeit der Homosexualität etc. p.p.

Naturalistischer Fehlschluss liegt daher zum Beispiel nicht vor, wenn vom Sein eines Widerspruchs auf das Sollen seiner Vermeidung geschlossen wird. :mrgreen:




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Mo 9. Apr 2018, 17:34

Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 16:44
Alethos hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 13:39
Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 12:25
Aus dem Umstand dass wir naturgegeben alle Atmen und Essen müssen folgt selbstverständlich direkt und ohne Umschweife, dass uns das Atmen und Essen erlaubt sein soll.
Ich verstehe deinen Gedanken. Aber impliziert denn der Umstand, dass wir Vernunftswesen sind nicht auch die Tatsache, dass es uns erlaubt sein soll, diese anzuwenden?

Vernunft anwenden heisst zu einem Urteil zu kommen. Über alle komplexen sozialen Sachverhalte zum Urteil zu kommen, dass es sich nicht entscheiden lasse, wie zu handeln sei, weil es keine Wahrheit gebe im Sollen, bedeutete aber doch ein Urteil zum Nichturteil und daher der freiwillige Verzicht, von der Vernunft Gebrauch zu machen.
Ich weiss nicht wie Du darauf kommst. Wieso bedeutet die Annahme, dass es keine moralischen Tatsachen gibt, dass man zu gar keinem Ergebnis mehr kommt? Und dass sich "nicht entscheiden lasse wie zu handeln sei" habe ich doch auch nicht geschrieben.
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hast du doch gefolgert, dass man einem Sollen keine Wahrheit attribuieren kann. Wahrheit, als Attribut (Aussagewahrheit, wahre Meinungen etc.), folgt aber meines Erachtens aus einem Urteil. Wenn du also sagst, man könne von einer moralischen Forderung nicht sagen, sie sei wahr, impliziert das ein zurückbehaltenes Urteil über einem Sachverhalt. Man urteilt, dass kein Urteil möglich ist über die Wahrheit einer moralischen Forderung. Und das, meinte ich, widerspricht deiner Analogie mit dem Essen und Atmen, denn auch die Vernunft ist ein natürliches Vermögen.

Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 16:44
Mir gings darum Beispiele dafür zu finden, dass wir sehr wohl hin und wieder aus der Natur (oder einem natürlichen Prinzip) ein Sollen folgern, ohne dass das deshalb ein Fehlschluß wäre. Nämlich immer dann wenn wir die natürlichen Prinzipien begrüßen und für richtig halten.
Dass wir hin und wieder aus der Natur ein Sollen folgern, halte ich immer für einen naturalistischen Fehlschluss und in jedem Fall für ein nicht zureichendes Argument, wenn es allein auf einer natürlichen Gegebenheit aufbaut. Dass etwas ist, wie es ist, führt nach meinem Dafürhalten nie zu einem Sollen, weil die reine Deskription keine Präskription enthält, es fehlen die Gründe. Das Sosein allein ist ja kein Grund, sondern blosse Gegebenheit.
Es muss eine Begründung nach logischen und diskursiven Regeln erfolgen, die wiederum in einer moralischen Praxis begründet liegen, damit ein Vernunftsgrund vorliegen kann. Vernunftsgründe anzugeben, die Tatsache, dass eine bewertende Handlung vollzogen wird, bedeutet bereits, die Ebene des schlichten Soseins verlassen zu haben.

Man kann sehr wohl, wie du es sagst, begrüssen, dass etwas so ist, wie es ist. Aber sofern man diesen Grund nicht allein im Sosein verortet, sondern einen Sinn darin vermittelt sieht, d.h. sofern man das Sosein nicht als Zweck an sich zur alleinigen Begründung eines Sollens heranzieht, wird man auch keinen naturalistischen Fehlschluss begangen haben. In jedem Fall aber ist das Abstützen der Argumentation auf den blossen Umstand, dass sich etwas in der Natur so verhalte, naturalistisch geschlossen und dann ein Fehlschluss, wenn er als hinreichend angesehen wird. Dass du gewisse Dinge in der Natur beobachtest, die du begrüsst, das ist ja in der Regel nur ein Moment in deinem ganzen Begründungsszenario. Ich hätte nicht gesehen, dass du dieses Moment allein zur Begründung deiner moralischen Ansichten herangezogen hättest.
Wie auch immer man aber in der Argumentationskette die natürliche Gegebenheit einbindet, ich halte es, falls überhaupt, für ein immer schwaches Argument mit Bezug auf eine moralische Diskussion, denn Moralität ist eben die Einstellung, das Gegebene zu verwandeln, zu verbessern und auszurichten nach einer ethischen Objektivität. Diese letztere steht zur Debatte, das ist mir bewusst.



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Mo 9. Apr 2018, 17:53

Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 17:02
Ein Fehlschluß ist sie nur dann, wenn etwas als negativ empfundenes daraus folgt.
Es werden also nicht konsequent irgendwelche Regeln der Logik befolgt, sondern die Regeln je nach Fall anders ausgelegt.
Ich habe einfach den Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.
Ich verstehe, dass dieser Eindruck entstehen kann, dass das Argument des nat. Fehlschlusses auf die eigenen Interessen hin zweckentfremdet werden kann. Ich bin gerne bereit hinzuhören und lasse mich belehren, wo ich das tue.

Ich sage aber explizit in meinem vorherigen Beitrag, dass man einen naturalistischen Schluss durchaus stützend in die Argumentationskette einbauen kann. Ich halte es in jedem Fall, auch in meinem Fall, für kein hinreichendes Argument. Im Falle von Fehlschlüssen halte ich es im Grunde für gar kein Argument. Falls ich einen solchen Fehlschluss begehe, bin ich froh um jede Korrektur.

Beim Beispiel der alten Frau im Bus habe ich aber zu zeigen versucht, dass das Argument sich nicht auf ihre naturgegebenen Beschwerden stützt. Und beim Argument von Jörg, dass Homosexualität in der Natur vorkommt, handelt es sich deshalb auch nicht um einen naturalistischen Fehlschluss, weil die Tatsache, dass homosexuelles Verhalten in der Natur vorkommt lediglich zur Widerlegung der Meinung herangezogen wird, dass ein solches Verhalten widernatürlich sei. Die Natur wird zur Widerlegung einer Aussage über die Natur herangezogen. Falls Jörn aus dem Vorhandensein von Homosexualität schliessen würde, dass sich daraus ein Sollen ergibt (dass z.B. gleichgeschlechtliche Ehen möglich sein sollen), dann hätte er naturalistisch fehlgeschlossen. Das war aber nicht seine Argumentation, wenn ich das richtig sehe.



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Mo 9. Apr 2018, 18:43

:D

Auf ein frohes Dekonstruieren.



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Mo 9. Apr 2018, 18:53

Der einfachsten Form funktioniert der Fehlschluss folgendermaßen: Etwas ist deshalb richtig, weil es in der Natur auch so ist. Wenn ich einer älteren Dame in der Straßenbahn den Platz räume, dann kommt nichts in der Art vor.

Natur und Geltung werden hier nicht verwechselt oder vertauscht.




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Mo 9. Apr 2018, 18:56

Richtig und daher auch keine Verwechslung von Natur und Geltung

Es gibt in dem Beispiel einfach nichts, was dem fraglichen Muster entspricht. Also etwas in der Art wie: du sollst das tun, weil es natürlich ist das zu tun.




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Mo 9. Apr 2018, 19:52

Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 19:28
Wie gesagt: Ohne ein natürliches Prinzip des Alterns gäbe es auch keine moralische Regel die dir das Aufstehen für alte Leute vorschreibt.
Nun ja, dass es ein Altern braucht, damit es alte Leute geben kann, ist wohl klar. Und damit es ein moralisches Handeln im Hinblick auf alte Leute geben kann, braucht es alte Leute. Damit wird aber das Alter selbst nicht zum direkten Handlungsgrund. Es sind Überlegungen zur Bedeutung, was es heisst, alt zu sein, die ein etwaiges Sollen begründen können - Empathie, eine Evidenz, ein Grund.



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Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 19:44
Und wenn ich nun sage, dass Menschen regelmäßig essen sollen, weil es natürlich ist (der menschlichen Natur gemäß) regelmäßig zu essen, ist DAS dann für dich dem Muster entsprechend?
Nehmen wir dazu ein Beispiel: Wenn man jemanden erklärt, er soll es seinen Hungerstreik abbrechen, weil das wider die Natur ist, begeht man genau diesen Fehlschluss.

Immer wenn man die Natur zur alleinigen Richtschnur macht, dann besteht der Fehler. Immer wenn ich sozusagen die Geltung einfach an die Natur abgebe.

Wenn ich zum Zahnarzt gehe, weil ich Zahnschmerzen habe, dann entsteht der Fehlschluss natürlich nicht. Wenn ich aber nicht zum Zahnarzt gehe, obwohl ich Zahnschmerzen habe, allein mit der Begründung, es sei unnatürlich zum Zahnarzt zu gehen, dann begehe ich den Fehlschluss.

Ich schätze mal, dass auch die Idee es könne keine moralischen Wahrheiten geben, diesem Fehlschluss entspringt.




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Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 20:38
Die negative Formulierung ist also ein Fehlschluß, die positive aber nicht, obwohl sie beide ein Sollen aus dem Sein begründen?
Nein, der Fehlschluss liegt immer und ausnahmslos vor, wenn man die Natur zur alleinigen Richtschnur macht. Nicht die Natur bestimmt, was richtig oder falsch ist.




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Tommy hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 20:38
Ich schätze mal diesen Zusammenhang hast Du dir nur ausgedacht.
Wie du siehst, doch nicht :)




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 9. Apr 2018, 12:50
Ein Fehlschluss liegt meines Erachtens nur dann und ausschließlich dann vor, wenn man aus einem Bereich, der kein Werte und kein Sollen enthält, ohne Umstände also ohne weitere Prämissen oder sonstige Zusatzannahmen auf ein Sollen schließt.

Da die Vernunft das Vermögen ist, Gründe insbesondere auch Rechtfertigungsgründe zu erkennen und damit umzugehen, befinden wir uns hier eben nicht mehr im wertfreien Bereich der reinen Naturgesetze.
Wäre das ein gültiges Argument, dürfte es überhaupt keinen naturalistischen Fehlschluss geben, denn jedes Argument ist ja Ausdruck der Vernunft.
Auch jedes, das beispielhaft für den nat. Fehlschluss steht.



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