Philipp Hübl über konservative und progressive Persönlichkeitsmerkmale

Es gibt im Netz zahllose spannende Interviews mit Philosophen aller Couleur. Hier ist der Ort sie zu diskutieren.
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Quk
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Sa 19. Aug 2023, 09:42

Dieses Interview habe ich jetzt nach Jahren noch einmal angehört, und auch jetzt wieder war es keine Sekunde langweilig.

Es werden Sachen angesprochen, die zur Zeit auch hier im Forum in verschiedenen Fäden diskutiert werden -- Todesstrafe, Tierwohl, angeborene Grundzüge, und so weiter. Er bezieht sich dabei immer auf empirische Daten aus der Sozialforschung, weltweit.





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Jörn Budesheim
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Mo 21. Aug 2023, 12:08

Min 29:29 - frei zitiert: unsere Vernunft kann unsere Neigungen überschreiben.




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Jörn Budesheim
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Mo 21. Aug 2023, 13:05

Neophobie und Neophilie, zwei Wörter, die ich heute gelernt habe :) freut mich.




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Quk
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Mo 21. Aug 2023, 13:47

"Vernunft kann unsere Neigungen überschreiben"

An den Teil erinnere ich mich, weil er mir besonders auffiel. Ich würde diese Beobachtung ein wenig anders interpretieren:

Meine Interpretation, Beispiel:

Neigung 1: Paula liebt Kalbfleisch.
Neigung 2: Paula liebt lebendige Kälber.
In Paula sind also zwei Neigungen, die nicht gleichzeitig auslebbar sind.
Wenn 2 mindestens so ausgeprägt ist wie 1, entscheidet sich die Vernunft für die Auslebung von 2 (statt 1), und zwar auch dann, wenn 1 zeitweise die stärkere ist. Warum? Weil in dem Fall die Vernunft weiß, dass 1 immer nur kurzfristig auftaucht, und dass nach dem Ausleben solcher kurzen Momente, also wenn 2 wieder am Herrschen ist, Unzufriedenheit aufkommt. Die Vernunft plant also die zu erwartende langfristige Gesamt-Zufriedenheit.
Was will ich damit sagen? Ich glaube, die Vernunft allein hat nicht ausreichend Kraft, solche "Überschreibungen" vorzunehmen. Man muss die Palette der vielen Neigungen innerhalb einer Person differenzieren. Es gibt vielerlei Aspekte hinsichtlich "Kalb", zum Beispiel. Für jeden Aspekt (Fleischgeschmack, Kalbanblick) gibt es eine separate Neigung. Ich würde diese Vielgestaltigkeit an Neigungen also nicht pauschalisieren, in dem ich nur eine davon untersuche und die anderen, die möglicherweise "moralisch schöneren", der Vernunft zuschreibe anstatt der entsprechenden weiteren Neigung innerhalb derselben Person. Gäbe es Neigung 2 überhaupt nicht, so würde die Vernunft Neigung 1 ausleben lassen und bei moralischer Kritik gegebenenfalls Rechtfertigungen konstruieren. Also, ich denke, letztendlich wird Neigung 1 nicht von der Vernunft überschrieben, sondern von Neigung 2. Zumindest unter deren Mithilfe. Die Vernunft tut ja nichts um der Vernunft willen. Welche Sachen sollen die Ziele der Vernunft bestimmen, wenn nicht gute Gefühle wie Zufriedenheit und Glück? Spirituelle Menschen installieren an dieser Stelle etwas übermenschliches, das die obersten Ziele definiert -- was in meinen Augen auch nur eine menschliche Erfindung ist, passend zum Gefühlsziel des Erfinders. Ich kürze diesen spirituellen Umweg ab und gehe direkt zum Gefühlsziel.




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Stefanie
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Mo 21. Aug 2023, 17:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 21. Aug 2023, 12:08
Min 29:29 - frei zitiert: unsere Vernunft kann unsere Neigungen überschreiben.
Das ist ein Screenshot der besagten Stelle, genauer aus dem Transkript. 29:34
Screenshot_20230821_171321_YouTube.jpg
Screenshot_20230821_171321_YouTube.jpg (668.98 KiB) 1169 mal betrachtet



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Stefanie
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Mo 21. Aug 2023, 17:27

Vielleicht überrascht es einige (nicht), dass mir Herr Hübl nicht so zusagt. Ich habe schnell den Ton ausgeschaltet und nur mit gelesen. In Etappen und mit Kampf. Ich habe das Buch "Folge dem weißen Kanichen" von ihm und habe es nicht geschafft es zu lesen, weiter als bis etwa Seite 20 bin ich nicht gekommen, in zwei Versuchen.



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Quk
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Mo 21. Aug 2023, 17:42

Warum?




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Jörn Budesheim
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Mo 21. Aug 2023, 18:36

Oh!




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Stefanie
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Mo 21. Aug 2023, 18:43

Irgendwie glatt, kantenlos, selbst wenn er selber von dem begeistert ist über das, was erzählt, merke ich zumindest davon nicht. Unverbindlich.
Ich habe ihn gerade mit Markus Gabriel verglichen. Bei Gabriel verstehe ich inhaltlich nicht direkt alles, bei manchen Außerungen zu corona war nicht seiner Meinung, aber es ist spannend ihm zu zuhören. Da ist Dynamik drin. Bei Hübl kann ich alles nachvollziehen, muss aber aufpassen, nicht wegzunicken. Das plätschert so vor sich hin. So auch das Buch.

Inhaltlich war ich von dem ersten Block mit den Persönlichkeitstypen und deren Wahlverhalten nicht so begeistert, das ist mir zu undifferenziert gewesen. Zu einfach. Keine Zwischenstufen.



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Stefanie
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Mo 21. Aug 2023, 19:12

Dieses Interview betrifft einen großen Teil des Videos. Im Artikel sind auch Quellen genannt.

https://www.zeit.de/wissen/2019-08/phil ... nd/seite-2



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Jörn Budesheim
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Di 22. Aug 2023, 08:05

Quk hat geschrieben :
Mo 21. Aug 2023, 13:47
Neigung 1:
Neigung 2:
Ich würde den Fall, den Hübl skizziert hat, nicht allein mit dem Begriff der "Neigung" rekonstruieren. Die beschriebene Person empfindet zwar eine leichte Form von Homophobie - eine (Ab-)Neigung - sie lebt sie aber nicht aus. Sie sieht ein, dass Homophobie falsch ist, obwohl sie die entsprechenden Gefühle hat. Wichtig ist hier, nach meiner Einschätzung das (übersubjektive) Moment der Einsicht in das Richtige.




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Quk
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Di 22. Aug 2023, 12:08

Wir meinen wahrscheinlich das gleiche und benutzen nur unterschiedliche Wörter.

Jörn: "Sie sieht ein, dass Homophobie falsch ist ..."

Ich lese: Einsicht, Falschheit.

Solche Wörter beziehe ich auf Vernunft und Ethik.

Die Möglichkeiten der Ethik halte ich für weit überschätzt. Das beginnt schon bei ihrer Schwierigkeit, eine objektive Definition für "Gerechtigkeit" zu liefern. Es gibt unzählige, subjektive Gestaltungsmöglichkeiten der Rechtfertigung für persönlich maßgeschneiderte "Gerechtigkeiten". Ich denke, was wir im Alltag als "Gerechtigkeit" bezeichnen, ist vielmehr eine spontane Herzenssache als eine kantsche, imperative Berechnung, die die meisten ohnehin nicht kapieren; sprich: Im Kern, drinnen im "Herz", sozusagen, ist das mit der "Gerechtigkeit" eher ein Gerechtigkeits-Gefühl als ein Gerechtigkeits-Rechner, meine ich. Die erwähnte "Einsicht" in das vermeintliche Rechenergebnis halte ich demnach nicht für eine Sicht, sondern für ein Spüren; und dasjenige, was gespürt wird, ist kein Rechenergebnis, sondern eine Emotion:

Quk: "Sie spürt ihre Menschenliebe im allgemeinen, die stärker ist als ihr Ekel vor dem Tun der Schwulen im speziellen."

Also, ich sehe diesen Zweikampf nicht primär als einen zwischen Emotion und Vernunft, sondern zwischen Emotion 1 und Emotion 2. Die Vernunft könnte dabei so etwas wie eine Schiedsrichterin sein. Unsere Ansichten haben so betrachtet eine große Schnittmenge. Mein Anliegen ist nur, zu sagen, dass wir zu oft dasjenige, was eigentlich eine spontane, emotionale Herzenssache ist, alltagssprachlich mit dem Wort "Vernunft" bezeichnen, obwohl es doch eine Emotion ist. Es gibt ja auch soziale Tiere. Wenn die sich untereinander schützen und hüten, machen die das aus Vernunft? Nein, aus dem Herz.


Edit:

Jörn, was hälst Du von diesem Kompromiss?

"Sie sieht, dass ihre Menschenliebe stärker ist als ihr Ekel vor dem Tun der Schwulen."




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Jörn Budesheim
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Di 22. Aug 2023, 13:26

Quk hat geschrieben :
Di 22. Aug 2023, 12:08
Zweikampf nicht primär als einen zwischen Emotion und Vernunft ...
Zunächst: In meinem Begriffsverständnis gibt es keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Emotion und Verstand. Emotionen sind für mich vernünftige Gefühle. Angst vor einem gefährlichen Tier zu haben, ist vernünftig. Die Angst zeigt uns das Tier als Gefahr für uns. Ich glaube, Hübl hatte in seinem Text auch so ein Beispiel.

Das ist für mich nicht der Punkt. Entscheidend sind eigentlich die "Einsicht und Falschheit", wie du richtig gesehen hast. In der Darstellung der Situation muss es möglich sein, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Würde sie ihren negativen Gefühlen nachgeben, weil sie Homosexualität für "unrein" hält (um einen Begriff aus dem Video zu verwenden), wäre sie im Unrecht. Stattdessen folgt sie einer Einsicht, wie auch immer sie zu dieser Einsicht gelangt ist. Unser moralischer Kompass ist nicht allein die Vernunft. Wer nur mit dem Verstand weiß, dass es falsch ist, andere zu quälen, hat sicher schon ein Problem.

Nachtrag: Der Begriff Ethik ist mehrdeutig. Er kann das wissenschaftliche Nachdenken über Moral sein, also darüber, was wir tun sollen etc. p.p. Er kann aber auch den Gegenstand dieses Nachdenkens selbst bezeichnen. Deshalb unterscheide ich im Ausdruck gewöhnlich und einfach gesagt so: Ethik ist die Wissenschaft von der Moral. Moral bezeichnet hingegen das, was wir als Menschen faktisch tun oder lassen sollen, was also der Sache nach erlaubt, gut oder schlecht ist, was immer jemand darüber denkt oder fühlt. Hübl sprich in dem Video von moralischem Fortschritt, die Stelle hätte ich unterschrieben. Einen solchen Fortschritt kann es aber nur geben, wenn es moralische Tatsachen gibt.




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Di 22. Aug 2023, 15:17

Gut, nach Deinem Begriffsverständnis von "Vernunft" kann ich Deiner Erläuterung nicht widersprechen. Wie gesagt, wir meinen wahrscheinlich die gleiche Sache, nur mit anderen Worten.

Ich meine "Vernunft" im kantschen Sinn. Die Instanz, die Handlungspläne macht. Das Adjektiv "vernünftig" ist für mich daher gleichbedeutend mit "handlungsplanend".

Ist die Angst vor dem Tiger eine vernünftige Emotion? Ich denke, hier steht das Wort "vernünftig" für "sinnvoll". Weniger für "handlungsplanend". Deshalb trenne ich hier: Die Angst ist erstmal nur eine Emotion an sich, ohne den Zusatz "sinnvoll" oder "unsinnig"; sie passiert spontan als auslösende Instanz. Dann kommt die zweite Instanz, die Vernunft, und fällt ein Urteil darüber, ob diese Angst sinnvoll ist oder nicht. Vielleicht ist es ja nur ein Papiertiger. Anhand dieses Urteils schmiedet die Vernunft einen Handlungsplan. Die Angst an sich ist meinem Begriffsverständnis nach ein Gefühlszustand. Sie macht keine Pläne. Sie rechnet nicht. Das Rechnen kommt erst danach, durchgeführt von der Vernunft.

Wenn Du von einer "vernünftigen Emotion" sprichst, sehe ich darin zwei Wörter und entsprechend auch zwei Instanzen. Die eine ist die Emotion, die zweite ist die Vernunft, die diese Emotion als sinnvoll beurteilt.

Das ist jetzt nur mein Begriffsverständnis. Das soll nicht universal gelten. Ich finde es gut, dass wir unsere Begriffsverständnisse genau erläutern, damit wir nicht aneinander vorbeireden.




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Jörn Budesheim
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Di 22. Aug 2023, 15:26

In meiner Sicht ist die Angst in sich selbst vernünftig (bzw. natürlich ggf. auch unvernünftig). Da ist also nicht zuerst die Angst, die in einem zweiten Schritt noch bewertet werden muss. Das ist natürlich möglich, aber nicht nötig, um eine vollwertige vernünftige Emotion zu haben. Angst vor etwas Gefährlichem ist in der Regel vernünftig.




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Di 22. Aug 2023, 16:17

"In meiner Sicht ist die Angst in sich selbst vernünftig."

Nach meinem Begriffsverständnis würde ich den Satz so präzisieren:

"Jörns Vernunft kommt zu dem Urteil, dass die Angst in sich sinnvoll ist für die Lebenserhaltung."




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Di 22. Aug 2023, 16:27

So etwas wie "Jörns Vernunft" gibt es in meinem philosophischen Denken nicht ;-) Das ist meiner Meinung nach sogar ein Widerspruch in sich.




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Jörn Budesheim
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Di 22. Aug 2023, 16:35

Aber wir schweifen ab... Außerdem: Ich bin noch nicht fertig mit dem Video, ich hoffe, ich schaffe den Rest heute Abend!




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Quk
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Di 22. Aug 2023, 16:50

"Die Vernunft kommt da zu dem Urteil, dass die Angst in sich sinnvoll ist für die Lebenserhaltung."




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Quk hat geschrieben :
Di 22. Aug 2023, 16:50
"Die Vernunft kommt da zu dem Urteil, dass die Angst in sich sinnvoll ist für die Lebenserhaltung."
Das mag stimmen, drückt aber nicht meine Vorstellung aus. Neuer Versuch:

Vernunft ist die Fähigkeit, Gründe zu erkennen, anzuerkennen, sich an ihnen zu orientieren, sie gegeneinander abzuwägen, aus ihnen Schlüsse zu ziehen usw. Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen. (Dass der Wetterbericht Regen vorhergesagt hat, spricht dafür, einen Schirm mitzunehmen.) Zu der Fähigkeit, sich an Gründen zu orientieren, gehören auch unsere Emotionen. Emotionen sind nur eine Untergruppe der Gefühle, eben die rationalen. Nach meinem Verständnis sind Emotionen also selbst eine Form von Vernunft. In der Angst z.B. können wir (meist sehr körperlich, sehr direkt, sehr betroffen) erkennen, dass wir einen Grund haben, auf der Hut zu sein. Eine distanziertere Betrachtung kann natürlich zeigen, dass diese Angst fehlgeleitet war, schließlich sind wir in kaum etwas unfehlbar.




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