Erst kommt die Moral, dann das Fressen

Es gibt im Netz zahllose spannende Interviews mit Philosophen aller Couleur. Hier ist der Ort sie zu diskutieren.
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Jörn Budesheim
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Mo 9. Okt 2023, 19:29



"Wir sind die Nachkommen der Freundlichsten." Hanno Sauer im Gespräch mit Barbara Bleisch.




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Eiwa
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Di 10. Okt 2023, 18:30

Die letzten 15 Minuten fand ich tatsächlich bereichernd :)




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Jörn Budesheim
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Ich fand eigentlich die gesamte Diskussion interessant, warum hat dir die letzte Viertelstunde so gut gefallen?




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Eiwa
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Mi 11. Okt 2023, 13:09

Das bedeutet ja nicht, dass ich das zuvor Gesagte nicht ebenfalls interessant gefunden hätte :)
Aber gegen Ende fand ich einige Dinge besonders oder kann ihnen zustimmen. Einige Aussagen:

"Wir sind gar nicht unterschiedlicher Meinung, wir hassen einander nur. Es gibt Gruppenidentitäten und eine Aversion zwischen ihnen."

Ich bleibe zwar vielen sozialen Plattformen fern, aber mitbekommen kann man dennoch einiges. Und auch, wenn ich der Aussage nicht auf alle möglichen Themenbereiche zustimmen würde (und das Wort "Hass" eventuell zu plakativ empfinde), so sehe ich in manchen Bereichen doch, dass da sicherlich was dran ist.
Diese Gruppenidentitäten und die Aversion kann man auch hier im Forum beobachten, wie ich finde.

"Das ist ein großer Unterschied, aber der Grund dafür, warum die Menschen das eine oder andere glauben, ist nicht, weil sie es durchdacht haben und sich auf die empirischen Daten und Argumente aus Philosophie und Politik stützen, sondern der Grund ist: Ich gehöre der Gruppe an und bin deswegen dafür oder dagegen. Es ist viel oberflächlicher. Unsere politischen Ansichten sind viel volatiler als wir denken."

Ich fand auch die Studie von der Universität Lund sehr interessant, die Frau Bleisch beschrieben hat. Aber eigentlich auch erschreckend, wenn man sich in's Bewusstsein rückt, wie einfach es ist, uns zu "manipulieren".

"Es ist eigentlich rational, politisch irrational zu sein"

"Doch die überwätigende Mehrheit kommt nicht mal in die Nähe von politischen Wissen, entweder allgemeines oder konkretes Wissen zur Tagespolitik, das deren Wahlentscheidung qualitativ hochwertig machen würde."

Dieser Aussage stimme ich zu und nehme mich selbst da auch nicht raus, ich habe viel zu wenig wenig Wissen. Es beschäftigt mich dennoch gedanklich oftmals. Wahlprogramme gibt es zwar auch in "leichter Sprache", sie sind meistens ziemlich ausführlich und, ich habe zwar jetzt auf die Schnelle nichts dazu gefunden was meinen Eindruck belegen könnte, aber ich habe Zweifel daran, dass es von einer Mehrheit gelesen (und idealerweise verstanden) wird.
Alternativ gibt es den Wahl-o-Mat, der sicherlich eine Erleichterung darstellt, aber auch Wissen oder zumindest den Willen zur Informationsfindung voraussetzt - was wiederum Zeit erfordert, die sich, auch wieder nur nach meinen eigenen Eindruck, vermutlich nicht hinlänglich genommen wird.
Ich vermute, dass einige Entscheidungen aus dem Bauch getroffen werden, ohne sich die Frage zu stellen, was das real bedeutet / bedeuten könnte, welche Folgen das hat, ein vernünftiges Abwägen. Politik ist an manchen Stellen aber auch sehr komplex, die Zusammenhänge muss man verstehen lernen.

Meine Recherche dazu ergab:
Aus dem Reuters Institute Digital News Report geht hervor, dass der Anteil von Erwachsenen mit Interesse an Nachrichten rückläufig ist.
Ein Medienforscher erläutert zu jungen Zielgruppen: "Bei jungen Menschen sieht man noch klarer, dass das Interesse an Nachrichten zurückgegangen ist. Sie haben nicht die Art von gefühlter Verpflichtung, sich über das Weltgeschehen zu informieren."
Die Frankfurter Allgemeine schrieb dazu: "Die gute Nachricht ist: Das Interesse der Deutschen an Politik ist ungebrochen und steigt sogar (40%).
Die schlechte Nachricht: Die Interessierten sind immer weniger bereit, sich über Politik zu informieren. [...] Aus Interesse entstehen so Kenntnisse. In der Politik gilt das nicht mehr. Dort artikulieren Bürger engagiert ihre Meinung, ohne sich gleichzeitig für politische Nachrichten oder Analysen zu interessieren. "


Wie immer, betrifft es nicht "Alle", es gibt auch Gegenbeispiele. Aber wenn es bereits da schon irgendwo klemmt, wird es schwierig, finde ich.

Der ideologischen Turing-Test von Bryan Caplan kannte ich noch gar nicht, und ich fand den Vorschlag, an politischen Debatten erst dann teilzunehmen, wenn man die Position der "Gegner" so artikulieren kann, dass diese Gegner diese Artikulation akzeptieren würden, tatsächlich wirklich gut. Nicht nur bezogen auf Politik, auch andere Themen die in der Gesellschaft hitzig diskutiert werden, dürften davon profitieren.

Ganz zum Schluss gefiel mir auch ganz gut, dass er meinte, "performativ zeigen zu wollen, dass man philosopische Thesen nicht persönlich nehmen muss und es nicht wehtut, seine Meinung zu ändern."




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Jörn Budesheim
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Einen Punkt aus der Diskussion mit Sauer und Bleisch kenne ich auch (ähnlich) von Instagram, wo ich einem Kanal namens "Streitgut" folge. Ziel des Kanals ist es, die Diskussionskultur zu verbessern. Von Zeit zu Zeit posten sie Statistiken (oft aus den USA), die zeigen, dass die sogenannte Polarisierung der Gesellschaft bei weitem nicht so krass ist, wie man gemeinhin annimmt, dass in der Regel die Mitte am stärksten ist, die in "den" Medien am schwächsten vertreten ist. ("Wir sind gar nicht unterschiedlicher Meinung, wir hassen einander nur.")




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Jörn Budesheim
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Eiwa hat geschrieben :
Mi 11. Okt 2023, 13:09
Der ideologischen Turing-Test von Bryan Caplan kannte ich noch gar nicht, und ich fand den Vorschlag, an politischen Debatten erst dann teilzunehmen, wenn man die Position der "Gegner" so artikulieren kann, dass diese Gegner diese Artikulation akzeptieren würden, tatsächlich wirklich gut. Nicht nur bezogen auf Politik, auch andere Themen die in der Gesellschaft hitzig diskutiert werden, dürften davon profitieren.
Ich habe mal (noch im alten Forum) Tipps für Streitgespräche aus dem 17. Jahrhundert oder früher gepostet. Da war einer der ersten Tipps, das Gesagte zuerst zu paraphrasieren (mit der Frage: "Hast du das so gemeint?") und erst dann zu antworten. Ähnliches kenne ich von Posts von Streitgut auf Instagram - ich meine, da stand sogar ein bekannter Philosoph Pate, nämlich Daniel Dennett. Der hat dasselbe gemeint: Erst paraphrasieren, dann kritisieren. Ich denke, das geht in eine ähnliche Richtung, oder?




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Jörn Budesheim
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Do 12. Okt 2023, 08:11

Eiwa hat geschrieben :
Mi 11. Okt 2023, 13:09
"Wir sind gar nicht unterschiedlicher Meinung, wir hassen einander nur. Es gibt Gruppenidentitäten und eine Aversion zwischen ihnen."

Ich bleibe zwar vielen sozialen Plattformen fern, aber mitbekommen kann man dennoch einiges. Und auch, wenn ich der Aussage nicht auf alle möglichen Themenbereiche zustimmen würde (und das Wort "Hass" eventuell zu plakativ empfinde), so sehe ich in manchen Bereichen doch, dass da sicherlich was dran ist.
Diese Gruppenidentitäten und die Aversion kann man auch hier im Forum beobachten, wie ich finde.

"Das ist ein großer Unterschied, aber der Grund dafür, warum die Menschen das eine oder andere glauben, ist nicht, weil sie es durchdacht haben und sich auf die empirischen Daten und Argumente aus Philosophie und Politik stützen, sondern der Grund ist: Ich gehöre der Gruppe an und bin deswegen dafür oder dagegen. Es ist viel oberflächlicher. Unsere politischen Ansichten sind viel volatiler als wir denken."
Ich möchte dazu etwas sagen, und zwar zuerst an einem Beispiel aus der Diskussion zwischen Bleisch und Sauer. Sehr anschaulich fand ich nämlich im Video das Bild des "Expanding Circle", das in Peter Singers gleichnamigen Buch behandelt wird. Barbara Bleisch hat mit Gummiringen veranschaulicht, wie sich Moral und ethisches Empfinden im Laufe der Menschheitsgeschichte ausgeweitet haben, so dass die Menschen ihre moralischen Verpflichtungen nicht mehr nur auf die eigene Familie und Gemeinschaft beschränken, sondern auf einen immer größeren Kreis von Wesen ausdehnen, schließlich nicht nur auf die gesamte Menschheit, sondern auch auf viele Tiere.

Manche Gruppenbildungen, die du hier womöglich beobachten kannst, orientieren sich zum Beispiel daran - "wie weit ist 'dein' Kreis?". In diesen Fällen gibt es aber zuerst die ethische Auffassung (so groß soll der Kreis der Wesen sein, denen wir etwas schulden und nicht kleiner!) und dann die "Gruppenzugehörigkeit", die sich übrigens auch ändern kann, wenn man z.B. Tiere dazuzählen will.

Oder ein anderes Beispiel: Ich war immer mit "nwdm" im Team "Computer können nicht denken", aber diese Gruppenzugehörigkeit endete schnell, wenn es um Themen wie #metoo ging. Auch hier orientierte sich die (wechselhafte) "Gruppenzugehörigkeit" am Inhalt, der Kitt war das, woran man glaubte, nicht die Gruppe selbst.

Wenn man hier manchmal Gruppen zu sehen meint, bestätigt das für sich allein die fragliche These also noch nicht.




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Jörn Budesheim
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Do 12. Okt 2023, 15:55

Lustig fand ich, wie Sauer auf die Frage, ob er Optimist oder Pessimist sei, antwortete, dass er zu 51% Optimist sei. Damit ist er vermutlich der pessimistischste Optimist, den ich kenne :-)




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Eiwa
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Do 12. Okt 2023, 16:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 12. Okt 2023, 07:41
Einen Punkt aus der Diskussion mit Sauer und Bleisch kenne ich auch (ähnlich) von Instagram, wo ich einem Kanal namens "Streitgut" folge. Ziel des Kanals ist es, die Diskussionskultur zu verbessern. Von Zeit zu Zeit posten sie Statistiken (oft aus den USA), die zeigen, dass die sogenannte Polarisierung der Gesellschaft bei weitem nicht so krass ist, wie man gemeinhin annimmt, dass in der Regel die Mitte am stärksten ist, die in "den" Medien am schwächsten vertreten ist. ("Wir sind gar nicht unterschiedlicher Meinung, wir hassen einander nur.")

Die Studie zur politischen Polarisierung ist interessant - ich habe zwar nicht alles gelesen, aber das Fazit ist aufschlussreich :)

Lesenswert fand ich auch das: #Spaltung.




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Eiwa
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Do 12. Okt 2023, 16:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 12. Okt 2023, 07:48
Ähnliches kenne ich von Posts von Streitgut auf Instagram - ich meine, da stand sogar ein bekannter Philosoph Pate, nämlich Daniel Dennett. Der hat dasselbe gemeint: Erst paraphrasieren, dann kritisieren.
Ja, aber auch das will "gelernt" sein. Gestern stieß ich auf dieses Video (Der Inhalt außen vor gelassen, es geht nur um die Art, wie kommuniziert wird):



So funktionniert es natürlich nicht :D




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Jörn Budesheim
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Do 12. Okt 2023, 17:34



Hanno Sauer und Barbara Bleisch, zweite Runde: Hier geht es um teils relevante, teils modische, teils umstrittene Begriffe rund um das Thema Moral und deren Erläuterung und Bewertung, für die Sauer jeweils 30 Sekunden Zeit hat.

Ich könnte mir vorstellen, dass eine solche Form des philosophischen Speed-Datings nicht für alle das richtige ist, aber ich fand es bisher - ich bin noch nicht ganz durch - recht unterhaltsam.




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Jörn Budesheim
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Eiwa hat geschrieben :
Do 12. Okt 2023, 16:33
aber das Fazit ist aufschlussreich
Hier meine Zusammenfassung des Fazits, ich hoffe, es passt:

Die Studie legt nahe, dass es in Deutschland trotz politischer Meinungsverschiedenheiten keine tiefe Spaltung zwischen großen Teilen der Gesellschaft gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung neigt zu moderaten Positionen, bevorzugt Kompromisse und lehnt Polarisierungen ab.

Allerdings haben sich die Meinungsunterschiede zwischen den Anhängern verschiedener Parteien in den letzten Jahren deutlich vergrößert, insbesondere im rechten Spektrum. Am rechten Rand des politischen Spektrums positioniert sich eine bestimmte Gruppe von Menschen, die bestimmte Ansichten vertritt, darunter niedrige Steuern auch auf Kosten sozialstaatlicher Leistungen, Vorrang für Wirtschaftswachstum vor Klimaschutz und eine restriktivere Einwanderungspolitik. Diese Gruppe fühlt sich häufig in den öffentlich-rechtlichen Medien nicht ausreichend repräsentiert, ist mit der Demokratie unzufrieden und fühlt sich aufgrund ihrer politischen Einstellung ausgegrenzt.

Die Ergebnisse zeigen eine gewisse Polarisierungstendenz in Deutschland, wenn auch nicht auf dem Niveau einiger anderer Länder.




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Okt 2023, 08:09

Eiwa hat geschrieben :
Do 12. Okt 2023, 16:33
Lesenswert fand ich auch das: #Spaltung.
Mein Summary: Bartel wirft die Frage auf, ob die Spaltung der Gesellschaft wirklich so weit verbreitet sei, wie oft behauptet werde, und ob es nicht sinnvoller sei, das Gemeinsame und Verbindende stärker zu betonen. Der Begriff "Spaltung" werde häufig überstrapaziert und führe zu einer Inflation dieses Vorwurfs. Laut Bartel wird der Begriff "Spaltung" unterschiedlich verwendet:

Zum einen werde er benutzt, um politischen Druck aufzubauen und auf soziale Ungleichheiten und andere Probleme wie den Gender Pay Gap, strukturellen Rassismus oder die schlechteren Arbeitsmarktchancen von Menschen mit vielen Kindern aufmerksam zu machen.

Auf der anderen Seite wird es auch genutzt, um Debatten einzuschränken, indem diejenigen, die bestimmte Themen ansprechen, als antidemokratische Spalter dargestellt werden. Als Beispiel nimmt sie eine Äußerung von Bundestagspräsident a.D. Wolfgang Thierse: "Wie viel Identitätspolitik stärkt die Pluralität einer Gesellschaft, ab wann schlägt sie um in Spaltung?" Die "Grabenkämpfe" linker und rechter Identitätspolitik, die Aggressivität, mit der sie geführt würden, zerstörten den Gemeinsinn, rechter Hass und linke Cancel Culture brächten die Vielfalt zum Schweigen. Linke Cancel Culture sei demokratiefremd bis demokratiefeindlich. "Das ist harter Tobak", kommentiert Bartel (zurecht). Außerdem hält sie es für paradox, man wettert gegen (angebliche) Cancel Culture, aber zugleich will man damit Debatten selbst einschränken.




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Eiwa
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Fr 13. Okt 2023, 11:26

Ich wünschte, ich könnte mich noch zu dem Beitrag mit den Gruppen äußern, aber da geht mir sovieles durch den Kopf - das Thema ist für mich eines, welches schon sehr in die "Tiefe" geht und ich kann es nicht nur kurz und vor allem strukturiert beschreiben.




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