Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Nauplios
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Fr 24. Nov 2023, 18:24

Luhmann hat in dieser 6. Vorlesung noch eine weitere Unterscheidung eingeführt (internal/external) und bespricht noch mehrere Möglichkeiten der Kombination. Ich denke, dem müssen wir hier nicht bis in alle Verästelungen nachgehen; für ein Grundverständnis der Systemtheorie scheint das auch nicht unbedingt erforderlich.

Die Quintessenz dieser 6. Vorlesung über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien liegt im Grunde in der Verabschiedung des Vernunftprogramms der Aufklärung, das ja auch heute noch die internen Ansprüche von Gesellschaftstheorien motiviert (s. etwa die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas). Das Rationalitätskontinuum der Vernunft, das oben schon mal kurz erwähnt wurde, wird abgelöst zugunsten einer Referenz auf Systemrationalität in jeweiligen Kontexten, also zugunsten der Polykontexturalität.




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Nauplios
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Fr 24. Nov 2023, 20:17

Zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gibt es im Bereich "Grundbegriffe erklärt" auch eine kurze Erklärung von Dirk Baecker.

Baecker hat sich auch zur Frage einer privilegierten Beobachtung in einer polykontexturalen Welt geäußert, und zwar in einer umfangreichen Aufsatzsammlung mit dem Titel Nie wieder Vernunft. Kleinere Beiträge zur Sozialkunde




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Nauplios
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Sa 25. Nov 2023, 16:08

In der 7. Vorlesung geht es u.a. um den Vergleich einiger symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. Und auch hier ist wieder von "Standards der Rationalität" die Rede. Die erste Frage, die Luhmann aufruft ist, ob es in allen Medien einen binären Code gibt, ein Entweder/Oder. Luhmann vermutet, daß die binäre Codierung Entscheidungssituationen herbeiführt. Wenn er ihr gesteht, daß er sie liebt, besteht eine solche Entscheidungssituation darin, daß sie sich dazu in irgendeiner Weise erklären muß. Wenn damit gar ein Heiratsantrag verbunden ist, kann sie schlecht sagen: "Hast du auch Lust auf ein Eis?" - Der binäre Code "zwingt" sie zu einer Entscheidung: ja/nein.

Die jeweils positive Seite von Annahme/Ablehnung erscheint dabei im allgemeinen als die wertvollere Option. Wenn Sie "ja" sagt, ist das für ihn besser als ein "nein"; Geld zu haben ist besser als kein Geld zu haben; wenn etwas wahr ist, ist das besser als wenn es unwahr ist usw.

"Der moderne Liebescode ist bewusst gegen Moral neutralisiert. Wir lieben jemanden nicht wegen seiner moralischen Qualitäten, sondern wegen seiner Individualität, wegen seiner idiosynkratischen Eigenschaften, nicht deswegen, was von jedermann verlangt wird." (S. 167)




sybok
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Sa 25. Nov 2023, 16:44

Nauplios hat geschrieben :
Do 23. Nov 2023, 19:40
Von größerer Wichtigkeit ist hingegen der Abschnitt über "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" (ab S. 145). Die Begriffsbildung geht zurück auf Talcott Parsons, dessen theoretisches Interesse einer soziologischen Handlungstheorie galt. "Aus der Analyse des Handlungsbegriff folgt [für Parsons], wie Handlung System wird und wie sich innerhalb der Komponenten von Handlungen Subsysteme bilden." (S. 145f) - Bei Parsons geht es allein um Handlungen und Kommunikation ist hier nur ein Spezialfall von Handlung. Parsons knüpft damit an die ältere soziologische Tradition an, die sich Handlung immer ausgestattet mit sozialem Sinn (etwa als zweckrationales oder wertrationales Handeln - s. Max Weber) vorgestellt hatte.
Interessant, dass er das von Parsons übernimmt und es scheint jetzt kein allgemeines Konzept der Systemtheorie sondern ein Konzept spezifisch für die "Theorie der Gesellschaft" zu sein, kann man das sagen? Denn beispielsweise eine Suche in "Einführung in die Systemtheorie" liefert mir nur 4 Treffer für "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" und allesamt nur in Bezug zu Parsons.
Nauplios hat geschrieben :
Do 23. Nov 2023, 19:40
Nach Parsons entstehen Medien als Konsequenz aus der funktionalen Differenzierung und ein Verbund von Handlungen generiert dann das System. Bei Luhmann ist es so, "daß sich Medien dazu eignen, Systeme zu generieren".
Ich glaube, er sagt, dass sich diese Medien "selber systemisch abschliessen können". Hier habe ich Mühe mit dem Abschluss-Konzept, wobei ich dachte ich hätte das mittlerweile verstanden. Ich kann ja beispielsweise Geld in politische Macht umtauschen, das kann ich für mich momentan nicht mehr über Geschlossenheit modellieren, weder auf einer konkreten noch auf einer abstrakten Ebene. Auch nicht wenn ich daran denke, dass man über Sinn Zugriff auf die Umwelt hat oder es irgendwelche strukturellen Kopplungen geben könnte.
Ausserdem ist ja die Operation die Kommunikation, dann müsste aus meiner Sicht geklärt werden, wie nun ein Medium diese Rolle übernehmen kann. Es muss dann ja auch alle Bedingungen erfüllen, wie etwa die Anschlussfähigkeit. Wenn sich das innerhalb des Gesellschaftssystems ausdifferenziert, müsste es ja eigentlich die Kommunikation sein, die da sozusagen weitere Differenzen einzieht, Kommunikation die innerhalb von Kommunikation eine Unterscheidung macht. Das scheint mir zunächst oberflächlich einleuchtend. Ich stelle mir vor, dass über Geld kommuniziert wird, sich das, wie Luhmann sagte, "verdichtet", bis ein hinreichender Unterschied erzeugt wurde. Aber ist das dann nicht eher eine Form der Kommunikation, etwas "fest Gekoppeltes"?
Ein anderer Punkt wäre, dass mir die Auswahl, was als Medium gewählt wird, etwas willkürlich erscheint, resp. wohl sehr schwierig festzustellen ist, wenn man plausible Modelle von Systemen machen möchte. Warum beispielsweise "Geld" und nicht "Schulden", "Schulden" wäre für mich generischer, ein Überbegriff, mehr erklärend und würde in meiner Vorstellung zu "definierteren" Systemen führend.

Ich fand bezüglich "differenztheoretischer Ansatz" wirklich gut, wie Luhmann sozusagen die historische Genese des Ansatzes aufzeigte. Es ergab Sinn, dieser Theorieansatz, der mir erst auch etwas willkürlich erschien, hatte für mich danach eine gewisse Schlüssigkeit. Das vermisse ich hier ein wenig, mein momentaner Eindruck ist, dass man - ohne wirkliche Not (?) - eine Kontinuität zu Parsons herstellen will.




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Sa 25. Nov 2023, 17:47

Ich kann zur Zeit kein copy and paste machen, kann auch die Zitierfunktion nicht richtig nutzen, deswegen jetzt meine Antwort in kleinen Schnipseln, Sybok. ;)

Dieses Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien übernimmt Luhmann dem Namen nach von Parsons. Daß damit an dieser Stelle etwas näher auf Parsons eingegangen wird, verdankt sich dem Respekt des Schülers vor seinem Lehrer. Worin sich Luhmann dennoch von Parsons absetzt, ist der handlungstheoretische Rahmen der Parson' schen Systemtheorie. Parsons Modell ist orientiert an Handlungen, Luhmanns Modell an Kommunikationen. Das mit den 4 Treffern ist etwas seltsam. In Die Gesellschaft der Gesellschaft widmet Luhmann den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien in 4 Abschnitten 80 Seiten.




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Sa 25. Nov 2023, 18:11

Kann man Geld in politische Macht umtauschen? - Vielleicht in Form von Korruption? ;) Man darf sich das jetzt nicht so vorstellen, daß es aus der Wirtschaft beispielsweise über den Weg des Lobbyismus keine Einflussnahme auf politische Akteure gäbe. Es gibt auch Geldheiraten, Versorgungsehen usw. - Lobbyisten werden allerdings nicht gewählt (wie Abgeordnete). Sie selbst haben keine politisch legitimierte Macht in der Form, daß sie beispielsweise Gesetze unter Androhung von Strafe beschließen könnten. Das politische System verfügt mit seiner Gewaltenteilung dagegen über exekutive Institutionen über Zwangsmechanismen. Wer Steuern hinterzieht, läuft Gefahr, aufgespürt zu werden und durch ein Gericht im äußersten Fall zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Wer ein Produkt nicht kauft muß damit nicht rechnen. Wer seine Geliebte ständig mit teuren Geschenken überhäuft, setzt sich dem Verdacht aus, daß seine Liebe nicht echt ist, daß er damit andere Zwecke verfolgt usw.




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Sa 25. Nov 2023, 18:34

Medien "eignen sich, Systeme zu generieren", weil sie unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher machen. Wenn es erst gar nicht zu Kommunikationen kommt, kann auch kein soziales System entstehen. Wenn er sie nicht anspricht und sie nur aus der Ferne anhimmelt (ohne daß sie es bemerkt), bildet sich kein Intimsystem. Damit es dazu kommen kann, gibt es den binären Code des Mediums Liebe: sie kann seinen schmachtenden Blicke mit einem Lächeln begegnen oder um seine Aufmerksamkeit zu erregen, ihr Taschentuch "verlieren". Noch im 18./19. Jahrhundert mußte man einander vorgestellt werden bevor man seine "Absichten" zu erkennen gab. Um die Gunst einer Frau zu gewinnen, sind Blumen besser als Kontoauszüge.




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Sa 25. Nov 2023, 18:50

Vielleicht läßt es sich so sagen: symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien helfen der Systembildung auf die Sprünge indem sie das wahrscheinliche Nein in ein Ja umwandeln. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen, die per se unwahrscheinlich sind. Sie bahnen Kommunikation sozusagen an. Der Obdachlose, der mich um einen Euro bittet, bescheidet sich nicht damit, daß ich ihn umarme. Die Ehefrau, die ihren Mann fragt, ob er sie noch liebt, erwartet nicht, daß er ihr als Antwort einen Euro zusteckt.




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Sa 25. Nov 2023, 19:40

Nauplios hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 17:47
Das mit den 4 Treffern ist etwas seltsam. In Die Gesellschaft der Gesellschaft widmet Luhmann den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien in 4 Abschnitten 80 Seiten.
Hm, habe es nochmals von 2 anderen PDF-Readern zählen lassen, das eine kommt für "symbolisch" auf 5, das andere auf 6 Treffer :D ,... aber jedenfalls nicht viele. Das wird mir erst jetzt richtig bewusst, aber ich trenne: Systemtheorie als Theorie an sich einerseits und die Systemtheorie mit der Gesellschaft als einer ihrer Anwendungsfälle andererseits. Ich hatte, zumindest bisher, den Eindruck, damit soweit gut gefahren zu sein. Mein Eindruck ist momentan, dass Luhmann letztlich die Systemtheorie zwar offenkundig im Hinblick auf eine Theorie der Gesellschaft konzipiert hat, aber eigentlich - fast sozusagen auf der Metaebene - dafür gleich ein neues Theoriedesign entwickelt hat, das eigentlich nicht auf einen konkreten Anwendungsfall beschränkt scheint. Könnte es vielleicht daran liegen? Das passte ja eigentlich zum Titel "Einführung in die Systemtheorie". Dass diese symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bereits aus einer Konkretisierung der (allgemeinen) Systemtheorie zur "Systemtheorie der Gesellschaft" hervorgehen aber nicht Bestand des eigentlichen Theoriedesigns sind? Das würde für mich einiges klären, etwa die Übernahme des Begriffs von Parsons, statt einer Neuentwicklung (denn konzeptuell ist es ja, soweit ich das verstanden habe, das Gegenteil von dem wie es bei Parsons ist, er dreht ja die Richtung der Kausalität um: symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien ==> funktionale Differenzierung).

Kann man sagen, dass es unter Umständen für gewisse "Kommunikationsströmungen", wenn man das so nennen kann, gewisse Formen gibt, die sich darum herum eben verdichten, bis sich daraus gewissermassen "kondensiert" ein entsprechendes Medium ergibt? Das ergäbe für mich vom Standpunkt der Theorie an sich aus einigermassen Sinn, diese Umwandlung von Form in Medium hatten wir ja auch kurz angesprochen.

Das mit der unwahrscheinlichen Kommunikation und dem wahrscheinlicher werdenden "Ja" muss ich mal noch durchdenken. Dafür sogar eigene Systeme zu fordern erscheint mir gerade mit Kanonen auf Spatzen geschossen, aber ich übersehe wohl einfach etwas, ich glaube ich muss mal versuchen eine erste Bilanz zu erstellen :) .




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Jörn Budesheim
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sybok hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 19:40
Das mit der unwahrscheinlichen Kommunikation
Ich habe mir erlaubt, dazu einen eigenen Faden zu öffnen, der mit einem Text aus einem Lehrbuch startet https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... 398#p71035




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infinitum
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sybok hat geschrieben :
So 19. Nov 2023, 10:30
infinitum hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 11:28
Was mich interessieren würde: wie betrachtet(e) man die Gesellschaft, bevor Luhmann sein Ansatz der sozialen Systeme vorgestellt hat? Was war seine Motivation, die Sicht auf die Gesellschaft aus einer anderen Perspektive zu betrachten und hatte Luhmanns Ansatz eigentlich auch Auswirkungen auf die tatsächliche Organisation der Gesellschaft oder ist sein Denken bis heute ein theoretisches Konstrukt geblieben?
Interessante Fragen, ich kann sie dir leider nicht kompetent genug beantworten,... dann halt einfach mal was mir dazu einfallen würde 8-) :

Bezüglich der ersten Frage stellt Luhmann in der ersten Vorlesung sich selber die Frage "Was wird an Theorie der Gesellschaft in der Soziologie angeboten?" und antwortet auch gleich mit "Nichts". Vielleicht müsste man auf andere Gebiete schauen, politische Philosophie, Timberlake hatte Marx angesprochen oder vielleicht Dinge wie den Kontraktualismus (*). Und mit Parsons und seiner Systemtheorie gibt es ja auch einen Vorläufer. Luhmann selbst beschreibt ja in einer der Vorlesungen die historische Entwicklung der Systemtheorie und da werden prominent die Ideen der Biologie und Kybernetik genannt. Die waren ja meines Wissens schon stark, ich denke beispielsweise an den Behaviorismus oder die Eugenik. Dieses kybernetische Denken findet man ja meinem Eindruck nach auch heute sehr stark in wirtschaftlichen und politischen Dingen: Man muss nur die Anreizstrukturen richtig setzen und das System reguliert sich selber, Input/Output-Apparate mit simplen Differenzkontrollen. Überhaupt diese ganze Ideenwelt von Ökosystemen mit stabilen Zuständen ist ja fast omnipräsent. Scheint mir fast, als hätte man da den Schritt in Richtung Luhmann nicht gemacht?

Was mir zu Einflüssen sptonan einfällt, wären beispielsweise moderne Organisationsstrukturen, Soziokratie, Holokratie und ähnliche "Designs", die berufen sich meines Wissens ganz ausdrücklich auf die Systemtheorie. Die sind meinem Eindruck nach ziemlich beliebt in der Start-Up Szene und bei IT-Firmen, etwa bei Fragen wie man Dynamik und Flexibiltät bewahrt wenn eine Firma wächst, wie man verhindert, dass die Strukturen "verkrusten" und "verbürokratisieren", wie man den Geist der Innovation bewahrt und solche Geschichten.

(*) Interessant wäre vielleicht der Aspekt, fällt mir gerade auf, dass man beim klassischen Kontraktualismus, Hobbes etc., ja auch diese Rekursionsproblematik findet: Der Souverän garantiert die Verträge, wird selber aber durch einen (Gesellschafts-)Vertrag erst dazu legitimiert. Vielleicht müsste man auf dieser Basis mal durchdenken, inwiefern da Verträge die Rolle einer Operation im Sinne Luhmanns einnehmen könnten, immerhin scheint das, abstrakt gesehen, konzeptuell jetzt nicht ultra weit von Kommunikation entfernt (?)
vielen Dank für die ausführliche Antwort und auch an Timberlake.
Besonders interessant finde ich die Einflüsse in Bezug zu Kybernetik, die Luhmann prägten. Ich habe herausgefunden, dass Norbert Wiener und Gregory Bateson hier Vorarbeit geleistet haben. Wiener war somit der erste, der das Konzept der Kybernetik so fasste, dass eine Übertragung auf andere Disziplinen möglich wurde. Auch wird hier erstmals die Informatik einbezogen. Bateson hingegen beschäftigte sich mehr mit sozialen und kulturellen Systemen und fragten nach den Wechselwirkungen zwischen Ideen, Kommunikation und der Evolution. So wie ich das nun verstehe, war der Motor hinter all dem, dass man die Strukturen versteht, die zu den sozialen Vorgängen führen.
Ich frage mich nun, können soziale Systeme in ihrer Struktur und in ihren Eigenschaften denn mathematisch beschrieben werden und somit auch im Ablauf berechnet werden?



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Mo 27. Nov 2023, 17:29

Dieses Video habe ich gerade gefunden. Es geht vornehmlich um die Einflüsse, z.T. "Vorläufer" usw. Luhmanns hinsichtlich seiner Systemtheorie:

(Es sind dort noch weitere Videos über Luhmanns Systemtheorie zu finden.)




sybok
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Di 28. Nov 2023, 11:18

infinitum hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 15:37
Ich frage mich nun, können soziale Systeme in ihrer Struktur und in ihren Eigenschaften denn mathematisch beschrieben werden und somit auch im Ablauf berechnet werden?
Da liegt auch für mich ein sehr grosses Interesse. Luhmann meint ja in der ersten Vorlesung, dass ihn Prognostik zwar nicht interessiere, aber es auch nicht ausschliessen wolle. An einer anderen Stelle meint er, sinngemäss nach meiner Erinnerung, man müsste für Vorhersagen und Berechnungen in den Anschlussmechanismus der Operation schauen können. Das ist ja nach meinem aktuellen Verständnis eigentlich nicht möglich, ohne selbst das System zu sein das diesen Anschluss herstellt. In solchen Fällen könnten aber vielleicht ja dann einfach stochastische Herangehensweisen helfen, macht man heute ja auch bei zu komplexen und eigentlich nicht berechenbaren Systemen ("Systemen" hier jetzt umgangssprachlich gemeint).

Vielleicht bräuchte man auch andere Formalismen, eine andere Toolbox, immer wieder wird ja Spencer Brown erwähnt. Neben Spencer Brown erwähnt Luhmann noch einen Kauffman, den ich vorher nicht kannte. Ein Aufsatz von ihm gibt einen Überblick über einige Zusammenhänge zwischen Mathematik und dieser Reentry und Selbstbezüglichkeitsgeschichte. Derzeit bin ich nebenher gerade beim Versuch, das über Zitate in die Gegenwart zu verfolgen. Meinem Eindruck nach wird erstaunlich wenig in dem Bereich gemacht, trotz der meiner Meinung nach enormen Bedeutung. Zum Beispiel stosse ich dann etwa in einem neueren Lehrbuch von Dirk Helbing (ETH Zürich) ein Konzept von "System", das dann wieder in der Subjekt <-> Objekt Beziehung denkt, die "Atome" sind wieder die Individuen und diese ganzen Geschichten - ist halt mathematisch viel einfacher handlebar statt wirklich mal für Modellierungen zu versuchen, konzeptuell umzuschalten.

Interessant finde ich die Zusammenhänge zu dem Themenkreis Bewusstsein und KI. Schaue ich mich im Netz um, findet man zwar reichlich Material, aber es geht praktisch immer eher um gesellschaftliche Aspekte. Ich kann das ja eigentlich noch nicht beurteilen, aber die Systemtheorie von Luhmann wirklich nur als "Subtheorie" in geisteswissenschaftlichen Fächer zu verstehen, scheint mir die Genialität von Luhmanns Gedankengängen diesbezüglich eigentlich nicht gerecht zu werden. Das Theoriedesign scheint sich meinem aktuellen Eindruck nach beispielsweise eigentlich auch als Ausgangsbasis für "knallhartes" Engineering zu eignen (dazu finde ich aber eigentlich absolut gar nichts), meiner persönlichen Meinung läge darin sogar ein Schlüssel für "echte", starke KI.

Vielleicht können wir dann später mal, falls diese Sichtweise nicht noch korrigiert werden muss, einen Thread für diesen ganzen Bereich machen ;) .




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infinitum
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Do 30. Nov 2023, 18:23

sybok hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 11:18
infinitum hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 15:37
Ich frage mich nun, können soziale Systeme in ihrer Struktur und in ihren Eigenschaften denn mathematisch beschrieben werden und somit auch im Ablauf berechnet werden?
Da liegt auch für mich ein sehr grosses Interesse. Luhmann meint ja in der ersten Vorlesung, dass ihn Prognostik zwar nicht interessiere, aber es auch nicht ausschliessen wolle. An einer anderen Stelle meint er, sinngemäss nach meiner Erinnerung, man müsste für Vorhersagen und Berechnungen in den Anschlussmechanismus der Operation schauen können. Das ist ja nach meinem aktuellen Verständnis eigentlich nicht möglich, ohne selbst das System zu sein das diesen Anschluss herstellt. In solchen Fällen könnten aber vielleicht ja dann einfach stochastische Herangehensweisen helfen, macht man heute ja auch bei zu komplexen und eigentlich nicht berechenbaren Systemen ("Systemen" hier jetzt umgangssprachlich gemeint).

Vielleicht bräuchte man auch andere Formalismen, eine andere Toolbox, immer wieder wird ja Spencer Brown erwähnt. Neben Spencer Brown erwähnt Luhmann noch einen Kauffman, den ich vorher nicht kannte. Ein Aufsatz von ihm gibt einen Überblick über einige Zusammenhänge zwischen Mathematik und dieser Reentry und Selbstbezüglichkeitsgeschichte. Derzeit bin ich nebenher gerade beim Versuch, das über Zitate in die Gegenwart zu verfolgen. Meinem Eindruck nach wird erstaunlich wenig in dem Bereich gemacht, trotz der meiner Meinung nach enormen Bedeutung. Zum Beispiel stosse ich dann etwa in einem neueren Lehrbuch von Dirk Helbing (ETH Zürich) ein Konzept von "System", das dann wieder in der Subjekt <-> Objekt Beziehung denkt, die "Atome" sind wieder die Individuen und diese ganzen Geschichten - ist halt mathematisch viel einfacher handlebar statt wirklich mal für Modellierungen zu versuchen, konzeptuell umzuschalten.

Interessant finde ich die Zusammenhänge zu dem Themenkreis Bewusstsein und KI. Schaue ich mich im Netz um, findet man zwar reichlich Material, aber es geht praktisch immer eher um gesellschaftliche Aspekte. Ich kann das ja eigentlich noch nicht beurteilen, aber die Systemtheorie von Luhmann wirklich nur als "Subtheorie" in geisteswissenschaftlichen Fächer zu verstehen, scheint mir die Genialität von Luhmanns Gedankengängen diesbezüglich eigentlich nicht gerecht zu werden. Das Theoriedesign scheint sich meinem aktuellen Eindruck nach beispielsweise eigentlich auch als Ausgangsbasis für "knallhartes" Engineering zu eignen (dazu finde ich aber eigentlich absolut gar nichts), meiner persönlichen Meinung läge darin sogar ein Schlüssel für "echte", starke KI.

Vielleicht können wir dann später mal, falls diese Sichtweise nicht noch korrigiert werden muss, einen Thread für diesen ganzen Bereich machen ;) .
Vielen Dank für den Link zu dem Paper, dieser erscheint mir ausgesprochen spannend, zumal die Kombination mit den Laws of Form mir sinnvoll erscheint. Das Buch habe ich auch vor längerer Zeit zu Teilen gelesen und war beeindruckt. Ich arbeite den Paper mal durch und bin schon gespannt.
Zu mathematischen Modellen denke ich direkt an dynamische oder chaotische Systeme (https://de.wikipedia.org/wiki/Chaosforschung), denn laut diesem Zitat: "Dynamische Systeme mit deterministisch chaotischem Verhalten sind nur scheinbar stochastische Systeme. Das Verhalten wird nicht durch zufällige äußere Umstände, wie beispielsweise Rauschen, verursacht. Es folgt aus den Eigenschaften des Systems selbst." passt das recht gut auf das Verhalten der Luhmannschen System-Eigenschaften.
In Bezug auf Bewusstseinstheorie sehe ich bei Luhmanns Codierung einen Link zur Beschreibung der Vorgänge, die im Gehirn ablaufen. Aber dazu werde ich auch jetzt erstmal noch weiter dazu lesen, bevor ich unqualifizierten Senf schreibe.
Ja, dazu können wir hier gerne einen neuen Faden eröffnen, ich denke, da ist reichlich Potential drin, insbesondere zum Thema KI-Bewusstsein und dem Übertrag auf Systeme riecht schon ein wenig nach starker KI...@Burkart- das könnte spannend werden...



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sybok
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Fr 1. Dez 2023, 12:34

Ich überspringe symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien leider erst mal noch, ich finde da irgendwie nach wie vor keinen Zugang. Ich mache nun mal weiter, in der Hoffnung, dass sich die Verständnislücke durch das "Netzwerk der Begriffe" dann im Nachhinein noch schliessen wird :) .

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In der 8. Vorlseung geht es um Evolution, dabei geht es zunächst auch gar nicht explizit um die Systemtheorie. Luhmann spricht in meiner Wahrnehmung einige interessante Aspekte an:
Evolution und deren Bezug zu einer Auffassung von Fortschritt. Evolution kann auch stagnieren oder rückläufig sein (wobei ich dieses Vokabular für etwas "gefährlich" halte, denn es inkorporiert ja schon ein Fortschrittgedanke). Luhmann stellt also den Fortschrittsgedanken in Frage, fragt, für wen, welchen Beobachter, etwa "mehr Vogelarten" ein Fortschritt sei, sagt aber, dass trotzdem Trendaussagen im Rahmen einer Evolutionstheorie möglich seien.

Was ich persönlich ganz super fand, Luhmann ist da in meiner Auffassung wesentlich weiter als beispielsweise die heutigen Physiker, ist sein Umgang mit Zufall [ab ca. 8:00]. Zufall erfordert nach meiner Sichtweise ein Entscheidungsverfahren, was es nach aktueller - aber noch nicht formal bewiesener - Auffassung in der Informationstheorie nicht gibt. Luhmann sagt, dass Zufall das sei, was nicht durch ein System koordiniert ist (kausal erzeugt oder nicht ist egal, wir haben ja sowieso kein Entscheidungsverfahren). Er sagt, das Erklärungsziel sei die Frage nach ungeplanten Strukturänderungen, wie sind diese möglich? Evolution sei die säkularisierte Fassung der Ablehnung von Schöpfungstheorien, es gibt keine Planung (das ist, er betont das 1, 2 mal, was man mit einem solchen evolutionstheoretischen Ansatz dann im Gegenzug ausschliesst).

Ein weiteres interessantes Thema ist die Komplexität und das Evolutionstheorie nicht erzwungenermassen Komplexität aufbauen muss (er bringt ein Beispiel mit dem Regenwurm, der ein Atomkrieg eher überleben könnte). Interessant für das Thema hier ist die Frage nach der Resilienz, es gibt ja diese Sichtweise, dass Komplexität stabilisierend wirken kann, indem es durch komplexe Beziehungsnetze Störungen abfedert (ich persönlich würde das unter Diversität und nicht Komplexität einordnen, aber ok). Luhmann stellt das in Frage mit einem Blick auf die moderne Gesellschaft, was ich einleuchtend finde: Es scheint nicht so, dass unsere moderne, hochkomplexe Gesellschaft resilienter als frühere Gesellschaften ist, vielleicht eher sogar im Gegenteil.
Ein interessanter Gedanke fand ich: "Evolution probiert aus, wie weit Komplexität erhöht werden kann, bevor die Autopoiesis zusammenbricht.".

Ab [47:12] geht es dann mehr um das Thema Gesellschaft, soziokulturelle Evolution. Wie werden Variation, Selektion und Stabilisierung materialisiert? Luhmann sagt, er mache einen Vorschlag, wolle folgendes ausprobieren:
  • [56:16] Variation: Findet auf der Ebene der Ereignisse, der Kommunikationen, statt.
    "Variation als Benutzung der negativen Seite des Codes der Sprache": Variation in Bezug auf eine Erwartungsstruktur.
  • [1:00:49] Selektion: Wäre eine Frage der Struktur, wird eine Struktur wiederholt verwendet oder nicht? Strukturen sind zeitkonstant / zeitinvariant, so dass Selektion eigentlich nur auf dieser Ebene möglich ist.
  • [1:08:24] Stabilisierung: Auf der Ebene der Systembildung selbst. Wenn sich das System so anpasst, dass die System/Umwelt-Verhältnisse die Auopoiesis weiterhin tolerieren. Der Mechanismus sei die Reproduktion der Systemgrenzen, resp. die Autopoiesis selbst. Variationen bieten sich an, Selektion folgt diesen und wie reagiert dann die Gesellschaft darauf, kann das noch stabil gehalten werden oder tauchen zu grosse Schwierigkeiten auf?
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Diese Vorlesung war mir wieder wesentlich näher und einleuchtend. Von mir aus kann man mehr oder weniger gleich bald mit der nächsten Vorlseung weitermachen.
Vielleicht könnte man noch ein, zwei konkrete Fälle diskutieren. Am Schluss der Vorlesung unter dem Thema "Stabilisierung" äussert Luhmann interessante Gedanken, er spricht da Probleme der modernen Gesellschaft an (meint aber, das würde er in der nächsten Vorlseung vertiefen), so wie ich jetzt das verstanden hätte: Die funktionale Differenzierung hätte man unter "Fortschritt" gesehen, scheint aber zunehmend Probleme zu verursachen. Variationen und Selektionen auf der Ebene dieser "Subsysteme" stellen nicht unbedingt die Frage nach der gesamtheitlichen System/Umwelt-Stabilisierung.
Dem würde ich zustimmen, also ich verstehe das so: Die Subsysteme evolvieren, es gibt Variationen, aber die Selektionsmechanismen für diese Variationen greifen nur innerhalb der Subsysteme und lassen dabei das Gesamtsystem eigentlich aussen vor, ob die Autopoiesis des Gesamtsystem das noch aushaltet, wird jetzt zunehmend zur Frage und die Stabilität des Gesamtsystems durch die vom Gesamtsystem "abgekoppelte" Evolution der Subsysteme gefährdet.




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Nauplios
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Do 7. Dez 2023, 19:28

sybok hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 12:34

Von mir aus kann man mehr oder weniger gleich bald mit der nächsten Vorlseung weitermachen.
Wie könnten wir die restlichen fünf Vorlesungen einteilen, Sybok? - Vielleicht magst Du ja auch ein paar Stichworte zu einer der Vorlesungen beisteuern, Infinitum? ;)




sybok
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Fr 8. Dez 2023, 10:57

Wenn ich nichts gehört hätte, hätte ich jetzt heute - Freitags habe ich momentan meistens gut Zeit - mit der 9. Vorlesung weiter gemacht. Ich höre sie mir heute sowieso an, aber wenn du oder Infinitum (oder sonst Jemand) schon mal loslegen wollt, wäre das natürlich auch cool :) .
Ich würde momentan also "immer Freitags" weitermachen, würde aber auch - bräuchte aber Unterstützung ;) - eine Beschleunigung begrüssen.

Ist jetzt ja noch nicht akut, aber wo wir gerade beim Thema "Planen" sind, hättest du eigentlich Empfehlungen? Ich höre diese Vorlesung und lese parallel die Vorlesungsaufzeichnung "Einführung in die Systemtheorie", beides geht jetzt langsam auf das Ende zu. Ich habe irgendwo gelesen, dass Luhmanns Hauptwerk "Die Gesellschaft der Gesellschaft" sei. Müsste/könnte man dort dann weitermachen, oder wäre es besser erst einen konkreten Fall wie beispielsweise "Die Wissenschaft der Gesellschaft" durchzugehen? Oder sogar etwas frech schon versuchen etwas "Modernes" im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie zu diskutieren, einige Vorschläge dafür wurden ja schon erwähnt, KI oder Social Media beispielsweise?




Timberlake
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Fr 8. Dez 2023, 12:58

sybok hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 12:34
Ich überspringe symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien leider erst mal noch, ich finde da irgendwie nach wie vor keinen Zugang. Ich mache nun mal weiter, in der Hoffnung, dass sich die Verständnislücke durch das "Netzwerk der Begriffe" dann im Nachhinein noch schliessen wird :) .

.,..merkwürdig ...
wikipedia hat geschrieben :
Anschluss (Luhmann)

. Im Wirtschaftssystem beispielsweise sorgt der Code zahlen/nicht zahlen dafür, dass die Kommunikationen sich auf sich selbst beziehen und sich selbst reproduzieren können, also dass auf jede Zahlung eine neue erfolgt. Dies funktioniert über das generalisierte Kommunikationsmedium Geld, das die letzte Zahlung mit der jetzigen verknüpft. Würde das Geld nicht mehr akzeptiert, folgt der Zahlung keine weitere Zahlung mehr und das System hätte seine Anschlussfähigkeit verloren. Die Anschlussfähigkeit innerhalb eines Systems wird als Selbstreferenz bezeichnet, im Gegensatz zum fremdreferentiellen Bezug auf die Umwelt (Welt, andere Systeme).
Wie kann man in Anbetracht dessen .. Einerseits! .. zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien keinen Zugang finden und .. Andererseits! .. an der Mathematik von sozialen Systeme interessiert sein ...
sybok hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 11:18
infinitum hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 15:37
Ich frage mich nun, können soziale Systeme in ihrer Struktur und in ihren Eigenschaften denn mathematisch beschrieben werden und somit auch im Ablauf berechnet werden?
Da liegt auch für mich ein sehr grosses Interesse. Luhmann meint ja in der ersten Vorlesung, dass ihn Prognostik zwar nicht interessiere, aber es auch nicht ausschliessen wolle. An einer anderen Stelle meint er, sinngemäss nach meiner Erinnerung, man müsste für Vorhersagen und Berechnungen in den Anschlussmechanismus der Operation schauen können. Das ist ja nach meinem aktuellen Verständnis eigentlich nicht möglich, ohne selbst das System zu sein das diesen Anschluss herstellt. In solchen Fällen könnten aber vielleicht ja dann einfach stochastische Herangehensweisen helfen, macht man heute ja auch bei zu komplexen und eigentlich nicht berechenbaren Systemen ("Systemen" hier jetzt umgangssprachlich gemeint).
Das macht für mich keinen Sinn .
  • "Personen können nicht ohne soziale Systeme entstehen und bestehen, und das gleiche gilt umgekehrt. Die Co-evolution hat zu einer gemeinsamen Errungenschaft geführt, die sowohl von psychischen als auch von sozialen Systemen benutzt wird. Beide Systemarten sind auf sie angewiesen, und für beide sind die bindend als unerläßliche, unabweisbare Form der Komplexität und ihrer Selbstreferenz. Wir nennen diese evolutionäre Errungenschaft Sinn."
    Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. S.92




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Nauplios
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Fr 8. Dez 2023, 17:37

sybok hat geschrieben :
Fr 8. Dez 2023, 10:57
Wenn ich nichts gehört hätte, hätte ich jetzt heute - Freitags habe ich momentan meistens gut Zeit - mit der 9. Vorlesung weiter gemacht. Ich höre sie mir heute sowieso an, aber wenn du oder Infinitum (oder sonst Jemand) schon mal loslegen wollt, wäre das natürlich auch cool :) .
Ich würde momentan also "immer Freitags" weitermachen, würde aber auch - bräuchte aber Unterstützung ;) - eine Beschleunigung begrüssen.

Ist jetzt ja noch nicht akut, aber wo wir gerade beim Thema "Planen" sind, hättest du eigentlich Empfehlungen? Ich höre diese Vorlesung und lese parallel die Vorlesungsaufzeichnung "Einführung in die Systemtheorie", beides geht jetzt langsam auf das Ende zu. Ich habe irgendwo gelesen, dass Luhmanns Hauptwerk "Die Gesellschaft der Gesellschaft" sei. Müsste/könnte man dort dann weitermachen, oder wäre es besser erst einen konkreten Fall wie beispielsweise "Die Wissenschaft der Gesellschaft" durchzugehen? Oder sogar etwas frech schon versuchen etwas "Modernes" im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie zu diskutieren, einige Vorschläge dafür wurden ja schon erwähnt, KI oder Social Media beispielsweise?
"Immer Freitags" scheint sich zu einer universalen Ordnungsstruktur zu entwickeln. ;)

Dem Wunsch nach Beschleunigung bin ich ein wenig zuvorgekommen und hab' an anderer Stelle schon mal etwas zur 9. und 10. Vorlesung geschrieben.

Die "Einführung in die Systemtheorie" ist natürlich eine gute Begleitlektüre, die ähnlich wie Soziale Systeme die Grundgedanken der Systemtheorie ohne besonderen Bezug auf das Thema Gesellschaft auseinanderlegt.

Das opus magnum Luhmanns ist Die Gesellschaft der Gesellschaft. Hier werden auf mehr als tausend Seiten die einzelnen Theoriestücke vertieft. Die Vorlesung, die wir hier besprechen ist eine Art light version davon.

Die Wissenschaft der Gesellschaft behandelt ein Subsystem der Gesellschaft und das gilt auch für Die Wirtschaft der Gesellschaft, Die Kunst der Gesellschaft u.a. Ein Vorteil mag hier darin liegen, daß es jeweils um ein konkretes System geht, woran dann die systemtheoretische Beschreibung erprobt wird.

Eine weitere Möglichkeit der Vertiefung sind die Aufsatzsammlungen, die in fünf Bänden unter dem Titel Soziologische Aufklärung erschienen sind. Diese Aufsätze eigenen sich besonders dann, wenn das Interesse auf spezielle Aspekte ausgerichtet ist. Der Vorteil ist hier, daß die Aufsätze meistens nicht länger als zwanzig Seiten lang sind. Im Gegensatz dazu sind die Untersuchungen zu den Subsystemen der Gesellschaft kaum unter 400 Seiten stark.

Was KI und social media u.ä. angeht, gibt es bestimmt Einzeluntersuchungen, aber da ist mein Überblick nicht ausreichend.




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Sa 9. Dez 2023, 01:04

sybok hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 12:34

In der 8. Vorlseung geht es um Evolution, dabei geht es zunächst auch gar nicht explizit um die Systemtheorie. Luhmann spricht in meiner Wahrnehmung einige interessante Aspekte an:
Evolution und deren Bezug zu einer Auffassung von Fortschritt. Evolution kann auch stagnieren oder rückläufig sein (wobei ich dieses Vokabular für etwas "gefährlich" halte, denn es inkorporiert ja schon ein Fortschrittgedanke). Luhmann stellt also den Fortschrittsgedanken in Frage, fragt, für wen, welchen Beobachter, etwa "mehr Vogelarten" ein Fortschritt sei, sagt aber, dass trotzdem Trendaussagen im Rahmen einer Evolutionstheorie möglich seien.

.. ich habe mir mal aus naheliegenden Gründen erlaubt Niklas Luhmann dazu im Thread "Das Anthropozän" wortwörtlich zu zitieren .




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