Morgen ist Freitag.
Heiligabend naht. Es ist an der Zeit, diese Vorlesung abzuschließen. Möchtest Du die 13. und letzte Vorlesungseinheit referieren, Sybok?
Und der darauffolgende Post:Der folgende Text stammt aus einer Mitschrift einer Vorlesungsreihe von Niklas Luhmann.
Es geht um die These von D. MacKay, dass Freiheit auch denkbar ist auf Basis von Determiniertheit
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[...] Ein weiterer Punkt, der mich immer fasziniert hat, betrifft die Frage, was passiert, wenn es zwei komplexe Systeme miteinander zu tun bekommen, wenn sie gekoppelt werden oder in Interaktion treten und nicht die Fähigkeit haben, die Komplexität des anderen im eigenen System zu duplizieren, das heißt nicht über die „requisite variety" verfügen, die erforderlich wäre, um ein anderes System in sich selbst abzubilden. Nach einer These von Donald McKay, einem schottischen Kybernetiker oder Informations-Theoretiker, entsteht unter diesen Bedingungen Freiheit.
Selbst wenn komplexe Systeme Maschinen und vollständig determiniert wären, musste jedes System unterstellen, dass das andere beeinflusst werden kann, also auf Signale reagiert, und dies nicht in einer Weise, deren Determiniertheit man im System selbst ausrechnen konnte, sondern eben in einer Weise, die unvorhersehbar ist. Daher muss man die Information gleichsam süssen, man muss Anreize bieten, von denen man glaubt oder aus Erfahrung weiß, dass die anderen Systeme sich darauf einlassen, dass sie freiwillig, aufgrund eigener Präferenzen kooperieren beziehungsweise, wenn man das ausschließen will, nicht kooperieren, dass sie also entscheiden können und nicht schon durchdeterminierte Systeme sind, die das tun, was sie sowieso tun. Die interessante Hypothese ist, dass Freiheit durch die Duplikation der Systeme aus Determiniertheit entsteht.
Es muss sich um mehr als ein System handeln, und sie müssen komplexitätsunterlegen sein, dürfen also nicht über requisite variety verfugen. Sie müssen interagieren und müssen Freiheit fingieren, um sich selbst in ein Verhältnis zu einem anderen System bringen zu können. Wenn dies auf beiden Seiten geschieht, wird Freiheit qua Fiktion Realität.
Ich weiss nicht, was Sie davon halten. Es ist jedenfalls eine Sache, über die man nachdenken kann und die ein bisschen die alte Diskussion auflost, ob die Welt entweder determiniert oder indeterminiert ist. Wir haben es dann wieder mit einer Paradoxierung der Unterscheidung zu tun: Die Welt ist indeterminiert, weil sie determiniert ist, dies allerdings nicht zentral, sondern lokal.
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Was haltet ihr davon? Wer weiß mehr darüber? Ich hab' nichts genaueres über diese Theorie finden können ...
Diese Theorie "passt" übrigens auch ganz gut zu dem Aufsatz von Singer (ab Seite 15 Selbstmodell als soziales Konstrukt der in "Philosophie oder Naturwissenschaft?" unter Philosophische Literatur diskutiert wird.
In einem gewissen Sinne fügt dieser Ansatz die "fehlende" Zweite-Person-Perspektive hinzu
Und weiter:So richtig weiß ich nicht viel darüber, aber bei Luhmann verbietet mir die Ehre, zu schweigen...
Luhmann wollte die Soziologie einer Generalüberholung unterziehen und dazu gehörte es auch, Begriffe in Frage zu stellen bis in die Grundfesten.
Der Begriff der Freiheit ist natürlich ein historisch klischeehaft besetzter, einmal in dem Sinne eines Menschen mit freiem Willen und zweitens im Sinne einer freien Gesellschaft, in der sich jeder frei bewegen und entfalten kann.
Die beiden relevanten Systeme, um die es hier geht, Bewusstseinssystem (Individuum) und Kommunikationssystem (Gesellschaft) sieht Luhmann als strukturell gekoppelt an. D.h. beide Systeme sind in ihren Operationen autonom und selbstreferentiell, sie sind aber gekoppelt über Schemata, Skripts etc. die sich in beiden Systemen ausprägen. Zum Beispiel mag ein bestimmter persönlicher Wert (z.B.: Freiheit?!) als Bewusstseinsvorstellung existieren und auch in Kommunikation als solcher diskutiert und begründet werden. Diese beiden Freiheiten, die Idee von ihr und die Kommunikation sind nicht identisch, können es nicht sein (da auf verschiedenen Operationen beruhend) sie hängen aber stark miteinander zusammen.
Die Idee, die Luhmann fasziniert haben mag, ist, dass keiner von beiden, weder Individuum noch Gesellschaft Freiheitsgrade wirklich ausbilden könnten, ohne den anderen. Ich sage Freiheitsgrade, weil natürlich nicht mehr Freiheit im absoluten Sinne gemeint sein kann. Freiheitsgrade, das kommt bei Luhmann oft vor. Und zwar gerade immer wieder als das Paradox, das Freiheit immer erst durch Beschränkung gewonnen wird. IN dem Sinne: Wenn ich alles machen kann, kann ich nichts machen, da nichts einen Sinn ergibt. Ein Kunstwerk, ohne Beschränkung (und sei es Selbstbeschränkung) kann kein Kunstwerk sein. Auch im Sinne der Kommunikation: Erst wenn ich mich dem Diktat unterwerfe, anschlussfähig zu sein, indem ich also beim Thema bleibe und erwartbare Kommunikation erzeuge, kann ich auch Tiefe erzeugen, sowie neue Anschlussmöglichkeiten, die dann vom Thema wegführen.
Auch in der Musik: Gerade eine extrem formstrenge und Regeln unterworfene Musik wie die von Bach, lässt erst Bewunderung für die Fantasie und die Absolutheit seiner Musik aufkommen. Neben dem Paradox mag Luhmann auch die Ironie der Idee gefallen haben.
Ich nehme nicht an, dass Luhmann diese Ideen als einziger formuliert hat, Singer muss also nicht bei ihm geklaut haben, er benutzt auch eine etwas andere Terminologie. Auch benutzt er das Beipiel vom Individuum, das sich im anderen spiegelt, wobei es korrekter heißen müsste, es spiegelt sich in der Gesellschaft. Beziehungsweise würde es bei Luhmann wahrscheinlich heißen: Ein Beobachter beobachtet sich selbst indem er andere beobachtet, wie sie ihn beobachten...
Oder so ähnlich
P.S. INteressant wäre zu erfahren, aus welcher Zeit die Vorlesung stammte, weil ich fast vermuten würde, dass es eine frühe war, als er bestimmte Begriffe noch nicht so geanu austariert hatte.
P.P.S Ich würde annehmen, dass Luhmann in "Gesellschaftsstruktur und Semantik", das ich nur in Ausschnitten kenne, auch auf historische und theoretische Ideen von Freiheit eingeht.
Dann im Juli 2006:Wintersemester 91/92 (Bielefeld)
Quelle: Niklas Luhmann Einführung in die Systemtheorie,
gibt’s als Buch und als Audio (beides sehr empfehlenswert)
Carl-Auer-Systeme Verlag (http://www.carl-auer.de)
Ich nehme nicht an, dass Luhmann diese Ideen als einziger formuliert hat, Singer muss also nicht bei ihm geklaut haben, er benutzt auch eine etwas andere Terminologie.
Um Himmelswillen! Das wollte ich damit nicht ausdrücken. Nein, ich glaube nicht, dass Singer bei Luhmann "geklaut" hat. Selbst wenn ... Ganz sicher hat Luhmann diese Idee nicht als einziger formuliert, denn sie stammt ja (laut Luhmann) von MacKay
Luhmann hat einen Faible für Paradoxien. Deswegen wird ihm die Idee, dass die Welt indeterminiert ist, "weil" sie determiniert ist, gefallen haben - das ist mir klar. Mein Problem ist: ich kriege nicht mehr über diese Theorie heraus! Ich würde gerne mal einen (etwas ausführlichern) Aufsatz darüber lesen
Das wäre es im Grunde schon ...Freiheit
Hi. [...],
dieses Zitat aus den Vorlesungen "Einführung in die Systemtheorie '92" ist für mich eines der schönsten, die ich je gelesen habe. Strenggenommen ist das für mich Poesie. Seit langem bin ich fasziniert von dem gewaltigen Denkgebäude Luhmanns. Und dieser Verweis auf Donals McKay gehört eindeutig zu den Prunkstücken des Luhmannschen Theorie Puzzels.
Luhmann übersetzt die Situation ja mit dem Begriff der doppelten Kontingenz. Macht aber in seinen Schriften nicht - so schön wie in diesem Zitat - deutlich das seine Theorie eigentlich auf dem Begriff der Freiheit aufbaut. Ohne Freieit, keine sinnvolle, angepasste Koordination, sondern leeres Aufeinanderlaufen und die notwendikeit eines Gottes (oder ähnliches) der alles koordiniert. Schön finde ich die Konsequenzen. Verantwortung gewinnt ein ganz anderes Gewicht, bei der Beobachtung von Welt (siehe Heinz von Foerster, usw.). ...Und es wird so vieles Möglich.. also denkbar, wenn man doppelte Kontingenz unterstellt. Es ist die Ansage, das Menschen ihre Welt selbst gestalten, aber nicht alleine. Sondern zusammen. So oder so.
sybok hat geschrieben : ↑Fr 1. Dez 2023, 12:34
In der 8. Vorlseung geht es um Evolution, dabei geht es zunächst auch gar nicht explizit um die Systemtheorie. Luhmann spricht in meiner Wahrnehmung einige interessante Aspekte an:
Evolution und deren Bezug zu einer Auffassung von Fortschritt. Evolution kann auch stagnieren oder rückläufig sein (wobei ich dieses Vokabular für etwas "gefährlich" halte, denn es inkorporiert ja schon ein Fortschrittgedanke). Luhmann stellt also den Fortschrittsgedanken in Frage, fragt, für wen, welchen Beobachter, etwa "mehr Vogelarten" ein Fortschritt sei, sagt aber, dass trotzdem Trendaussagen im Rahmen einer Evolutionstheorie möglich seien.
Um zu dem , was heute von einer " temporalen Nostrozentrik " angetrieben wird , einmal Luhmann höchstpersönlich zu Wort kommen zu lassen ...Nauplios hat geschrieben : ↑So 24. Dez 2023, 09:52"Temporale Nostrozentrik" nennt Hans Blumenberg die Form eines Denkens, das die Vergangenheit und die Zukunft auf das Jetzt als zentralen Konvergenzpunkt zulaufen läßt.
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Aus dieser "geschichtlichen Überheblichkeit" heraus lassen sich trefflich Projektionen anstellen über Zustände vor 2000 Jahren und solche in 2000 Jahren. Man weiß dann, daß es so kommen mußte wie es kam und wie es kommen wird, wenn es so weitergeht wie jetzt. Temporale Nostrozentrik treibt heute die Diskussionen über Künstliche Intelligenz, Klimawandel u.ä. an.