Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
1+1=3
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Fr 17. Nov 2023, 20:21

Nauplios hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 18:16
"Ein System ist dann komplex, wenn man es nicht berechnen kann, auch wenn man vollständige Informationen über alle seine Elemente hat. (...) Komplexität heißt, daß gleichzeitig Unterschiedliches passiert, was nicht kausal aufeinander bezogen ist, sondern durch Wechselwirkungsprozesse. (...) Komplexität heißt tatsächlich, daß gleichzeitig Dinge passieren, die nicht miteinander vermittelbar sind." (Armin Nassehi; Die sieben Paradoxien der modernen Gesellschaft)

Nassehi veranschaulicht diese Wechselwirkungen am Beispiel des Szenarios. Szenarien setzen in der Prognostik nicht auf Kausalität (Wenn wir jetzt nicht dies tun, wird in 10 Jahren jenes passieren. Wenn wir nicht eine Impfquote von 80 Prozent erreichen, haben wir in drei Jahren jenes. Wenn wir das 2-Grad-Ziel verfehlen, wird das passieren usw.). - Szenarien versuchen, der Komplexität der modernen Gesellschaft gerecht zu werden, indem sie mehrere Kontexte einbauen, Polykontexturalität benutzen. - Ob, wann und wie es zu einer Klimakatastrophe kommt, hängt von mehreren Wechselwirkungsprozessen ab: etwa davon, wie das Verbraucherverhalten ist, wann es sich ändert und davon, welche Umwelttechniken zur Verfügung stehen, wieviel seltene Erden es gibt, wieviel Lithium, wie die Preisentwicklung am Rohstoffmarkt verläuft, ob Kriege die Lieferketten unterbrechen, welche politischen Mehrheiten es gibt, wie die Einkommensentwicklung verläuft, ob die Deutsche Bahn ihr marodes Schienennetz saniert, ob das Rechtssystem ein Gesetz als verfassungskonform ansieht (s. vorgestern), wieviel Kohlekraftwerke China in den nächsten Jahren baut, ob sich Fridays for Future spaltet usw.
Emergente Effekte oder "Zustände"/Verhältnisse mit unvorhergesehenen (prinzipiell unvorhersehbaren?) Folgen, Auswirkungen (Rückwirkungen!) ... Dennoch deterministisch entstanden und "weiterhin (wirk-kausal) angetrieben" (siehe dazu z.B. "deterministisches Chaos") sowie materiell "getragen". (Freilich "multikausal" und sozusagen "vielheitlich/vielgestaltig & 'plural' materiell" usw.) Interdependent-emergent-"ganzheitlich/holistisch"... (Also, dass sich auch Gesellschaft/en entsprechend "komplex" etc. [ggf. selbst!] gestaltet/gestalten ...)




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Nauplios
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Fr 17. Nov 2023, 21:24

WOW! - Das muß ich erst mal auf mich wirken lassen, 1+1=3. ;)




sybok
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Fr 17. Nov 2023, 21:28

Nauplios hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 17:36
Die Ausdifferenzierung eines Systems (beispielsweise der Subsysteme Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft u.a.) ist eine Frage der Komplexität. Die Umwelt hat eine größere Komplexität als das System. Insofern gibt es mit der Komplexität einen Quantifizierungsparameter, aber (Stand: 1992) ohne konkrete Maßeinheiten.
Aah, echt clever, dann hat man zumindest mal einen Referenzpunkt.

Luhmann nennt, wenn ich aufmerksam genug war, bezüglich Sprache folgende Unterscheidungen in der 4. Vorlesung: Mitteilung/Information, Medium/Form, Ja-Fassung/Nein-Fassung, sprachliche Kommunikation/nichtsprachliche Kommunikation. Ich würde da gerne noch ein, zwei Dinge ansprechen:

Medium und Form fand ich relativ kompliziert. Lose Kopplung und feste Kopplung scheint er quasi als "Synonym" anzusehen.
Er sagt zum Beispiel, und den Punkt fand ich den "intensivsten", dass die Form wiederum zum Medium für die Bildung von weiteren Formen werden kann. Er nennt Licht, und ich glaube auch Schallwellen, als Beispiele für ein Medium, also physische Bereiche, physische "Informationsträger". Andererseits nennt er da zum ersten Mal in der Vorlesung auch "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien", Geld, Macht, etc. Ich nehme an - ich glaube es läuft hier darauf hinaus aber er erwähnt das so meiner Erinnerung nach nie konkret - man kann in abstrakter Sichtweise auch die Sprache als Medium betrachten? Dann wäre vielleicht so was wie das Sprechen über Sprache eine Situation, in welcher die Form zum Medium werden kann? Er sagt aber auch, betont es sei wichtig für die Theorie, dass das Medium unsichtbar bleibt, das würde ich damit wiederum nicht zusammenbringen - eigentlich kann ich das allgemein nicht mit "Form wird zu Medium" zusammenbringen, ausser es gäbe dabei irgend so was wie ein "Typwechsel" des Medium.
Auch die Aussage, dass sich das Medium im Gebrauch von Formen selbst reproduziert, find ich schwierig zu verstehen. Dann basiert das Medium wiederum auf einer eigenen Operation, einer eigenen Unterscheidung?
Kurz, den Abschnitt hab ich nicht wirklich verstanden.

Bei Ja-Fassung/Nein-Fassung meint er, dass diese austauschbar seien und eine Duplikation des gesamten Sprachapparats darstellen. Da glaube ich, könnte schwerwiegende Kritik lauern. Ich müsste das Argument nachschauen, aber ich weiss, dass Intuitionisten in der mathematischen Logik dem Prinzip der doppelten Verneinung nicht uneingeschränkt zustimmen.

Ich frage mich auch, was Luhmann zum Vorschlag einer weiteren Unterscheidung Metasprache/Objektsprache sagen würde. Würde man das irgendwie unter einem Thema "Subsystem" einordnen? Oder könnte die Kreation einer Objektsprache genau so eine Situation sein, bei der die Form zum Medium für die Bildung anderer Formen wird?
Nauplios hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 17:36
Eine für Deine Fragestellung aufschlussreiche Fußnote, Sybok, findet sich auf der nächsten Seite:

"Eine recht umfangreiche Literatur befaßt sich mit der weitergehenden Frage, wie Komplexität formal modelliert und gemessen werden kann, zum Beispiel als Bedarf für Information, die ein Beobachter benötigen würde, um ein System vollständig zu beschreiben. Wir lassen diese Überlegungen hier beiseite, da ihre Ergiebigkeit für die Theorie sozialer Systeme noch nicht zureichend geklärt ist." (S. 136)
Wirklich interessante Aussage. Bist du da drin, also weisst du zufällig was da so der aktuelle Stand ist, inwiefern das in der jetzigen Systemtheorie eine Rolle spielt und solchen Dingen nachgegangen wird?




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infinitum
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Sa 18. Nov 2023, 11:28

sybok hat geschrieben :
So 5. Nov 2023, 19:26
Es geht um die Vorlesung von Niklas Luhmann, "Theorie der Gesellschaft".

Ich habe jetzt mal das erste Video geschaut und würde das zum Start mal zusammenfassen:

******************** Start Zusammenfassung ********************

Zuerst erklärt er "Theorie der Gesellschaft" an sich und was er in der Vorlesung vor hat. Er nennt zwei Komponenten:
1. Historische Perspektive: Spricht davon, dass wenn man von "moderner Gesellschaft" spricht, automatisch ein Abstandbewusstsein zu "traditioneller Gesellschaft" herstellt (vorindustrielle, tribale, etc.). Er warnt, dass die historische Komponente und der Bezugsrahmen jeweils nicht explizit erwähnt würden.
2. Abstrakte Theoriegrundlage: Er spricht vom interdisziplinären Zusammenhang der Systemtheorie und sie nicht wirklich eine soziologische Theorie ist. Die begriffliche Erfahrung stamme aus der Kybernetik, Informationstheorie, Biologie, Computertechnologie ("Programm").
Es wird betont, dass die beiden Aspekte/Perspektive in gegenseitiger Wechselwirkung stehen.

[7:50] Form der Darstellung
Er zeigt Verständnis mit dem Problem, in das ich schon in dieser ersten Vorlesung reingeloffen bin: Das Mitdenken ist schwierig weil die Inhalte sehr abstrakt sind.
Ab [10:55] dann beschreibt er das Problem, dass er durch Form der Vorlesung an eine lineare Darstellung gebunden ist, diese aber der Theorie nicht gerecht wird. Er hätte sie in der Vergangenheit auch schon anders strukturiert sei aber damit auch nicht zufrieden gewesen. Die Theorie folge nicht dem Schema Axiom-->Anwendung sondern sie ein Netzwerk abstrakter Begriffe und vergleicht mit einem Gehirn mit Frequenzen und Einflusslinien. Die Darstellung der Theorie sei relativ beliebig.

[14:35] Er beschreibt die Gliederung der Vorlesung:
  • 1. Teil: Er plant zu erklären, auf was man sich so einlässt, wenn man Gesellschaft als (soziales) System betrachtet. Er beschreibt Vorteile die das hat: Die Interdisplinarität und das man sieht, was ausgegrenzt wird. Darunter nennt er den Menschen und normative Erwartungen und sieht in letzterem Unterschiede zu Habermas. Wobei er betont, dass die Systemtheorie trotzdem kritisch sei, etwa "Warum"-Fragen stelle und Bewegungsspielräume analysiert. Es geht insgesamt also darum vertraut zu machen mit der Behauptung "die Gesellschaft ist ein System".
  • [19:25] 2. Teil Kommunikation: Er gibt eigentlich schon eine rudimentäre Definition: System = durch Operationen produziert und reproduziert. Es geht also um diese Vorgänge um die Operationsweisen des Systems. Als Analogien werden die Biologie und das Bewusstsein (prozessiert Aufmerksamkeit) genannt. Operationen im Sozialen sind dann Kommunikationen. Damit sei auch eine Entscheidung gefallen: Kommunikation, nicht Handlung, nicht Leben, nicht Aufmerksamkeitsprozesse.
  • [21:55] 3. Teil Evolution: Beschreibt er als Begrifflichkeit gegen Planen, Design, Modellbildung als Voraussetzung, stattdessen gibt es eine Zufallskomponente und nennt die Operationen der Biologie: Variation, Mutation, Selektion. Der Abschnitt ab etwa [23:00] fand ich sehr spannend. Er sagt, dass neuere Überlegungen einen Zusammenhang zwischen Evolutionstheorie und Systemtheorie verdichten würden. Er erwähnt als alternative Sprache für die Evolutionstheorie die Spieltheorie.
  • [25:45] 4. Teil Differenzierung: Das sei ein klassisches soziologisches Thema (strukturelle Differenzierung der Gesellschaft). Doch es geht darum, was man nun zusätzlich durch die Systemtheorie gewinnt? Er betont, dass der 3. Teil und dieser 4. Teil in engem Zusammenhang stehen.
  • [28:50] 5. Teil: Semantik / Ideenwelt der Geschichte und modernen Gesellschaft: Die Gesellschaft operiert nicht nur mit Kommunikation sondern würde auch bewahrenswerte Formen ausbilden, Ideen, Begriffe, "Bewährtes". Sie legt sich auch über sich selber Rechenschaft ab. In einem religiösen Kontext etwa "worum es überhaupt auf dieser Welt geht". Ab [30:16] geht es um Beschreibung der Gesellschaft, die in der Gesellschaft angefertigt wird. Dabei geht es auch um die Frage der Form der Kommunikation (schriftlich/mündlich, Buchdruck, Computer) und er fragt sich, ob wir womöglich die Grenzen der Informationsaufbewahrung von Wissen dabei sind zu sprengen. Zum Schluss betont er, die Vorlesung in sich selber einzuordnen sei auch Gesellschaft.
[34:50] Ich glaube hier beginnt die Vorlesung, also den 1. Teil oben. Den Übergang habe ich irgendwie nicht wirklich klar erkannt.
Die Vorlesung sei nicht klassische Soziologie in höherer Tonlage, abstrakter, sondern es geht um Gesellschaft als ein Ganzes in exakter Beschreibung. Die Theorie des umfassenden Systems sei aber nicht eine vollständige Theorie der Soziologie. [44:00] In der Systemtheorie wird das System und die Umwelt deutlicher beleuchtet, man hat Ausschliessungseffekte und er fragt sich, wie man diese kontrolliert. Andernfalls würde man Gesellschaft als "endogenes Problem" betrachten, ein Objekt mit Eigenschaften ohne das dadurch Ausgeschlossene. Beispiele dafür seien Marx und die Klassentheorie und Weber mit der Rationalität. Da geht es um das Innere der Gesellschaft, man brauche für diese Theorien auch den Begriff "Gesellschaft" eigentlich nicht wirklich.

[48:00] Es geht um die Frage "Was wird in er Soziologie als Theorie der Gesellschaft angeboten?". Die schnelle Antwort: "Gar nichts!". Die Soziologie habe keine Führung durch die Tradition, keinen Traditionsplatz für Gesellschaftstheorien. Diese seien Ideologiebelastet und leidet an unkontrollierten Unvoreingenommenheiten (hab ich so verstanden: Mit Marx etwa ist man bereits im Klassenkampf). [55:47] Die Empirie, als übliches Werkzeug, sei auch kein ausreichendes Instrument für eine solche Theorie der Gesellschaft, das liege auch an der Komplexität.

Ab [1:00:17] spricht er über die Erwartungen an die Soziologie, Auskunftswünsche und Prognosen, die aber nicht von dieser nicht erfüllt werden. Er sagt, dass er nicht auf Prognosen hinaus will, keine diesbezüglichen Ansprüche habe, die Systemtheorie aber Beschreibungsformen und Interdependenzen bereitstellt, die auf politische Erfahrungen und Entwicklungen reagieren können. Er sagt, Prognosen seien nicht prinzipiell ausgeschlossen.

[1:14:10] Hier endet die Vorlesung, "weil ich noch ein wenig Zeit habe, eine etwas weitergehende Analyse": Es geht darum, was es so schwierig macht, eine soziologische Gesellschaftstheorie vorzustellen oder zu entwickeln und spricht dabei von "obstacle epistemologique". Es würde normalerweise eine Gesellschaft als eine Ansammlung von Menschen verstanden, Menschen quasi als Atome.
Er gibt einen kurzen Ausblick auf die nächste Vorlesung mit zwei weiteren "obstacles epistemologiques": 1. Das Gesellschaft regionale Grenzen aufweise und 2. erkenntnistheoretische Probleme (das im Objekt sein, das man beschreibt).

******************** Ende Zusammenfassung ********************

Ist natürlich aus meiner Perspektive (soll auch mir selber als Referenz dienen), Ergänzungen, Richtigstellungen oder Präzisierungen sind natürlich willkommen, schon nur um abzugleichen ob ich das halbwegs richtig verstanden habe.
Ich würde im nächsten Post mal schreiben, was mir da so durch den Kopf ging.

********************
#lesemontag Die Wissenschaft der Gesellschaft hat geschrieben : Niklas Luhmann: "Die Wissenschaft der Gesellschaft" wird abschnittsweise vorgelesen und von uns ausführlich diskutiert. Wir versuchen, uns gemeinsam mit euch das Verständnis von Niklas Luhmanns Systemtheorie zu erarbeiten. Quelle: Niklas Luhmann: "Die Wissenschaft der Gesellschaft" wird abschnittsweise vorgelesen und von uns ausführlich diskutiert. Wir versuchen, uns gemeinsam mit euch das Verständnis von Niklas Luhmanns Systemtheorie zu erarbeiten.

Quelle: https://www.youtube.com/playlist?list=P ... VpAQeP3SSr
Vielen Dank auch von mir für die tolle Zusammenfassung!
Was mich interessieren würde: wie betrachtet(e) man die Gesellschaft, bevor Luhmann sein Ansatz der sozialen Systeme vorgestellt hat? Was war seine Motivation, die Sicht auf die Gesellschaft aus einer anderen Perspektive zu betrachten und hatte Luhmanns Ansatz eigentlich auch Auswirkungen auf die tatsächliche Organisation der Gesellschaft oder ist sein Denken bis heute ein theoretisches Konstrukt geblieben?



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Nauplios
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Sa 18. Nov 2023, 17:20

sybok hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 21:28

Luhmann nennt, wenn ich aufmerksam genug war, bezüglich Sprache folgende Unterscheidungen in der 4. Vorlesung: Mitteilung/Information, Medium/Form, Ja-Fassung/Nein-Fassung, sprachliche Kommunikation/nichtsprachliche Kommunikation. Ich würde da gerne noch ein, zwei Dinge ansprechen:

Medium und Form fand ich relativ kompliziert. Lose Kopplung und feste Kopplung scheint er quasi als "Synonym" anzusehen.
Er sagt zum Beispiel, und den Punkt fand ich den "intensivsten", dass die Form wiederum zum Medium für die Bildung von weiteren Formen werden kann.
Ja, die Sprache ist das grundlegende Kommunikationsmedium. Sie ermöglicht Verstehen als Unterscheidung von Information und Mitteilung. Die Sprache ist als Medium nicht sichtbar, (Schriftstücke benötigen schon vorher Sprache; gäbe es keine Sprache, bestünde die Schrift nur noch als Arrangement, als lose Kopplung von Zeichen.); wahrnehmbar sind aber zum Beispiel Sätze. Das Medium der Sprache (lose Kopplung der Elemente) hat zur Form Sätze (feste Kopplung der Sätze). Erst wenn Medien sich zu Formen verdichten, können Formen beobachtet werden.

Diese Medium/Form-Unterscheidung bezeichnet Peter Fuchs als eine Unterscheidung desselben in demselben. - "Weder gibt es ein Medium ohne Form, noch eine Form ohne Medium." (Niklas Luhmann; Die Gesellschaft der Gesellschaft; S. 199) Die Sprache kann allerdings auch Form sein, etwa dann, wenn Laute das Medium sind. Ebenso könnten Sätze das Medium sein und Texte die korrespondierende Form. Fuchs spricht hinsichtlich der Medium/Form-Unterscheidung von einem "komplett deontologisierenden Schema". - In Die Kunst der Gesellschaft schreibt Luhmann, daß die Medium/Form-Unterscheidung dazu dient, daß ontologische Schema Ding/Eigenschaft zu ersetzen. (S. 166)




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Sa 18. Nov 2023, 18:05

sybok hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 21:28


Ich nehme an - ich glaube es läuft hier darauf hinaus aber er erwähnt das so meiner Erinnerung nach nie konkret - man kann in abstrakter Sichtweise auch die Sprache als Medium betrachten? Dann wäre vielleicht so was wie das Sprechen über Sprache eine Situation, in welcher die Form zum Medium werden kann? Er sagt aber auch, betont es sei wichtig für die Theorie, dass das Medium unsichtbar bleibt, das würde ich damit wiederum nicht zusammenbringen - eigentlich kann ich das allgemein nicht mit "Form wird zu Medium" zusammenbringen, ausser es gäbe dabei irgend so was wie ein "Typwechsel" des Medium.
Die Sprache "ist" natürlich ein Medium. Aber das Sprechen über Sprache setzt ja seinerseits das Medium Sprache voraus. Mit dem Sprechen über Sprache wäre zwar eine Metaebene eingezogen, doch oberhalb dieses Meta würde man nur das beobachten können, was man auch unterhalb des Meta beobachten kann: Sätze, also doch wieder Formen.

Die Form kann zum Medium werden, wenn man mit einer anderen Unterscheidung beobachtet, wenn es diesen "Typwechsel" gibt. So kann die Sprache dann auch Form "sein", wenn das Medium Geräusche und Laute sind. Nur feste Kopplung kann dann als Form beobachtet werden (als Sprache) während es sich bei Geräuschen um eine lose Kopplung (aller möglichen Geräusche) handelt, also um das Medium. Man hat dann halt mit einer anderen Unterscheidung beobachtet.

Die Kunst arbeitet mit solchen "Typwechsel" zuweilen, um Irritationseffekte zu erzeugen. Dann hat man in der Poesie beispielsweise Sätze (Formen) des Mediums Sprache und zwischendurch wechselt man die Medium/Form-Unterscheidung und stellt auf Geräusche als Medium und Sprache als Form um. - In der modernen Musik etwa arbeitet man mit solchen Crossings, Suite für Orchester und Kreissäge usw. - Oder man nehme das berühmte Pissoir von Duchamp, das durch Verfremdung ("Fountain", Inschrift) zur Kunst wird.

Die Frage "Ist das Kunst oder kann das weg?" zielt also eigentlich auf die deontologisierende Medium/Form-Unterscheidung, weil die Ding/Eigenschaft-Unterscheidung da nicht weiterhilft. Das Ding bleibt mit seinen Eigenschaften als Gegenstand des Sanitärhandels identisch.




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Nauplios
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Sa 18. Nov 2023, 18:33

sybok hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 21:28

Auch die Aussage, dass sich das Medium im Gebrauch von Formen selbst reproduziert, find ich schwierig zu verstehen.
Würde niemand mehr Sätze sprechen, gäbe es alsbald keine Sprache mehr. Im Gebrauch der Formen (durch Vollzug des Sprechens) reproduziert sich das Medium (hier also die Sprache). Die Formen können sich natürlich ändern und damit ändert sich das Medium, das ja die Formen nicht limitiert. Wenn alle gendern, hat sich die Sprache geändert oder wenn jeder jeden duzt oder wenn bestimmte Wörter nicht mehr in Gebrauch sind usw.




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Nauplios
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Sa 18. Nov 2023, 19:18

Von der Medium/Form-Differenz aus fällt übrigens noch ein Licht auf den Sinnbegriff. Sinn meint in der Systemtheorie zunächst einfach nur "ein ständiges Neuformieren der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeit". (Niklas Luhmann; Soziale Systeme; S. 100)

Sinn ist also nichts, was Subjekte produzieren oder was den Dingen als Eigenschaft anhaftet. Bewußtsein und Kommunikation zeichnen sich durch einen sinnhaften Gegenstandsbezug aus. Sinn ist eine Form, weil er auf etwas Bestimmtes bezogen ist; zugleich ist Sinn aber auch ein Medium und zwar ein "Universalmedium", weil jeder Bewußtseinsakt und jede Kommunikation etwas ist, das Sinn verarbeitet. Über die Nichtnegierbarkeit von Sinn hatten wir ja bereits gesprochen. Sinn ist also nichts, was nach Goldgräbermanier irgendwo gefunden und entdeckt wird, aber auch nichts, das ein Akteur in irgendwas hineinlegt. Aufgrund seiner Unnegierbarkeit ist Sinn sowohl Medium als auch Form.




Timberlake
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Sa 18. Nov 2023, 19:27

sybok hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 21:28
Andererseits nennt er da zum ersten Mal in der Vorlesung auch "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien", Geld, Macht, etc. Ich nehme an - ich glaube es läuft hier darauf hinaus aber er erwähnt das so meiner Erinnerung nach nie konkret -
.. und ich denke mal und das mit gutem Grund !
sybok hat geschrieben :
So 5. Nov 2023, 19:26


[48:00] Es geht um die Frage "Was wird in er Soziologie als Theorie der Gesellschaft angeboten?". Die schnelle Antwort: "Gar nichts!". Die Soziologie habe keine Führung durch die Tradition, keinen Traditionsplatz für Gesellschaftstheorien. Diese seien Ideologiebelastet und leidet an unkontrollierten Unvoreingenommenheiten (hab ich so verstanden: Mit Marx etwa ist man bereits im Klassenkampf). [55:47] Die Empirie, als übliches Werkzeug, sei auch kein ausreichendes Instrument für eine solche Theorie der Gesellschaft, das liege auch an der Komplexität.

. würde man doch für den Fall , dass man im Hinblick der genannten "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien", Geld, Macht, etc konkret wird m E. schon sehr bald bei jenen Gesellschaftstheorien landen , die Ideologiebelastet seien und an unkontrollierten Unvoreingenommenheiten leiden. Wenn die die Empirie, vielleicht kein ausreichendes Instrument für eine solche Theorie der Gesellschaft ist , so sollte sich eine solche Theorie jedoch ganz sicher an der Empire beweisen. So wie sich übrigens auch eine physikalische Theorie an der Empire von Experimenten letztendlich beweisen lassen muss.

Komplexität hin oder her!

Wenn gleich physikalischen Theorien "naturgemäß" von Idelogien und unkontrollierten Unvoreingenommenheiten weit weniger vorbelastet sind. So kann man beispielsweise etwa mit Newton bereits bei der Gravitation sein, ohne das sich daraufhin sogleich irgendwelche Ideologen meinen zu Wort melden zu müssen. ;)
infinitum hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 11:28
Was war seine Motivation, die Sicht auf die Gesellschaft aus einer anderen Perspektive zu betrachten und hatte Luhmanns Ansatz eigentlich auch Auswirkungen auf die tatsächliche Organisation der Gesellschaft oder ist sein Denken bis heute ein theoretisches Konstrukt geblieben?
Gute Frage , wenn Luhmann tatsächlich meint , dass die Empirie kein ausreichendes Instrument für eine solche Theorie der Gesellschaft sei., so dürfte tatsächlich bezweifelt werden, ob diese Theorie auch Auswirkungen auf die tatsächliche Organisation der Gesellschaft hat. Zumindest wenn die tatsächliche Gesellschaft gemäß der Empirie , im Speziellen , mit den Sinnen erfahren wird bzw. als eine , wie auch immer , geartete " Form" der Erfahrung vorliegt. Erinnert sei dazu an die Empirie, als ein Pol der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 18. Nov 2023, 20:13, insgesamt 10-mal geändert.




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Sa 18. Nov 2023, 19:42

Nauplios hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 19:18
Von der Medium/Form-Differenz aus fällt übrigens noch ein Licht auf den Sinnbegriff. Sinn meint in der Systemtheorie zunächst einfach nur "ein ständiges Neuformieren der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeit". (Niklas Luhmann; Soziale Systeme; S. 100)

Sinn ist also nichts, was Subjekte produzieren oder was den Dingen als Eigenschaft anhaftet. Bewußtsein und Kommunikation zeichnen sich durch einen sinnhaften Gegenstandsbezug aus. Sinn ist eine Form, weil er auf etwas Bestimmtes bezogen ist; zugleich ist Sinn aber auch ein Medium und zwar ein "Universalmedium", weil jeder Bewußtseinsakt und jede Kommunikation etwas ist, das Sinn verarbeitet. Über die Nichtnegierbarkeit von Sinn hatten wir ja bereits gesprochen. Sinn ist also nichts, was nach Goldgräbermanier irgendwo gefunden und entdeckt wird, aber auch nichts, das ein Akteur in irgendwas hineinlegt. Aufgrund seiner Unnegierbarkeit ist Sinn sowohl Medium als auch Form.
Passt hierzu irgendwie Marshall McLuhans „Medium is the Message“?




sybok
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So 19. Nov 2023, 10:30

infinitum hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 11:28
Was mich interessieren würde: wie betrachtet(e) man die Gesellschaft, bevor Luhmann sein Ansatz der sozialen Systeme vorgestellt hat? Was war seine Motivation, die Sicht auf die Gesellschaft aus einer anderen Perspektive zu betrachten und hatte Luhmanns Ansatz eigentlich auch Auswirkungen auf die tatsächliche Organisation der Gesellschaft oder ist sein Denken bis heute ein theoretisches Konstrukt geblieben?
Interessante Fragen, ich kann sie dir leider nicht kompetent genug beantworten,... dann halt einfach mal was mir dazu einfallen würde 8-) :

Bezüglich der ersten Frage stellt Luhmann in der ersten Vorlesung sich selber die Frage "Was wird an Theorie der Gesellschaft in der Soziologie angeboten?" und antwortet auch gleich mit "Nichts". Vielleicht müsste man auf andere Gebiete schauen, politische Philosophie, Timberlake hatte Marx angesprochen oder vielleicht Dinge wie den Kontraktualismus (*). Und mit Parsons und seiner Systemtheorie gibt es ja auch einen Vorläufer. Luhmann selbst beschreibt ja in einer der Vorlesungen die historische Entwicklung der Systemtheorie und da werden prominent die Ideen der Biologie und Kybernetik genannt. Die waren ja meines Wissens schon stark, ich denke beispielsweise an den Behaviorismus oder die Eugenik. Dieses kybernetische Denken findet man ja meinem Eindruck nach auch heute sehr stark in wirtschaftlichen und politischen Dingen: Man muss nur die Anreizstrukturen richtig setzen und das System reguliert sich selber, Input/Output-Apparate mit simplen Differenzkontrollen. Überhaupt diese ganze Ideenwelt von Ökosystemen mit stabilen Zuständen ist ja fast omnipräsent. Scheint mir fast, als hätte man da den Schritt in Richtung Luhmann nicht gemacht?

Was mir zu Einflüssen sptonan einfällt, wären beispielsweise moderne Organisationsstrukturen, Soziokratie, Holokratie und ähnliche "Designs", die berufen sich meines Wissens ganz ausdrücklich auf die Systemtheorie. Die sind meinem Eindruck nach ziemlich beliebt in der Start-Up Szene und bei IT-Firmen, etwa bei Fragen wie man Dynamik und Flexibiltät bewahrt wenn eine Firma wächst, wie man verhindert, dass die Strukturen "verkrusten" und "verbürokratisieren", wie man den Geist der Innovation bewahrt und solche Geschichten.

(*) Interessant wäre vielleicht der Aspekt, fällt mir gerade auf, dass man beim klassischen Kontraktualismus, Hobbes etc., ja auch diese Rekursionsproblematik findet: Der Souverän garantiert die Verträge, wird selber aber durch einen (Gesellschafts-)Vertrag erst dazu legitimiert. Vielleicht müsste man auf dieser Basis mal durchdenken, inwiefern da Verträge die Rolle einer Operation im Sinne Luhmanns einnehmen könnten, immerhin scheint das, abstrakt gesehen, konzeptuell jetzt nicht ultra weit von Kommunikation entfernt (?)




sybok
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So 19. Nov 2023, 11:08

Nauplios hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 18:05
Aber das Sprechen über Sprache setzt ja seinerseits das Medium Sprache voraus. Mit dem Sprechen über Sprache wäre zwar eine Metaebene eingezogen, doch oberhalb dieses Meta würde man nur das beobachten können, was man auch unterhalb des Meta beobachten kann: Sätze, also doch wieder Formen.
Ja genau, so etwas in der Richtung ging mir eben auch durch den Kopf, man beobachtet doch wieder nur Formen, weshalb ich das eben nicht verstehen konnte. Die Sache ist mir zugegeben immer noch nicht 100% klar, aber deine weiteren Ausführungen, insbesondere dass du "Typwechsel" für die Erklärungen adaptieren konntest, hat die Sache für mich trotzdem schon mal erheblich aufgehellt, vielen Dank dafür!
Nauplios hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 19:18
Sinn ist also nichts, was Subjekte produzieren oder was den Dingen als Eigenschaft anhaftet. Bewußtsein und Kommunikation zeichnen sich durch einen sinnhaften Gegenstandsbezug aus. Sinn ist eine Form, weil er auf etwas Bestimmtes bezogen ist; zugleich ist Sinn aber auch ein Medium und zwar ein "Universalmedium", weil jeder Bewußtseinsakt und jede Kommunikation etwas ist, das Sinn verarbeitet. Über die Nichtnegierbarkeit von Sinn hatten wir ja bereits gesprochen. Sinn ist also nichts, was nach Goldgräbermanier irgendwo gefunden und entdeckt wird, aber auch nichts, das ein Akteur in irgendwas hineinlegt. Aufgrund seiner Unnegierbarkeit ist Sinn sowohl Medium als auch Form.
Kann ich mir das, insbesondere bezüglich dieses Abschnittes über Sinn, so vorstellen, dass ein Medium gewissermassen - über die Beobachtung (?) - "verklumpen" oder "Strömungen ausbilden" kann (Sinn dann etwa durch den jeweiligen Gegenstandsbezug) und damit sozusagen Formen annimmt? Dieses Bild würde für mich gerade weitere Klärung bringen, etwa bezüglich der Geschichte mit der Unnegierbarkeit und der "inneren Unterscheidung", ebenso auch bezüglich der Wechselwirkung von Medium und Form und auch "lose Kopplung vs. feste Kopplung" würde mir dann sehr viel mehr einleuchten.

Und hab ich das richtig verstanden: Wenn ich mich beispielsweise frage, wie denn Sinn überhaupt erst entsteht, überhaupt in die Welt kommt, dann ist es gewissermassen auch über eine Differenz/Unterscheidung die ein Beobachter über den Mechanismus der Selbst- und Fremdreferenz einzieht? Also Sinn per Definition als eine Art "Bewertungsfunktion" die durch das Zusammenspiel der beiden Referenztypen generiert wird?




Timberlake
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So 19. Nov 2023, 15:58

sybok hat geschrieben :
So 19. Nov 2023, 10:30
infinitum hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 11:28
Was mich interessieren würde: wie betrachtet(e) man die Gesellschaft, bevor Luhmann sein Ansatz der sozialen Systeme vorgestellt hat? Was war seine Motivation, die Sicht auf die Gesellschaft aus einer anderen Perspektive zu betrachten und hatte Luhmanns Ansatz eigentlich auch Auswirkungen auf die tatsächliche Organisation der Gesellschaft oder ist sein Denken bis heute ein theoretisches Konstrukt geblieben?
Interessante Fragen, ich kann sie dir leider nicht kompetent genug beantworten,...
... "Interessant"...
sybok hat geschrieben :
So 19. Nov 2023, 10:30

(*) Interessant wäre vielleicht der Aspekt, fällt mir gerade auf, dass man beim klassischen Kontraktualismus, Hobbes etc., ja auch diese Rekursionsproblematik findet: Der Souverän garantiert die Verträge, wird selber aber durch einen (Gesellschafts-)Vertrag erst dazu legitimiert. Vielleicht müsste man auf dieser Basis mal durchdenken, inwiefern da Verträge die Rolle einer Operation im Sinne Luhmanns einnehmen könnten, immerhin scheint das, abstrakt gesehen, konzeptuell jetzt nicht ultra weit von Kommunikation entfernt (?)
.. wenn man denn .. DAS! .. von jemanden zu lesen bekommt , der von sich selber meint , bei einer , nach meiner Ansicht , doch recht simplen Frage , leider nicht kompetent genug zu sein. ;)

Das erinnert mich doch sehr stark an Luhmanns "Schwellen der Entmutigung"




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Nauplios
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So 19. Nov 2023, 19:22

sybok hat geschrieben :
So 19. Nov 2023, 11:08

Kann ich mir das, insbesondere bezüglich dieses Abschnittes über Sinn, so vorstellen, dass ein Medium gewissermassen - über die Beobachtung (?) - "verklumpen" oder "Strömungen ausbilden" kann (Sinn dann etwa durch den jeweiligen Gegenstandsbezug) und damit sozusagen Formen annimmt? Dieses Bild würde für mich gerade weitere Klärung bringen, etwa bezüglich der Geschichte mit der Unnegierbarkeit und der "inneren Unterscheidung", ebenso auch bezüglich der Wechselwirkung von Medium und Form und auch "lose Kopplung vs. feste Kopplung" würde mir dann sehr viel mehr einleuchten.

Und hab ich das richtig verstanden: Wenn ich mich beispielsweise frage, wie denn Sinn überhaupt erst entsteht, überhaupt in die Welt kommt, dann ist es gewissermassen auch über eine Differenz/Unterscheidung die ein Beobachter über den Mechanismus der Selbst- und Fremdreferenz einzieht? Also Sinn per Definition als eine Art "Bewertungsfunktion" die durch das Zusammenspiel der beiden Referenztypen generiert wird?
Wenn man noch mal Luhmanns Definition des Sinnprozessierens als "ständiges Neuformieren der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeit" (Soziale Systeme S. 100) aufgreift, dann hat das ja einen Anklang an die Phänomenologie, an das, was Husserl "intentionales Bewußtsein" nannte. Luhmann erweitert diesen Grundgedanken der Phänomenologie, daß Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist, auf soziale Systeme. Auch Kommunikation ist immer Kommunikation über etwas. Sowohl Bewußtsein (Luhmann spricht oft auch von "psychischen Systemen") als auch soziale Systeme haben einen sinnhaften Gegenstandsbezug; es sind die einzigen Systeme, die Sinn verwenden.

Sinn bezieht sich zwar immer auf etwas Bestimmtes (Aktualität), führt aber immer auch andere Möglichkeiten (Potentialität) mit sich. Das gilt auch wiederum für psychische und soziale Systeme gleichermaßen. Sinn ermöglicht, daß Bewußtsein immer an Bewußtsein anschließt, Kommunikation immer an Kommunikation. Sinn ist dabei gleichsam der Platzhalter für weitere Möglichkeiten des (intentionalen) Erlebens beziehungsweise der Kommunikation. Jederzeit hat das Bewußtsein die Möglichkeit, sich auf anderes zu beziehen, hat die Kommunikation die Möglichkeit, das Thema zu wechseln. Doch gilt dabei immer: Bewußtsein und Kommunikation zeichnen sich dadurch aus, daß sie Sinn verarbeiten. Sie operieren grundsätzlich im Medium Sinn.

Das Verständnis rastet beim Sinnbegriff schnell auf die ontologisierende Vorstellung ein, es müsse den Sinn "irgendwo" geben, sei es auf seiten der Dinge, sei es auf seiten eines (sinnkonstituierenden) Subjekts, das die Dinge mit Sinn bestäubt. -




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Nauplios
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So 19. Nov 2023, 19:54

1+1=3 hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 19:42
Nauplios hat geschrieben :
Sa 18. Nov 2023, 19:18
Von der Medium/Form-Differenz aus fällt übrigens noch ein Licht auf den Sinnbegriff. Sinn meint in der Systemtheorie zunächst einfach nur "ein ständiges Neuformieren der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeit". (Niklas Luhmann; Soziale Systeme; S. 100)

Sinn ist also nichts, was Subjekte produzieren oder was den Dingen als Eigenschaft anhaftet. Bewußtsein und Kommunikation zeichnen sich durch einen sinnhaften Gegenstandsbezug aus. Sinn ist eine Form, weil er auf etwas Bestimmtes bezogen ist; zugleich ist Sinn aber auch ein Medium und zwar ein "Universalmedium", weil jeder Bewußtseinsakt und jede Kommunikation etwas ist, das Sinn verarbeitet. Über die Nichtnegierbarkeit von Sinn hatten wir ja bereits gesprochen. Sinn ist also nichts, was nach Goldgräbermanier irgendwo gefunden und entdeckt wird, aber auch nichts, das ein Akteur in irgendwas hineinlegt. Aufgrund seiner Unnegierbarkeit ist Sinn sowohl Medium als auch Form.
Passt hierzu irgendwie Marshall McLuhans „Medium is the Message“?
Hm, wenn ich es richtig sehe, dann geht es in der Medientheorie von McLuhan um die Vergrößerung der Reichweiten der menschlichen Sinne. Medientheoretiker sollten nach McLuhan nicht nur auf die Inhalte eines Mediums schauen, sondern auf seine Auswirkungen auf die Gesellschaft, etwa die Macht der Medien oder wie sie die Maßstäbe und das Tempo der menschlichen Zivilisation ändern u.ä.

Auch Luhmann hat sich in Die Realität der Massenmedien mit den Medien beschäftigt, wobei seine Medientheorie sehr eng mit seiner Theorie der Gesellschaft und seiner Theorie der Kommunikation verflochten ist. (Der Name McLuhan taucht in dieser Schrift an keiner Stelle auf.)




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Nauplios
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Mo 20. Nov 2023, 12:55

Zu der Medium/Form-Unterscheidung noch eine Anmerkung: Ist die System/Umwelt-Differenz nicht letztlich auch eine Unterscheidung vom Typ Form und Medium? - Das System als feste Kopplung von Elementen, deren lose Kopplung die Umwelt ist?

Luhmann hat dazu in einem Interview von 1990 eine interessante Antwort auf die Frage gegeben:

"Seit einiger Zeit arbeiten Sie mit einer neuen Unterscheidung. Statt zwischen 'System' und 'Umwelt' unterscheiden Sie zwischen 'Form' und 'Medium'. Was ist das Spezifische dieses Formbegriffs?"

Luhmann: "Also zunächst würde ich sagen, daß er nicht an die Stelle der System-Umwelt-Theorie tritt, sondern eine Alternativformulierung ist, wobei beide Formulierungen 'System - Umwelt' und 'Form - Medium' sich wechselseitig begründen können. Das ist das erste. Der Formbegriff selbst ist eigentlich aus dem Formenkalkül von George Spencer Brown in Laws of Form bezogen, wonach alles Beobachten auf einer Unterscheidung beruht und die Form die Einheit der Unterscheidung ist. Form ist also nicht eine schöne Gestalt, ein besonderes Ding, sondern die Differenz des Dings zu seiner Umgebung."

(Hans Dieter Huber; Interview mit Niklas Luhmann am 13.12.1990 in Bielefeld)

Das heißt also, daß die eine Unterscheidung eine Alternative zur anderen ist, wenn auch kein Ersatz.




sybok
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Mo 20. Nov 2023, 22:34

Eine kurze Zusammenfassung der 5. Vorlesung:

Das Thema Kommunikation, das in der 4. Vorlesung begonnen wurde, unterteilt Luhmann dort in 3 Teile: 1. Sprache, 2. Verbreitungstechnologien und 3. symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien und in dieser Vorlesung geht es um den 2. Teil, Verbreitungstechnologien. Es geht um die Frage: "Wie weit kann man die Effekte von Kommunikation räumlich, zeitlich und sozial ausdehnen?".

Er beginnt mit "konzeptuellen Ausgangspunkten", resp. meint, es gäbe zu dieser Frage umfangreiche Forschungen:
  1. Eine Entdeckung des Zusammenhangs von Medium und Semantik/Textform. Bei mündlicher Kommunikation gehe es mehr um das Erraten von Absichten, man muss nicht unbedingt so genau sein, und es gibt eine Formelhaftigkeit (rhytmische Merksätze und solche Dinge).
  2. Es dominert die Vorstellung, dass es hier um Technologie geht, Informationstechnologie, der Buchdruck wird als eine technologische Entwicklung gesehen. Luhmann sagt, dass er den Eindruck habe, dass dies eine "moderne Rückprojektion" sei. Dieses "Technologie" wird jeweils stillschweigend vorausgesetzt.
  3. Derrida, bei dem es um eine Radikalisierung des Schriftbegriffs ginge: Eine Einkerbund von Zeichen auf eine Fläche. Schrift ist eine Form, die einen Unterschied macht, eine Struktur auf weissem Papier. Luhmann sagt, dass er starke Zusammenhänge zur Kybernetik 2. Ordnung sehe und erwähnt abermals Spencer Brown.
  4. In dieser Vorlesung habe man nun aber die Medium/Form - Unterscheidung, die man hier wieder anwenden kann. Schrift als Form, die wiederum als Medium fungiert (man kann die Worte in Schrift verschieden kombinieren). Das Mündliche und das Schriftliche seien so wesentlich unterschiedlich, dass man zwei verschiedene Anwendungen von Medium/Form unterstellen könne.
[16:55] Historische Hinweise: Erst geht es um die Geschichte, Entstehung der Schrift in Mesopotamien. Spannend [20:25], dass Schrift nicht als Kommunikationmittel erfunden worden sei, sondern als Aufzeichnung und Gedächtnisstütze. Interessant auch der religiöse Charakter, Schrift hat einen engen Zusammenhang mit Weisheits- und Divinationslehren. Er meint, dass die Evolution vorläufige Strukturen für die komplexeren Funktionen schaffe. Ab [31:40] geht es dann um die Entwicklung des Alphabetes, mit seinen Vorteilen (starke Vereinfachung) und Nachteilen (bei ideographischen Schriften müsse man etwa die Sprache selber nicht kennen, er erzählt einige witzige Anekdoten über das Japanische: [32:40] und [37:40]).

[39:12] Was ist passiert, resp. was ist der Unterschied, wenn man Schrift hat? In einer Theorie bei der Gesellschaft mit Kommunikation gleichgesetzt wird, werde natürlich die Entwicklung von Schrift stärker betont, sie ist empfindlicher für diese Entwicklung. Kommunikation sei eine Einheit/Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen. Durch Schrift werde Verstehen abgekoppelt von den anderen beiden Kategorien, beispielsweise bezüglich einem zeitlichen Aspekt, das Verstehen kann auch später passieren. Aber der Verzicht auf eine Einheit kostet auch was, muss kompensiert werden, es braucht jetzt Motive um sich mit etwas geschriebenem zu befassen, während man im mündlichen Gespräch eher Motive finden müsste, wollte man sich der Kommunikation entziehen. Die soziale Kontrolle fehle, man habe eher die Möglichkeit "Ja" oder "Nein" zu sagen, die Kommunikation findet ausserhalb der sozialen Interaktion statt. Schrift "asymmetrisiere", bei Funktechnologien sei das noch verstärkt. Zu Beginn gab es ja dabei keine Zwei-Wege-Kommunikation (gibt es ja etwa beim Fernsehen bis heute nicht wirklich). Luhmann betont, dass ihm das einen Einstieg in den nächsten Punkt in der nächsten Vorlesung, symbolisch generaliserte Kommunikationsmedien, bieten würde.

Ab [50:30] geht es um das Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Kommunikation. Schrift ist dabei kein Ersatz für Mündliches, das Mündliche dominiert über den Buchdruck hinaus. Er geht dann Fälle durch, Pädagogik in Indien, spricht nochmals rhytmisch stilisierte Aussagen in Medizin und Recht an, Sprichwörter und Merkreime.




sybok
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Mo 20. Nov 2023, 22:50

sybok hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 22:34
Derrida, bei dem es um eine Radikalisierung des Schriftbegriffs ginge: Eine Einkerbund von Zeichen auf eine Fläche. Schrift ist eine Form, die einen Unterschied macht, eine Struktur auf weissem Papier. Luhmann sagt, dass er starke Zusammenhänge zur Kybernetik 2. Ordnung sehe und erwähnt abermals Spencer Brown.
Das ist gut, wir zeichnen langsam das "Spinnennetz" nach :) , das thematisieren wir ja gerade im Thread "differenztheoretischer Theorieansatz", "Formen in den Teig drücken" hat es glaube ich @Jörn Budesheim genannt.
Auch einiges zu Medien/Form- Unterscheidung, die ja jetzt im 4. Punkt wieder kommt, hatten wir ja lohnenswerter Weise gerade eben noch ein bisschen genauer diskutiert.

Wirklich spannend fand ich die Geschichte um die Abkoppelung von Verstehen und das Fehlen der sozialen Kontrolle, war ich mir nie bewusst, resp. hatte ich mir nie überlegt, aber das sticht mir jetzt überall ins Auge, beispielsweise hier in solchen Foren.

EDIT:
Ist eigentlich nicht auch Information und Mitteilung entkoppelt worden? Nicht mit der Entwicklung der Schrift, eher in jüngerer Zeit. Ich denke beispielsweise an Computer, an die von Neumann - Architektur, bei der Daten und Programm, also gewissermassen die Interpretation von Daten, in dem Sinne entkoppelt sind, als dass die gleiche Datenbasis als eine Zahl, ein Wort oder als eine Anweisung interpretiert werden kann. Ebenso bei der Sichtweise des Poststrukturalismus, soweit ich das verstehe: "Der Autor ist tot", der Absender einer Information hat keine Deutungshoheit mehr, sondern der Empfänger entscheidet.




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Jörn Budesheim
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Di 21. Nov 2023, 13:23

Zusammenhang zwischen Medium und Semantik, ein Beispiel:

Luhmann live: "Wenn man nur mündlich kommuniziert, hat man andere Ausdrucksformen. Man hat auch weniger Notwendigkeit, sich präzise auszudrücken, also klare Sätze zu formulieren, weil man in einer Situation ist, in der ohnehin die Situation bekannt ist und vieles auch über Wahrnehmung und Erraten von Absichten gesteuert werden kann. Was dann fehlt, wenn man einen schriftlichen Text hat." (03:16)

Das Medium, das man benutzt, zum Beispiel gesprochene Sprache im Gegensatz zu geschriebener Sprache, hat einen Einfluss auf die Semantik. Ist es wirklich die semantische Dimension, wenn man in der gesprochenen Sprache auf den Kontext zurückgreifen und sich entsprechend anders ausdrücken kann? Und warum sagt Luhmann, dass man die Absichten des anderen erraten kann? Ist das ein Witz, um die Vorlesung aufzulockern?

Heute könnte man nach dem "Medium" Social Media und/oder Internetforen fragen. Es scheint mir ziemlich klar, dass sie einen großen Einfluss haben, auf den sprachlichen Ausdruck oder wie auch immer man es nennen will.




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Nauplios
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Di 21. Nov 2023, 14:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 13:23

Und warum sagt man, dass man die Absichten des anderen erraten kann? Ist das ein Witz, um die Vorlesung aufzulockern?
Vielleicht ist das Intimsystem dafür ein Beispiel, was es mit diesem Erraten auf sich hat. Es ließe sich daran auch der Grundgedanke des "operativen Konstruktivismus" erläutern.




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