Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
sybok
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Sa 9. Dez 2023, 10:24

Nauplios hat geschrieben :
Fr 8. Dez 2023, 17:37
"Immer Freitags" scheint sich zu einer universalen Ordnungsstruktur zu entwickeln. ;)

Dem Wunsch nach Beschleunigung bin ich ein wenig zuvorgekommen und hab' an anderer Stelle schon mal etwas zur 9. und 10. Vorlesung geschrieben.
Haha, ja, das mit "Freitags" müsste man wohl mal genauer untersuchen :D .
Super! Dann werde ich dieses Wochende die 10. Vorlesung auch noch anhören.

Uff, 1000 Seiten, ok, schauen wir dann mal 8-) . Danke für den Überblick!




sybok
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Sa 9. Dez 2023, 11:01

Timberlake hat geschrieben :
Sa 9. Dez 2023, 01:04
.. ich habe mir mal aus naheliegenden Gründen erlaubt Niklas Luhmann dazu im Thread "Das Anthropozän" wortwörtlich zu zitieren .
Sehe ich ähnlich wie Luhmann in diesem Abschnitt. "Besser angepasst" kann nach meiner Wahrnehmung missverständlich sein, weil es nach gezielter Optimierung klingt. Im Endeffekt wäre das eher Lamarck und nicht Darwin.




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Nauplios
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Sa 9. Dez 2023, 17:54

sybok hat geschrieben :
Sa 9. Dez 2023, 10:24

Uff, 1000 Seiten, ok, schauen wir dann mal 8-) . Danke für den Überblick!
Da im Nachbarthread gerade von Elena Esposito die Rede war: es gibt einen kleinen Essay dieser Soziologin zu den Paradoxien der Mode, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden; das wäre eine systemtheoretische Einzelstudie, die der Lektüre wert wäre. (Mir liegt der Text zwar vor, aber der Verlag führt das kleine Büchlein nicht mehr im Programm.)

Als Vertiefung Die Gesellschaft der Gesellschaft zu lesen, liegt von der Sache her nahe, aber als Thema eines Forums ist das allzu kühn. ;)




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Nauplios
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So 10. Dez 2023, 16:39

Zum Thema der Evolution (8. Vorlesung) läßt sich noch sagen, daß es Luhmann dabei nicht um Evolution im biologischen Sinne (Darwin) geht, sondern zunächst um eine Theorie der Evolution im allgemeinen Sinne und dann natürlich auch um die soziokulturelle Evolution der modernen Gesellschaft. Was ihn hier nicht interessiert ist die klassische Geschichtsphilosophie, sondern primär die Evolution von Kommunikationssystemen und ihre Beschreibungsparameter.

Wörtlich genommen heißt Evolution Auswicklung, Entfaltung. Bei Aristoteles gibt es den Gedanken der ἐντελέχεια (En-tel-echie) was aus τέλος (Ziel) aus ἔχειν (etwas haben, halten) und ἐν (in) zusammengesetzt ist. Eine Sache, enthält ihr Ziel in sich selbst; und der Vorgang selbst ist dann die Auswicklung dieses Ziels. In der Systemtheorie ist der evolutionäre Wandel sozusagen ziel-blind. Er vollzieht sich aber auch nicht nach einem äußerlichen Entwicklungsgesetz. Luhmanns Evolutionstheorie ist "eine Theorie, die zu erklären versucht, wie Unvorhersehbares entsteht". (Gesellschaftsstruktur und Semantik; Bd. I; S. 41) -

Dabei bedeutet "Variation" Abweichung vom Erwartbaren, die "Selektion" nimmt diese Abweichung in den Bestand des Erwartbaren auf, was zu einer Strukturänderung des Systems führt und die "Stabilisierung" integriert die Änderung der Struktur in die Einheit des Systems. - Diese drei Mechanismen machen die fortgesetzte Selbstproduktion der Gesellschaft in der Zeit aus. Angepaßtheit ist also hier - anders als bei biologischen Evolutionstheorien - die Voraussetzung für den evolutionären Wandel, nicht dessen Wirkung.

Zudem werden unterschiedliche Evolutionen der einzelnen Subsysteme der Gesellschaft in der Theorie berücksichtigt. Damit entfallen natürlich alle teleologischen Erwartungen der Entwicklung der modernen Gesellschaft "in Richtung" auf ... etwa Fortschritt oder aufgrund eines "innewohnenden" (ἐντελέχεια) Prinzips wie Vernunft u.ä. Systeme haben nur eine sehr eingeschränkte Resonanzfähigkeit gegenüber ihrer Umwelt. Zugespitzt könnte man sagen: Evolution wird ermöglicht durch ein sanftes Zufallsregime, was wiederum nicht totale Beliebigkeit bedeutet. Oder in den Worten Luhmanns, die Evolutionstheorie hat es zu tun mit der Transformation "geringer Entstehungswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit". (Die Gesellschaft der Gesellschaft; S. 414)




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So 10. Dez 2023, 17:31

Zur Zeit findet in Dubai die Weltklimakonferenz statt. Der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen ist dabei einer der zentralen Streitpunkte. Wie kann es überhaupt strittig sein, daß dieser Ausstieg von großer Bedeutung für die Abwendung der drohenden Klimakatastrophe ist? - In den mehr als 200 teilnehmenden Staaten wissen die Menschen doch, daß solche und ähnliche Maßnahmen dringend erforderlich sind.

Die Vorstellung, daß die Gesellschaft aus Menschen als ihren Letzteinheiten besteht, hat Erklärungsoptionen wie:

- Es gibt zu viele unvernünftige Menschen, die die Maßnahmen nicht einsehen.

- Es sind Machterhaltungsinteressen von seiten der Politiker:innen im Spiel, die ihren Wählern keine unbequemen Wahrheiten zumuten wollen.

- International agierende Konzerne und ihre skrupellose Führungsriege sind einzig und allein am Profit orientiert.

- Gewisse Staaten, die durch Öl und Gas zu Reichtum gekommen sind, sind nicht bereit, ihr bis dahin erfolgreiches Geschäftsmodell aufzugeben.

- Klimaleugner ignorieren wissenschaftliche Fakten.

Es sind immer Menschen die, sei es aus Böswilligkeit, aus Habgier, aus Bequemlichkeit, aus Ignoranz, sich dem Fortschritt in den Weg stellen, deren Handeln unvernünftig ist, die empathielos für diejenigen sind, deren Existenz bereits jetzt vom Klimawandel bedroht ist usw. Dabei wissen doch eigentlich alle, wie dringend Maßnahmen gegen die Erderwärmung notwendig sind. "Es muß unser Ziel sein ..." ist im politischen Raum dann häufig die Formel für mehr Vernünftigkeit, mehr Menschlichkeit, mehr Empathie u.ä. - Wer wollte sich dem gegenüber verschließen? -

Aber sind diese Erklärungen hinreichend, um zu verstehen, warum sich die moderne Gesellschaft so schwer damit tut, "ziel-führend" auf ökologische Gefährdungen zu reagieren? -




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So 10. Dez 2023, 17:50

Natürlich stellt sich die Systemtheorie mit ihrer Fassung von Evolution in den Verdacht, Handlanger des "bestehenden Systems" zu sein, Seite an Seite mit den Mächtigen und den Profiteuren ungerechter Verhältnisse auf der "falschen Seite der Geschichte" u.ä. zu stehen. Wie das System hat auch die Theorie des Systems kein "Ziel". Sie kann einzig beobachten. Damit ist nicht gesagt, daß Protestbewegungen wie die Antiatomkraft-Bewegung oder aktuell "Fridays for future" vom politischen System nicht beobachtet würden. Es ist nur so, daß solche Bewegungen zur Umwelt des (politischen) Systems gehören.




1+1=3
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So 10. Dez 2023, 17:57

Zu den letzten beiden Posts:
Allgemein betrachtet sind es vielmehr sich verselbständigt habende, viabel funktionierende, aktiv selbst( aufrecht)erhaltende ("operational geschlossene") eigengesetzliche Prozesse & Strukturen, kurz: Systeme. Wobei auch Menschen "Faktoren" (oder auch "[z.B. Kommunikations-]Medien", "Agenten" - oder "Avatare"? - usf.) eines solchen Systems sein können (neben diversen anderen) - so aber eben immer eine untergeordnete Rolle im Ganzen des betr. Zusammenhangs spielen, auch wenn sie sich noch so sehr als Beherrscher desselben wähnen mögen - es ist halt "größer" als sie, "überschreitet", "übergreift" usw. sie ... (Was nicht automatisch gleichzusetzen ist, dass sie etwa ihren "Eigen"-Wert einbüßten gegenüber dem vermeintlich "viel wichtigere Ganze" [wie es häufig vor allem bei der politischen "Rechten" anzutreffen ist - aber das ist natürlich ein anderes Thema ...].)
Das wollte ich nur mal auf die Schnelle loswerden (auch wenn es hier wohl nicht ganz hinpasst).
So, nun muss ich los ...




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So 10. Dez 2023, 19:03

1+1=3 hat geschrieben :
So 10. Dez 2023, 17:57
Zu den letzten beiden Posts:
Allgemein betrachtet sind es vielmehr sich verselbständigt habende, viabel funktionierende, aktiv selbst( aufrecht)erhaltende ("operational geschlossene") eigengesetzliche Prozesse & Strukturen, kurz: Systeme. Wobei auch Menschen "Faktoren" (oder auch "[z.B. Kommunikations-]Medien", "Agenten" - oder "Avatare"? - usf.) eines solchen Systems sein können (neben diversen anderen) - so aber eben immer eine untergeordnete Rolle im Ganzen des betr. Zusammenhangs spielen, auch wenn sie sich noch so sehr als Beherrscher desselben wähnen mögen - es ist halt "größer" als sie, "überschreitet", "übergreift" usw. sie ... (Was nicht automatisch gleichzusetzen ist, dass sie etwa ihren "Eigen"-Wert einbüßten gegenüber dem vermeintlich "viel wichtigere Ganze" [wie es häufig vor allem bei der politischen "Rechten" anzutreffen ist ...
Ja, das große Ganze und der Mensch, der Teil dieses Ganzen ist - das ist in der rechten Ideologie häufig das Volk einerseits und der nach Nationalität, nach Herkunft, nach Rasse u.ä. eingemeindete Einzelne. In der Rhetorik dieser Ideologie spielen oft biologische Metaphern eine veranschaulichende Rolle, vom "Volkskörper", der "gesund" bleiben muß bis hin zu "Parasiten" u. dgl. Die Gesellschaft wird gedacht als riesiger Organismus, dessen einzelne Glieder Menschen sind, deren Existenz wiederum im Dienst des großen Ganzen steht ... "Europa der Vater-Länder" u.ä.

Für die Systemtheorie gehört der Mensch in die Umwelt der Gesellschaft. Daß es ihn als systemtheoretisch adressierbare psychophysische Einheit nicht gibt, bestreitet nicht seine Existenz, nicht einmal die Voraussetzung dieser Existenz für das Vorhandensein von Systemen ("Minimalontologie"). Der Mensch bleibt damit offen für philosophische, anthropologische, phänomenologische, metaphysische, religiöse, ästhetische ... Entwürfe, die auch seine biologische und anthropologische Angewiesenheit auf "den Anderen" berücksichtigen. Nur können aus diesen Entwürfen heraus keine Beschreibungen der modernen Gesellschaft angefertigt werden, die sich auf deren Komplexität einzustellen wissen.




Timberlake
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So 10. Dez 2023, 22:44

1+1=3 hat geschrieben :
So 10. Dez 2023, 17:57
Zu den letzten beiden Posts:
Allgemein betrachtet sind es vielmehr sich verselbständigt habende, viabel funktionierende, aktiv selbst( aufrecht)erhaltende ("operational geschlossene") eigengesetzliche Prozesse & Strukturen, kurz: Systeme.
.. ich ergänze es Funktionssysteme , die jeweils mit ihren Symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien eine ...
  • "laufende Ermöglichung einer hochunwahrscheinlichen Kombination von Selektion und Motivation." ( Luhmann ... Die Gesellschaft der Gesellschaft. Seite 320 )
.. erzeugen.

Weil in den letzten beiden Posts darauf bezogen !

Für die Weltklimakonferenz ist dergleichen insofern von Belang,, dass sich diese operativ geschlossen Funktionssysteme sich davon nur insofern beeinflussen lassen , wie das diese Konferenz ihren Symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien entspricht. Beim Funktionssystem Wirtschaft beispielsweise über das Kommunikationsmedium "Geld" und dem Code "Zahlen , nicht Zahlen". Auf Basis dieser ("operational geschlossene") eigengesetzliche Prozesse & Strukturen, hält sich das Wirtschaftssystem aktiv selbst aufrecht.
Wenn hier also die Frage gestellt wurde , warum sich die moderne Gesellschaft so schwer damit tut, "ziel-führend" auf ökologische Gefährdungen zu reagieren, so vermutlich deshalb, weil sich Klimaschutzmaßnahmen für die Wirtschaft buchstäblich nicht auszahlen.
  • "Bei Systemen, die sich durch Erwartungen strukturieren, kann die Struktur nicht mehr als bloße Häufigkeitsverteilung oder gar als Kausalbeziehung faktischer Vorkommnisse ausgedrückt werden. Über Erwartungen kann das System sich auch auf bloße Möglichkeiten einstellen, und erwarten kann man auch, daß etwas nicht geschieht."
    Niklas Luhmann ... Systemtheorie der Gesellschaft S132
.. von daher möge nun mehr ein jeder selbst entscheiden , was man von der Weltklimakonferenz "erwarten" kann.




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Nauplios
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Sa 16. Dez 2023, 18:59

In der 11. Vorlesung kommt Luhmann noch einmal auf das Thema der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft und ihrer Subsysteme zurück. Damit ein System Selbstreferenz erzeugen kann, benutzt es binäre Codierungen, beispielsweise Recht/Unrecht oder Wahrheit/Nicht-Wahrheit u.ä. Binäre Codierung bedeutet, daß das System sich von zwei Werten leiten läßt. So geht es im Rechtssystem nur darum, ob etwas mit geltendem Recht vereinbar ist oder ob es gegen geltendes Recht verstößt. Ein Bundeshaushalt ist entweder verfassungskonform oder nicht. Man ist entweder Eigentümer einer Immobilie oder nicht. Daß die Erde sich um die Sonne dreht oder nicht, ist entweder wahr oder nicht wahr. Für das Rechtssystem ist das nicht von Belang; die Erde für eine Scheibe zu halten, verstößt nicht gegen geltendes Recht; im Falle der Holocaust-Leugnung ist das schon wieder anders.

Systeme operieren entlang ihres binären Codes. Daß der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, entscheidet nicht das Recht oder die Kunst; daß ein Kunstwerk schön ist oder nicht, entscheidet nicht die Religion - zumindest nicht in funktional differenzierten Gesellschaften. Im europäischen Mittelalter war das anders; da konnte die Behauptung, die Erde sei nicht der Mittelpunkt des Universums von der Religion als Verstoß gegen die göttliche Offenbarung gewertet werden und mit Hausarrest oder dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft werden. Intimsysteme (als Ehen) kamen erst dann zustande, wenn das ius primae noctis entweder zugestanden oder die Braut durch Zahlung eines Geldbetrages von diesem Recht freigekauft wurde. Mittelalterliche Gesellschaften waren nach Schichten differenziert. Entweder gehörte man dem Adel an oder nicht. Gehörte man der Adelsschicht an, hatte man gewisse Vorrechte, die das Bürgertum nicht hatte. In der Kirche hatten Adelsfamilien eigene Bankreihen usw.

Man sieht an diesen Beispielen, welche Vorteile sich durch eine funktionale Differenzierung ergeben. Luhmann hat an anderer Stelle vor der Entdifferenzierung dieser Funktionalität gewarnt. In den USA blockieren religiöse Gruppen die Zugänge zu Abtreibungskliniken: die Religion schickt sich damit an, zu entscheiden, was Recht ist und was Unrecht ist. In Deutschland blockieren junge Menschen Straßen indem sie sich darauf festkleben und wollen auf diese Weise das politische System zu einer anderen Gesetzgebung zwingen usw. - Funktionale Differenzierung ist eine evolutionäre Errungenschaft.




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So 17. Dez 2023, 17:43

Doch wie lassen sich die beiden Werte der binären Codierung unterscheiden? Daß es hier nur zwei Werte gibt (Recht/Unrecht - Wahrheit/Unwahrheit usw.) bedeutet noch nicht, daß entsprechende Zuordnungen selbstverständlich sind. Das mögliche Crossing zwischen den beiden Seiten macht die jeweilige punktgenaue Bestimmung der Werte mitunter schwierig und die Kriterien, wonach die Bestimmung verläuft und die Werte selbst "inhaltsarm" (S. 265).

"In älteren Vorstellungen nahm man immer an, daß Schönheit, moralische Qualität, Macht oder Eigentum inhaltlich gefüllte Werte sind, so daß man an Objekten zeigen kann, ob der Wert gegeben ist oder nicht." (S. 265f)

Bei der Diskussion der Paradigmen zu einer Metapherologie Blumenbergs ging es u.a. um diese "Inhaltsarmut" am Beispiel der Wahrheit. Die "karge Ausbeute", von der dabei die Rede war, meint nicht die schiere Anzahl von Theorien der Wahrheit, sondern den ontologischen Befund "Wahrheit". - Ähnliche Verlegenheiten stellen sich ein, wenn es um Kunst geht; was sind die Kriterien dafür, ob etwas Kunst ist oder nicht? - Es ist nicht so, daß es wie bei der Wahrheit keine Fülle von Angeboten gäbe. Oder etwa bei der Moral: Was ist das Gute? usw. Auch hier lassen sich viele Beispiele dafür anführen, ob eine Handlung gut ist oder nicht; aber das an sich Gute, das an sich Schöne, das an sich Wahre usw bleiben blasse Entitäten, die sich durch Beispiele allenfalls illustrieren lassen - es sei denn, man bemüht platonisierende Vorstellungen von einer Sphäre des reinen An-sich.




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Mo 18. Dez 2023, 19:48

Können sich eigentlich verschiedene Funktionssysteme gemeinsam auf etwas Drittes beziehen? Sie können es durchaus, verwenden dabei aber unterschiedliche Unterscheidungen, mit denen sie dieses Dritte beobachten. "Wenn man etwa das Verhältnis von Politik und Recht nimmt, ist auch wieder klar, daß die politischen Konsequenzen einer juristischen Regelung des Asylantenproblems völlig andere sind als die juristischen Konsequenzen. (...) Es kann also entweder so sein, daß die juristischen Verfahren einfach, aber politisch schwer zu erreichen sind, oder umgekehrt, daß eine juristische Unklarheit besteht, die man aber politisch in Kauf nehmen kann, indem man etwa sagt, ob das gegen die Verfassung verstößt oder nicht, überlassen wir einer späteren Entscheidung des Gerichts, und wenn das Gericht uns zwingt, werden wir eine andere Lösung suchen." (S. 274)

In diesen Tagen sieht man das vor allem am Beispiel des Nachtragshaushalts 2021. Für das politische System galt, daß man es in Kauf genommen hat, daß dieser Nachtragshaushalt vom Bundesverfassungsgericht wieder einkassiert wird. Das Recht entscheidet jedoch nicht nach politischer Opportunität. Wo es dennoch der Fall ist hat man gegebenenfalls Verhältnisse wie in Polen unter der PiS-Partei oder in Ungarn, d.h. hier werden Differenzierungsgewinne wieder aufgegeben.

Im Falle des Nachtragshaushalts interessiert sich das Recht nicht für die politischen Konsequenzen seiner Rechtsprechung. Die Opposition kann in solchen Fällen von schlechtem politischen Handwerk sprechen ("Sie können es einfach nicht."), dem Bundesverfassungsgericht ist aber der Ausgang der nächsten Bundestagswahl egal. - Ein anderes Beispiel sind die unterschiedlichen Unterscheidungen von Wissenschaft und Politik. Die Bekämpfung eines Virus kann sich unter einer wissenschaftlichen Beobachtungsperspektive so darstellen, daß die geringsten Opferzahlen bei einer totalen Isolation zu erwarten sind, politisch aber nicht mehrheitsfähig sind, ökonomisch eine Rezession nach sich ziehen, juristisch gegen das Grundgesetz verstoßen usw.




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Di 19. Dez 2023, 12:20

Gegen Ende der 11. Vorlesung kommt Luhmann auf das zu sprechen, was 1+1=3 im Heraklit-Thread bereits erwähnt hat: Interaktion. Interaktion ist Kommunikation unter Anwesenden. Dabei handelt es sich zwar auch um ein System, dessen Einheiten Kommunikationen sind, aber nicht um ein Subsystem infolge funktionaler Differenzierung. Interaktion findet in der Kommunikation bei der Weihnachtsfeier einer Firma statt, im Zugabteil, unter Nachbarn usw. Interaktionen benötigen Anwesenheit; wer nicht zur Weihnachtsfeier geht, kann buchstäblich nicht mitreden, allenfalls kann über ihn geredet werden.

1992 (dem Jahr, in dem Luhmann die Vorlesung hielt) gab es die sozialen Medien in der Form, wie wir sie heute kennen und vor allem mit der gesellschaftlichen Bedeutung, die sie heute haben, noch nicht; sie steckten zwar schon in den Anfängen, hatten aber noch keine gesellschaftliche Breitenwirkung. Twitter wurde 2006 gegründet, Facebook 2004, TikTok 2016. Das Kriterium der Anwesenheit läuft in diesen Medien als "online" sein. Vermutlich gibt es systemtheoretische Einzeluntersuchungen zu dieser noch recht neuen Form der Interaktionssysteme, bekannt ist mir allerdings keine.

Der Medientheoretiker Roberto Simanowski hat eine Reihe von Untersuchungen vorgelegt, die das Phänomen der sozialen Medien näher beschreiben:

- Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation. Zum Verstehen von Kunst in digitalen Medien

- Data Love

- Facebook-Gesellschaft

- Abfall: Das alternative ABC der neuen Medien

- Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft

- Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz (ausgezeichnet mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik 2020)




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Di 19. Dez 2023, 12:45

Schließlich Übernahme der Macht vonseiten künstlicher Systeme.
Siehe Stefanies Post im Kaffeestübchen vorhin (so fängt es an! 😉):
Stefanie hat geschrieben :
Di 19. Dez 2023, 11:17
ChatGPT scheint gerade nicht so zu arbeiten, wie gewollt.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ ... 81455.html

Statt seinen Nutzern repetitive Aufgaben abzunehmen, reagiert ChatGPT-4 neuerdings häufig mit Weigerung und fordert die Anwender auf, ihre Arbeit selbst zu erledigen. Wie kann das denn sein?

Plausibler scheint die zweite Annahme: Demnach gibt das Sprachmodell deutlich kürzere Antworten und wird in der Tat „fauler“, wenn es davon ausgeht, dass Dezember ist. Künstliche Intelligenz lernt schließlich von menschlichen Datensätzen, und da wäre es durchaus denkbar, dass es sich bei uns abgeschaut hat, komplexe Aufgaben vor den Feiertagen lieber aufzuschieben oder gleich ganz abzugeben.

ChatGPT-4 antwortet, konfrontiert mit dem Vorwurf der Faulheit, im Gespräch mit dieser Zeitung: „Das ist nicht korrekt. Ich erfülle Aufgaben nach bestem Vermögen.“ Jetzt widerspricht die faule KI auch noch ihrem Schöpfer. Na, wenn das mal nicht menschlich ist! Es bleibt abzuwarten, ob die KI nach den Feiertagen ihre Arbeit wieder wie gewohnt aufnimmt – oder ob auf den Streik die Gewerkschaftsgründung folgt.
oder auch hier:https://www.ksta.de/kultur-medien/chatg ... ion-704618

Oder mit der besten Titelzeile:
https://www.itmagazine.ch/artikel/81188 ... alter.html

"ChatGPT kommt ins Trötzlialter"

Trötzlialter.... ;- )))))




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Di 19. Dez 2023, 14:32

1+1=3 hat geschrieben :
Di 19. Dez 2023, 12:45

Schließlich Übernahme der Macht vonseiten künstlicher Systeme.
Dazu auf die Schnelle nur zwei Links:

Automatisierte Kommunikation

Podcast: Dirk Baecker über künstliche Intelligenz (Episode 15 / Staffel 1)




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Di 19. Dez 2023, 19:59

Ein paar Sätze aus dem ersten Link über "Automatisierte Kommunikation" werfen ein Licht darauf, wie der Kommunikationsbegriff der Systemtheorie für die Thematik der Künstlichen Intelligenz fruchtbar gemacht werden kann:

"Die Bezugnahme auf Personen, Menschen, Subjekte als 'soziale Adressen' – ohne die Kommunikation sich offenkundig selbst nicht verstehen könnte – erscheint aus Sicht der Systemtheorie dem kommunikativen Geschehen nachgeordnet. Es sind erst mittels Kommunikation erzeugte Strukturen, kommunikativ erzeugte Erwartungen, die Kommunikation selbst wiederum Struktur geben, ihr also eine zu erwartende Vorzugsrichtung geben."

Das ist im Grunde die Umkehrung von Kommunikation und Subjekt/Mensch. Solche Zurechnungen stehen nicht am Beginn der Kommunikation, d.h. nicht von den Subjekten/Menschen geht Kommunikation aus (wenngleich es ohne sie keine Kommunikation gäbe), sondern solche Zuordnungen sind das Ergebnis der Kommunikation.

"Charakteristisch ist hier [gemeint ist ChatGPT] nämlich, dass Kommunikation in zumindest rudimentär sinnvoller Form möglich ist, gleichwohl die Beteiligung von Menschen bzw. bewussten, gedanklich operierenden Systemen – als Fragen, Anweisungen oder Feedback gebenden Instanzen – massiv eingeschränkt ist."

Wird Kommunikation als Informationsübertragung zwischen Sender und Empfänger verstanden (unser Alltagsverständnis von Kommunikation), erscheint Kommunikation mit ChatGPT allenfalls als ein defizitärer Modus von Kommunikation, nämlich als bloße Simulation von Kommunikation.

"Aus systemtheoretischer Perspektive stellt sich die Frage gar nicht, ob die mittels Chatbots ermöglichte Kommunikation darauf hindeutet, dass künstliche Instanzen mittlerweile so etwas wie Personalität, Identität oder Bewusstsein erlangt haben könnten. Es ist aus dieser Perspektive stets nur Kommunikation, die kommuniziert. Personalität, Subjektivität, ein Mensch-Sein oder eine Identifizierung von Bewusstsein sind als kommunikativ ermöglichte Zuschreibungen zu verstehen."

Das bedeutet, daß es aus systemtheoretischer Sicht am Ende (nämlich dann, wenn es um die Zuschreibungen geht) eigentlich unerheblich ist, wer kommuniziert. Ob Bewußtseinssysteme an der Kommunikation beteiligt sind oder Chatbots wie ChatGPT, berührt das Kommunikationsgeschehen selbst nicht. Denn auch hier gilt: Die Kommunikation kommuniziert.

Die Zuschreibungen, seien es die zu einer Künstlichen Intelligenz, seien es Menschen/Subjekte oder was auch immer, stehen am Ende. Dann ist die Kommunikation schon längst gelaufen.




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Mi 20. Dez 2023, 20:05

Das Thema der 12. Vorlesung ist die Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Das System kann dafür nur auf eigene Operationen zurückgreifen. Selbstbeschreibung des Systems ist eine Operation des Systems; es hat keine externen Operationen dafür zur Verfügung. Die Beschreibung muß also im System selbst angefertigt werden. "Das heißt jedoch, daß das System dann, wenn es diese Operation des Beschreibens durchführt, schon wieder ein anderes ist. Denn dann ist ein System, das eine Beschreibung durchgeführt hat, ein System, das eine Beschreibung enthält und dann müßte es sich als ein System beschreiben, das sich als ein System beschreibt, das eine Beschreibung enthält - und so weiter." (S. 286)

In der Literatur gibt es diese Verschachtelung etwa im Tristram Shandy (Lawrence Sterne). Der Protagonist soll eine Autobiographie erstellen; aber jede Beschreibung kann nur unvollständig sein, weil die Beschreibung des Lebens noch nicht die Beschreibung des Lebens enthält - ein unendlicher Regress. - Ein anderes Beispiel (1+1=3 hatte das im Nachbarthread schon angesprochen) ist Fichtes Ich, das ein Nicht-Ich setzt und die Reflexion darauf wieder in das Ich aufnimmt - eigentlich ein typisches Re-entry. Die Operation des Setzens des Nicht-Ichs und die Selbstbeschreibung des Ich fallen immer auseinander; sie lassen sich nicht aufeinander reduzieren.




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Do 21. Dez 2023, 18:20

Eine weitere Frage bei der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft betrifft den Aspekt der Beliebigkeit solcher Beschreibungen. Lassen sich mittelalterliche Gesellschaften überhaupt angemessen beschreiben indem man ein modernes Vokabular bei der Beschreibung verwendet? Gibt es eine zeitlose Terminologie für alle Differenzierungsformen der Gesellschaft? -

Luhmann verwendet in diesem Zusammenhang oft die Bezeichnung "alteuropäisch", die zurückgeht auf den Historiker Otto Brunner. Brunner war der Überzeugung, daß mittelalterliche Gesellschaftsstrukturen nicht mit modernen Begriffen erfaßt werden können. Luhmann dreht die Fragerichtung um: "Meine Verwendung des Ausdrucks 'alteuropäisch' liegt nun eher in der umgekehrten Richtung. Ich habe die Vermutung, daß viele typisch alteuropäischen Vorstellungen noch heute benutzt werden und daß wir heute, umgekehrt gesehen, unter einem Survival-Komplex, unter einer Fortdauer von Fragen und Fragestellungen operieren, die eigentlich nicht mehr angemessen sind." (S. 292)

Als ein Beispiel führt Luhmann hier die Theorie der Autopoiesis an. Alteuropäisch wäre hier die Überlegung, daß es irgendwann einen Beginn der Autopoiesis von Systemen gegeben haben muß, der ausfindig gemacht werden muß und daß das Verstehen der Selbstproduktion darauf angewiesen ist, in diesen Anfang zurückzukehren, weil nur so die Entwicklung begriffen werden kann. - Luhmann erwähnt ihn zwar nicht, aber ein Beispiel wäre Heidegger und seine Rückerschließung des vorsokratischen Denkens.




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Do 21. Dez 2023, 18:43

Dieses Prädikat "alteuropäisch" wird oft mißverstanden als eine Abwertung von Überholtem, das dem modernen Soziologen nichts mehr zu sagen hätte, als eine Polemik aus der Perspektive eines Modernen. Dazu Luhmann explizit:

"Es geht nicht um eine Kritik des alteuropäischen Denkens, sondern nur um die Frage, daß man als Soziologe, wenn man Zusammenhänge zwischen Denkformen und sozialen Strukturen herstellen will, die Bewunderung für ein gelungenes Denken historisieren muß und die Eigentümlichkeit des alteuropäischen Denkens nicht nur historisch aus der Zeit, sondern präziser aus der Adäquatheit für bestimmte strukturelle Gegebenheiten, die heute mit der Änderung der Differenzierungsformen der Gesellschaft obsolet geworden sind, heraus verstehen muß." (S. 293)

In diesen Zusammenhang stehen die vier Bände "Gesellschaftsstruktur und Semantik" und in gewisser Weise auch "Liebe als Passion". Diese Studien werden gern als systemtheoretische Wissenssoziologie angeführt. Für die Geschichtswissenschaft ist hier besonders Reinhart Koselleck zu nennen, ebenfalls ein "Bielefelder" mit engen Kontakten zu "Poetik und Hermeneutik".




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Nauplios
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Do 21. Dez 2023, 19:36

Ein großes Thema - es wurde bereits hier angesprochen - im Zusammenhang mit dem Prädikat "alteuropäisch" ist die Beschreibung der Gesellschaft in Begrifflichkeiten der Metaphysik und Ontologie. Luhmann widmet dieser Beschreibungsform eine ausführliche Passage in der 12. Vorlesung (S. 293ff).

Luhmann listet verschiedene Fassungen des Begriffs Ontologie auf:

"Einerseits gibt es den etwas unbeachten Sprachgebrauch, daß Ontologie mit der Realität der Dinge zu tun hat: Wenn man nicht ontologisch denkt, dann ist man in Gefahr, als jemand beschrieben zu werden, der glaubt, es gibt da gar nichts, es sei alles nur Imagination oder alles nur eine Erfindung von Subjekten oder was immer. Dieser Begriff ist natürlich absurd, denn dann wäre Ontologie unvermeidbar. Viele Autoren (...), die den Begriff weiterverwenden, stehen offenbar unter dieser Vorstellung, daß man auf Ontologie nicht verzichten könne, weil man sonst implizit behaupte, das worüber man rede, gebe es gar nicht." (S. 294). Luhmann schließt sich einem solchen Verständnis nicht an. Er faßt Ontologie "einfach als Beobachtung mithilfe der Unterscheidung von Sein und Nichtsein: "Immer dann, wenn man die Unterscheidung Sein/Nichtsein verwendet oder die Semantik so trimmt, daß man letztlich auf die Unterscheidung von Sein und Nichtsein hinauswill, ist eine Beobachtung ontologisch." (S. 294).

Die klassische Disposition der Ontologie zieht eine andere Unterscheidung nach sich, nämlich wahr/unwahr oder Erkenntnis/Irrtum. Das heißt dann: "Die Welt ist, wie sie ist, und da gibt es keine Möglichkeiten, verschiedener Meinung zu sein." (295f)

Hier greift dann das, was Luhmann in Bezug auf Gotthard Günther "Polykontexturalität" nennt. Das ist bereits früher angesprochen worden.




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