Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Di 21. Nov 2023, 14:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 13:23
Zusammenhang zwischen Medium und Semantik, ein Beispiel:

Luhmann live: "Wenn man nur mündlich kommuniziert, hat man andere Ausdrucksformen. Man hat auch weniger Notwendigkeit, sich präzise auszudrücken, also klare Sätze zu formulieren, weil man in einer Situation ist, in der ohnehin die Situation bekannt ist und vieles auch über Wahrnehmung und Erraten von Absichten gesteuert werden kann. Was dann fehlt, wenn man einen schriftlichen Text hat." (03:16)

Das Medium, das man benutzt, zum Beispiel gesprochene Sprache im Gegensatz zu geschriebener Sprache, hat einen Einfluss auf die Semantik. Ist es wirklich die semantische Dimension, wenn man in der gesprochenen Sprache auf den Kontext zurückgreifen und sich entsprechend anders ausdrücken kann? Und warum sagt man, dass man die Absichten des anderen erraten kann? Ist das ein Witz, um die Vorlesung aufzulockern?

Heute könnte man nach dem "Medium" Social Media und/oder Internetforen fragen. Es scheint mir ziemlich klar, dass sie einen großen Einfluss haben, auf den sprachlichen Ausdruck oder wie auch immer man es nennen will.
Kommunikationsstörungen (oder einfach Missverständnisse, Missdeutungen etc.) durch "Kommunikationskanälearmut", nenne ich es einmal. (Z.B. nur geschriebener Texte anstatt "anwesend" gesprochene Sprache [inkl. nonverbaler Kommunikation usf.] ... [Derrida ...?]) Genauer: der Umstand, wenn nicht klar wird, welcher "Aspekt" einer Nachricht kommuniziert wird, es entsprechend häufig "in den falschen Hals kommt" (etwa auch in praktisch rein schriftlich betriebenen Foren wie diesem ...). Je weniger "Kanäle" (s.o.), desto tendenziell größer die Unsicherheit, "wie etwas gemeint ist".



Oder einfacher und kürzer erklärt:



Wie eine Nachricht rezipiert oder "aufgefasst" wird, ist also nicht zu unterschätzen.




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Nauplios
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Di 21. Nov 2023, 14:43

... und gerade in Intimsystemen ist das "Erraten" von Intentionen und Absichten alter egos ein nicht unwichtiges Element bei Anschlußkommunikationen - etwa dann, wenn man sich "blind versteht".




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Jörn Budesheim
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Di 21. Nov 2023, 15:06

Zu verstehen und auch noch blind, heißt doch gerade, dass man NICHT raten muss.




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Nauplios
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Di 21. Nov 2023, 15:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 15:06
Zu verstehen und auch noch blind, heißt doch gerade, dass man NICHT raten muss.
Verstehen heißt in der Systemtheorie, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden. Erraten ist hier nicht als etwas vollkommen Willkürliches gedacht, sondern als "blind" im Hinblick auf diese Unterscheidung. Das Sich-Verstehen der Liebessemantik ist auf vorgängiges Verstehen angewiesen, aber es funktioniert nicht so.




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Jörn Budesheim
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Di 21. Nov 2023, 15:26

Welche Terminologie dürfen wir bei einer Einführung, Folge 5 erwarten?

Gesagt hat Luhmann folgendes: "Wenn man nur mündlich kommuniziert, hat man andere Ausdrucksformen. Man hat auch weniger Notwendigkeit, sich präzise auszudrücken, also klare Sätze zu formulieren, weil man in einer Situation ist, in der ohnehin die Situation bekannt ist und vieles auch über Wahrnehmung und Erraten von Absichten gesteuert werden kann. Was dann fehlt, wenn man einen schriftlichen Text hat." (03:16)

Die Tatsache, dass wir die Absichten der anderen nicht erraten, sondern in der Regel verstehen, ist meines Erachtens auch für die Frage, was eine Gesellschaft ist, von größter Bedeutung.

"Man hat auch weniger Notwendigkeit, sich präzise auszudrücken, also klare Sätze zu formulieren, weil man in einer Situation ist, in der ohnehin die Situation bekannt ist und vieles auch über Wahrnehmung [...] gesteuert werden kann." Darauf hab ich übrigens vor ein oder zwei Wochen ohne Erfolg hingewiesen, dass die Situation, in der man sich befindet, Teil der Bedeutung der Sätze ist.




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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 15:26
Die Tatsache, dass wir die Absichten der anderen nicht erraten, sondern in der Regel verstehen, ist meines Erachtens auch für die Frage, was eine Gesellschaft ist, von größter Bedeutung.
Warum? Ich denke, weil das die Frage nach der geteilten Intentionalität berührt. Und wie sollte das nicht von Belang für die Frage nach der Gesellschaft sein?




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Nauplios
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Di 21. Nov 2023, 16:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 15:26

Welche Terminologie dürfen wir bei einer Einführung, Folge 5 erwarten?
Ich kann die Frage nur für mich beantworten, halte diese Antwort aber nicht von Belang, weshalb ich an dieser Stelle von einer Antwort absehe.




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Jörn Budesheim
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Di 21. Nov 2023, 16:46

Vokabeln pauken ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit :-) Deswegen ist das auch von Belang. Oder reicht es, wenn wir "intern unterscheiden" wie es uns beliebt?




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Jörn Budesheim
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Di 21. Nov 2023, 18:12

https://youtube.com/clip/UgkxHchgLTe3nO ... HYlfQCvYKK

Hier erläutert Luhmann, das orale Gesellschaft ohne Schrift möglicherweise nicht zwischen einzelnen Wörtern unterscheiden, so wie wir es kennen. Ich frage mich, wie man sich mit dieser Idee den Spracherwerb vorstellen soll?




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Jörn Budesheim
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Di 21. Nov 2023, 20:31

Ungefähr um Minute 42 erläutert Luhmann, dass bei der Schrift die Dimension Verstehen von den Dimensionen Mitteilung und Information abgekoppelt ist, man kann den Text schließlich auch sehr viel später verstehen. Aber wie sieht es aus mit demjenigen, der den Text verfasst, der versteht ihn doch auch?




sybok
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Di 21. Nov 2023, 22:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 13:23
Und warum sagt Luhmann, dass man die Absichten des anderen erraten kann? Ist das ein Witz, um die Vorlesung aufzulockern?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 15:06
Zu verstehen und auch noch blind, heißt doch gerade, dass man NICHT raten muss.
Ich habe das völlig anders interpretiert: Nicht, dass man erraten muss, sondern dass man erraten kann. Der ganze Kontext der sozialen Interaktion steht ja zur Verfügung, Mimik und Gestik, die Umgebung und die Dinge in Sichtweite, der zeitliche Bezug, etc.




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Jörn Budesheim
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Mi 22. Nov 2023, 06:36

sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 22:30
Ich habe das völlig anders interpretiert: Nicht, dass man erraten muss, sondern dass man erraten kann. Der ganze Kontext der sozialen Interaktion steht ja zur Verfügung, Mimik und Gestik, die Umgebung und die Dinge in Sichtweite, der zeitliche Bezug, etc.
Ich denke, wir haben das nicht völlig unterschiedlich interpretiert. Der Unterschied zwischen müssen und können ist für mich nicht von zentral, die Kritik bezieht sich auf den Begriff des Erratens. Wenn uns der ganze Kontext der sozialen Interaktion zur Verfügung steht, Mimik und Gestik, die Umgebung, die Dinge in Sichtweite etc pp, dann erraten wir nicht die Absichten der anderen, sondern wir erkennen sie, wir verstehen sie, wir können uns hineinversetzen oder wie immer man das nennen will, aber wir erraten nicht.

Dass wir die Absichten der anderen erkennen und nicht erraten, ist für den Umstand, dass wir Gesellschaften wie die unsere bilden können, doch essenziell.




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Jörn Budesheim
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Mi 22. Nov 2023, 08:05

Ich will noch mal ein Beispiel bringen, ich finde es schade, dass wir so wenig konkrete Fälle diskutieren, das fehlt, finde ich.

Jo: Schön, dass du das machst!
Jan: Danke, mach ich gerne :-)

Wir können nicht wissen, was hier passiert. Warum nicht? Weil uns der Kontext fehlt. Deshalb verstehen wir nicht, was Jo sagt. Ich glaube, das liegt daran, dass die Dinge, über die er spricht, den Inhalt seiner Worte mitbestimmen. Ich habe das schon früher erwähnt. Ich denke, das ist wichtig für die Frage, wie wir verstehen sollen, dass Kommunikation und Umwelt unterschieden sind. Das ist nämlich leichter gesagt als verstanden.

Diesmal bringe ich einen Zeugen mit, vielleicht hat es dann mehr Gewicht :-)

[...] [McDowells Konzeption von begrifflichen Gehalten de re:] Ein begrifflicher Gehalt de re ist objektabhängig in dem Sinne, dass er mitkonstituiert wird durch die Existenz genau des Gegenstandes, auf den er sich bezieht. Der paradigmatische Fall des Gehalts de re ist ein deiktischer Gehalt. Dabei handelt es sich um einen Begriff, dessen Verfügbarkeit abhängt von der wahrnehmbaren Präsenz eines bestimmten Objekts im Blickfeld desjenigen, der diesen Begriff erfasst. In einem solchen begrifflichen Gehalt ist der fragliche Bezugsgegenstand dem Subjekt begrifflich gegeben als „dieser Gegenstand“. Man kann über einen solchen Begriff nicht verfügen, wenn man sich außerhalb der sinnlichen Präsenz des fraglichen Gegenstandes befindet. Begriffe de re sind deshalb strikt kontextabhängig. Der philosophische Witz der Idee von Begriffen de re ist, dass sie das Verhältnis der sinnlichen Präsenz von Gegenständen, auf die gezeigt werden kann, und des begrifflichen Erfassens der Welt in Gedanken durch etwas, das gesagt werden kann, nicht als Gegensatz begreift, sondern einerseits die Fähigkeit des Aufzeigens des sinnlich Manifesten in das Reich des Begrifflichen integriert und andererseits das Begriffliche an die Präsenz der Welt bindet.

Der Begriff des Begriffs de re ermöglicht es uns so, zu verstehen, wie die Welt selbst in unsere Begriffe eingehen kann. Wir finden uns nicht in einem Gefängnis der Sprache bzw. der Begriffe eingesperrt, aus dem wir eigentlich ausbrechen müssten, um zur Welt zu gelangen. In dieser Weise ist auch McDowells berüchtigte These von der „Unbegrenztheit des Begrifflichen“ zu verstehen. Diese Redeweise hat immer wieder die Vorstellung provoziert, McDowell vertrete einen dubiosen Idealismus. Aus der Unbegrenztheit des Begrifflichen würde aber nur dann folgen, dass die Welt selbst aus Begriffen bestehe, wenn es im logischen Raum der Begriffe nur Begriffe gäbe. Das aber ist nicht der Fall. Der Raum der Begriffe schließt die Welt ein, und zwar deshalb, weil die Welt selbst der Raum der Begriffe ist. Man tritt nirgendwo von dem einen in die andere über. Die Unbegrenztheit des Begrifflichen ist darum nichts anderes bzw. ist deckungsgleich mit der Unbegrenztheit der Welt."

(David Lauer, John McDowell, in Information Philosophie)


Der Punkt ist also: Was Jo sagt, hat nur in diesem Kontext eine Bedeutung, oder genauer: der Kontext selbst ist Teil der Bedeutung. Das macht die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Kontext in diesem Fall schwierig. Das kurze Kommunikationssystem aus dem Beispiel unterscheidet sich nicht von seiner Umwelt, die Umwelt ist selbst Teil der Kommunikation. Vielleicht irre ich mich. Wenn wir herausfinden, warum, haben wir vielleicht etwas Wichtiges über Luhmanns Sichtweise gelernt.




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Nauplios
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Mi 22. Nov 2023, 15:27

sybok hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 22:34

Kommunikation sei eine Einheit/Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen. Durch Schrift werde Verstehen abgekoppelt von den anderen beiden Kategorien, beispielsweise bezüglich einem zeitlichen Aspekt, das Verstehen kann auch später passieren. Aber der Verzicht auf eine Einheit kostet auch was, muss kompensiert werden, es braucht jetzt Motive um sich mit etwas geschriebenem zu befassen, während man im mündlichen Gespräch eher Motive finden müsste, wollte man sich der Kommunikation entziehen. Die soziale Kontrolle fehle, man habe eher die Möglichkeit "Ja" oder "Nein" zu sagen, die Kommunikation findet ausserhalb der sozialen Interaktion statt. Schrift "asymmetrisiere", bei Funktechnologien sei das noch verstärkt. Zu Beginn gab es ja dabei keine Zwei-Wege-Kommunikation (gibt es ja etwa beim Fernsehen bis heute nicht wirklich).
Nun stammt ja diese Vorlesung aus dem Wintersemester 92/93, aus einer Zeit, in der die Folgen der Kommunikation durch das Internet und social media für die Gesellschaft noch nicht absehbar waren. Der Begriff sozial media wurde erstmals 1994 auf einer Konferenz in Tokyo verwendet und die großen Plattformen gab es noch nicht. Im Register von Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) gibt es keinen Eintrag "Internet". - Luhmann spricht zwar von "elektronischen Medien", gemeint ist aber vor allem das Fernsehen und der Hörfunk und wohl auch die "computergestützte Kommunikation" (damit ist vermutlich die e-mail gemeint, die Ende der 80er Jahre in Gebrauch kam), aber eine systemtheoretische Beschreibung der Kommunikation via social media liegt von Luhmann selbst nicht vor.

Inzwischen gibt es sie von seiten der seit den 90er Jahren weiter ausgearbeiteten Systemtheorie schon. Das zeigt schon eine erste google-Suche. - Das wäre (für später) mal ein interessantes Studienobjekt, auch im Hinblick auf die Weltgesellschaft.




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Nauplios
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Do 23. Nov 2023, 19:40

In der 6. Vorlesung geht es anfangs noch um genau die Frage nach den elektronischen Medien, nämlich um das Telephon, Film und Fernsehen und um computergestützte Kommunikation. Ich lasse Einzelheiten der Beschreibung von Eigenarten dieser Kommunikation mal beiseite, weil sie eigentlich nicht theorierelevant sind und darüberhinaus auch durch die kommunikationstechnologische Entwicklung der letzten 30 Jahre weniger von Bedeutung sind.

Von größerer Wichtigkeit ist hingegen der Abschnitt über "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" (ab S. 145). Die Begriffsbildung geht zurück auf Talcott Parsons, dessen theoretisches Interesse einer soziologischen Handlungstheorie galt. "Aus der Analyse des Handlungsbegriff folgt [für Parsons], wie Handlung System wird und wie sich innerhalb der Komponenten von Handlungen Subsysteme bilden." (S. 145f) - Bei Parsons geht es allein um Handlungen und Kommunikation ist hier nur ein Spezialfall von Handlung. Parsons knüpft damit an die ältere soziologische Tradition an, die sich Handlung immer ausgestattet mit sozialem Sinn (etwa als zweckrationales oder wertrationales Handeln - s. Max Weber) vorgestellt hatte.

Nach Parsons entstehen Medien als Konsequenz aus der funktionalen Differenzierung und ein Verbund von Handlungen generiert dann das System. Bei Luhmann ist es so, "daß sich Medien dazu eignen, Systeme zu generieren".

"Symbolisch" bedeutet nun, "daß sich ein Sinngehalt eignet, zwei verschiedene Akteure zu koordinieren, also beide auf dasselbe zu beziehen." (S. 147). Symbol meint Einheit von Getrenntem. Luhmann nennt hier u.a. das Kirchenportal, durch das hindurchgehend man den sakralen Raum betritt. Man könnte wohl auch an Inschriften über Universitätsgebäude denken, an die Würde eines Plenarsaals, an das Symbol der Iustitia mit den geschlossenen Augen und der Waage, vielleicht auch an Bulle und Bär vor dem Eingang der Börse, an Leitsprüche an Schulgebäuden u.ä.

"Generalisiert" bedeutet, daß sie als Symbole nicht nur einmal verwendbar sind, sondern in unterschiedlichen Situationen. Geld kann man in den Klingelbeute der Messe legen, man kann aber auch dafür sexuelle Dienste in Anspruch nehmen oder es sparen. Lieben kann man heute diesen und morgen jenen. Wahr kann sowohl ein Gesetz der Natur sein als auch ein Tatbestand, der aufgedeckt wird oder die gerichtlich festgestellte Verfassungsfeindlichkeit eines Staatshaushaltes usw.

(Soweit erstmal)




sybok
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Do 23. Nov 2023, 22:43

Nauplios hat geschrieben :
Mi 22. Nov 2023, 15:27
Inzwischen gibt es sie von seiten der seit den 90er Jahren weiter ausgearbeiteten Systemtheorie schon. Das zeigt schon eine erste google-Suche. - Das wäre (für später) mal ein interessantes Studienobjekt, auch im Hinblick auf die Weltgesellschaft.
Oh ja! Es scheint mir in unserer Zeit im Vergleich zu den 90ern einige solcher interessanter Stellen für diese Theorie zu geben: eben social media aber vielleicht auch Globalisierung (hat ja auch mit Weltgesellschaft zu tun), KI, Blockchains und dezentrale autonome Infrastrukturen, Probleme mit dem ganzen Wissenschaftsapparat, etc.
Nauplios hat geschrieben :
Do 23. Nov 2023, 19:40
In der 6. Vorlesung geht es anfangs noch um genau die Frage nach den elektronischen Medien, nämlich um das Telephon, Film und Fernsehen und um computergestützte Kommunikation. Ich lasse Einzelheiten der Beschreibung von Eigenarten dieser Kommunikation mal beiseite, weil sie eigentlich nicht theorierelevant sind und darüberhinaus auch durch die kommunikationstechnologische Entwicklung der letzten 30 Jahre weniger von Bedeutung sind.
Erscheint mir sinnvoll.
Was dann vielleicht interessant wäre, wäre eine Betrachtung der Entwicklungen dieser Kommunikationsformen durch eine evolutionstheoretische Brille im Rahmen der Systemtheorie (Luhmann meinte ja, dass es enge Verbindungen von Evolutionstheorie und Systemtheorie gebe). Und ich würde das so meinen, dass man das dabei dann nicht unbedingt im Sinne der üblichen Auffassung eines technologischen Fortschritts betrachten müsste, dabei könnte man vielleicht was gewinnen. Aber das wohl auch wahrscheinlich eher für später, ein Abschnitt "Evolution" kommt ja noch in der Vorlesung.

Ich höre mir die 6. Vorlesung morgen an, aber ich wittere nach dem Lesen deiner Zusammenfassung schon umfangreicheren Gesprächsbedarf :) , ich komme sicher darauf zurück.




Timberlake
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Fr 24. Nov 2023, 01:40

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 22. Nov 2023, 08:05
Ich will noch mal ein Beispiel bringen, ich finde es schade, dass wir so wenig konkrete Fälle diskutieren, das fehlt, finde ich.

Jo: Schön, dass du das machst!
Jan: Danke, mach ich gerne :-)

Wir können nicht wissen, was hier passiert. Warum nicht? Weil uns der Kontext fehlt. Deshalb verstehen wir nicht, was Jo sagt. Ich glaube, das liegt daran, dass die Dinge, über die er spricht, den Inhalt seiner Worte mitbestimmen. Ich habe das schon früher erwähnt. Ich denke, das ist wichtig für die Frage, wie wir verstehen sollen, dass Kommunikation und Umwelt unterschieden sind. Das ist nämlich leichter gesagt als verstanden.

Diesmal bringe ich einen Zeugen mit, vielleicht hat es dann mehr Gewicht :-)

[...] [McDowells Konzeption von begrifflichen Gehalten de re:] Ein begrifflicher Gehalt d ..
(David Lauer, John McDowell, in Information Philosophie)


Der Punkt ist also: Was Jo sagt, hat nur in diesem Kontext eine Bedeutung, oder genauer: der Kontext selbst ist Teil der Bedeutung. Das macht die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Kontext in diesem Fall schwierig. Das kurze Kommunikationssystem aus dem Beispiel unterscheidet sich nicht von seiner Umwelt, die Umwelt ist selbst Teil der Kommunikation. Vielleicht irre ich mich. Wenn wir herausfinden, warum, haben wir vielleicht etwas Wichtiges über Luhmanns Sichtweise gelernt.
Ich bringe mal dazu ein anderen Zeugen mit , der hat möglicherweise noch etwas mehr Gewicht ..
  • " Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe."
    Immanuel Kant .. Kritik der reinen Vernunft
Lt. Kant werden uns die Gegenstände aus der Umwelt vermittelst der Sinnlichkeit gegeben. Also über das Fühlen, Sehen , Hören, Schmecken, Riechen. ..

Wenn Jo sagt ..

Schön, dass du das machst!

.. und Jan antwortet

Danke, mach ich gerne :-)

.. so deshalb , weil zuvor beiden etwas über die Sinnlichkeit vermittelt wurde und nicht zu vergessen bei beiden aus Anschauungen zuvor Begriffe entsprungen sind. Nur über diese beiden Schienen kann ein Kontext und infolge dessen diese Kommunikation stattfinden.

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 18:12
https://youtube.com/clip/UgkxHchgLTe3nO ... HYlfQCvYKK

Hier erläutert Luhmann, das orale Gesellschaft ohne Schrift möglicherweise nicht zwischen einzelnen Wörtern unterscheiden, so wie wir es kennen. Ich frage mich, wie man sich mit dieser Idee den Spracherwerb vorstellen soll?
Wenn Jim , das ließt und dennoch einen Kontext daraus ableitet , und zwar den Kontext eines Dialoges zwischen Jo und Jan , dann deshalb , weil mit der Schrift quasi eine dritte Schiene hinzu kommt. Eine Schiene , die zwischen den einzelnen Worten und Buchstaben unterscheidet. Mit dieser Idee kann man sich deshalb den Spracherwerb vorstellen , weil nach meiner Meinung die Schrift auf den Spracherwerb aufsetzt. So das wenn wir reden , die Schrift wieder abgesetzt wird . Zumindest nehme ich das einmal an. Wenn ich rede , dann jedenfalls nicht im Kontext einer Schrift. Einer Schrift die , wie kein anderes Medium Massen von Menschen über ganze Zeitalter hinweg anschlussfähig macht und deshalb meiner Meinung nach wie kein anderes Medium Gesellschaftsbildent ist . Um schlussendlich dann doch noch auf das Thema diese Threads zurück zu kommen.




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Nauplios
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Fr 24. Nov 2023, 14:29

Ein wichtiger Punkt in dieser 6. Vorlesung ist auch die Auflösung des Weber'schen Rationalitätsbegriffs, die sich schon bei Parsons zeigt und von Luhmann radikalisiert wird. Bei Parsons geht es nur noch um die "innere Rationalität" des Systems (z.B. Wirtschaft, Politik oder Religion). Es fehlt eine "gesamtgesellschaftliche Rationalität", welche die jeweiligen "inneren Rationalitäten" der Subsysteme bündeln würde. "Das fällt einem auf, wenn man selber auch dieses Problem hat, wie man eigentlich sagen kann, die Gesellschaft selbst sei rational, eigenständig rational, ohne daß es sich speziell um eine ökonomische Rationalität oder um eine Wertrationalität [...] oder eine Rationalität in der Politik handeln würde." (S. 148f)

Beobachten läßt sich dieser Zerfall einer Rationalität, die in allen gesellschaftlichen Systemen mit sich identisch wäre, also immer denselben Eigenwert hätte, an der tagesaktuellen Debatte zum Karlsruher Urteil, daß das zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 verfassungswidrig ist. Die Rationalitätslogik des Systems Wirtschaft läuft darauf hinaus, wie nun dennoch Investitionen angestoßen werden können, Ansiedlungen von Industrien attraktiv werden können, Abwanderung von Industrien infolge zu hoher Energiekosten vermieden werden können, Arbeitsplätze erhalten bleiben können usw. Das politische System mit seinem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium der Macht hat politische Mehrheitsverhältnisse im Blick: Steigt die FDP aus der Koalition aus? Gibt es dann Neuwahlen? Sind die Grünen zum Zwecke des Machterhalts zu Kompromissen bereit? - Die Wissenschaft wiederum richtet ihre Rationalität darauf aus, ob jetzt noch die Klimaziele erreicht werden können, die Moral darauf, ob wir es verantworten können, nachkommenden Generationen eine zum Teil unbewohnbare Erde zu hinterlassen oder einen Schuldenberg, der die künftigen Handlungsspielräume einschränkt, die Religion fragt nach der Bindungskraft der Verpflichtung zur Bewahrung der Schöpfung. Das Recht hat es etwa damit zu tun, inwieweit die Aktionen der "Letzten Generationen" gegen geltendes Recht verstoßen usw.

Als Folge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft sind all diese Systeme füreinander Umwelt; ihre "inneren Rationalitäten" lassen sich nicht zu einer Gesamtrationalität bündeln.

Mit welchen Komplikationen bereits die Frage, was eigentlich rational ist, verbunden ist, zeigen aktuelle Diskussionen dazu.




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Nauplios
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Fr 24. Nov 2023, 17:49

Alle sprachliche Kommunikation hat einen Ja/Nein-Code. Man kann mit Annahme oder Ablehnung reagieren auf alles, was gesagt wird. Dabei ist es nicht entscheidend, ob man das Gesagte versteht oder mißversteht. Mit der Steigerung der Komplexität verschiebt sich die zunächst als Symmetrie vorgestellt Verteilung von Ja und Nein zugunsten von Nein. Das Nein ist wahrscheinlicher als das Ja. Auch die Asymmetrie ist die Folge von Funktionssystemdifferenzierungen. Man ist damit im Laufe der Evolution immer mehr auf Gegenmittel angewiesen, die das wahrscheinliche Nein auf ein mögliches Ja umstellen.

Für solche Umstellungen zu sorgen, ist die Funktion symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien; sie machen das Ja wahrscheinlicher. Wenn bestimmte Bedingungen eingehalten werden, wird die Kommunikation akzeptiert. Luhmann spricht hier von einem Zusammenhang von Konditionierung und Motivation. (S. 154) Wenn man beispielsweise für eine bestimmte Leistung Geld bekommt, wird die Annahme der Kommunikation mit einem Ja wahrscheinlicher, wenn man für dieses Geld dann selbst wieder etwas kaufen kann. Das ist eine Kondition, die dazu motiviert, sich auf Bezahlung mit Geld einzulassen, d.h. mit Ja zu reagieren. In einer Mangelwirtschaft oder bei einer Währung mit hoher Inflation oder sonstigen Unsicherheiten läßt man sich lieber mit Zigaretten bezahlen usw.




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Nauplios
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Fr 24. Nov 2023, 17:58

Hier eine Tabelle mit den Zuordnungen des Codes und des Mediums zu den Funktionssystemen:
FDDA300B-486D-40E7-A8D3-B6039874B2A1.jpeg
FDDA300B-486D-40E7-A8D3-B6039874B2A1.jpeg (87.81 KiB) 696 mal betrachtet




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