Differenztheoretischer Theorieansatz

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Jörn Budesheim
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Mo 20. Nov 2023, 15:57

Quk hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 15:48
Wir unterscheiden, weil es Unterschiede gibt. Das fängt schon an mit der Tatsache, dass der Akt des Unterscheidens selbst aus einer Reihe unterschiedlicher Ereignisse besteht.
Das wäre die realistische Sicht (wenn auch natürlich nur formelhaft ausgedrückt). Eine andere Position lässt sich mit Paul Boghossian so charakterisieren: Es gibt so eine Art Weltteig, und in diesen Teig drücken wir unsere Förmchen (Unterscheidungen). Ein früherer Philosophieprofessor von mir hat das so ausgedrückt: Es gibt ein unbestimmtes Potential. Dementsprechend gibt es die Unterschiede, weil wir sie machen. Boghossian nennt das "Förmchenkonstruktivismus".




Timberlake
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Mo 20. Nov 2023, 16:15

... und genau aus diesen Förmchen (Unterscheidungen) bestehen nach meiner Ansicht auch die "Schwellen der Entmutigung"( Niklas Luhmann) . Ein "Differenztheoretischer Theorieansatz", der bekanntlich die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation beschreibt.




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Quk
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Mo 20. Nov 2023, 16:34

Ich denke, der Satz "es gibt" schließt auch Lebewesen ein, die etwas machen. Demnach "gibt es" auch Wesen, die selber Unterschiede machen. Ich sehe also keinen Gegensatz zwischen "wir machen Unterschiede" und "es gibt Unterschiede", sondern ich sehe in "es gibt" eine ergänzende, umfassendere Formel als nur in dem "wir" in "wir machen". Letztere ist in "es gibt" enthalten, meine ich.

Vielleicht ist es schon aufgefallen, dass ich hier im Forum ziemlich oft das Wort "Ergänzung" verwende. Ergänzung ist für mich etwas sehr wichtiges; es ist mehr als ein Begriff; häufige Gedanken der Ergänzung bilden eine gewisse Lebenseinstellung, glaube ich. Es füllt Gräben. Ergänzungen geben hinzu zum Ganzen; sie erweitern, anstatt etwas hart schwarzweiß-mäßig einzugrenzen, zu pauschalisieren oder zu schubladisieren.




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Nov 2023, 19:46

Luhmann hat geschrieben : Dieses Referenzproblem wurde in einer längeren, speziell französischen Entwicklung immer deutlicher gesehen. Man hat immer deutlicher gesehen, dass man das Bezeichnete als das, was die Sprache meint, nicht kennen, ohne Sprache nicht verfügbar machen und in der Sprachtheorie nicht vernachlässigen kann. Das führte zu eher strukturalistischen Theorien über den Zeichengebrauch und über die Sprache. Gleichzeitig gab es auch in der Soziologie ähnliche Überlegungen...
Die Differenz der Wörter ist in dieser Theorie das, was die Sprache am Laufen hält. Die Referenz wird in dieser Sicht fast nebensächlich, und das Referenzproblem besteht, wenn ich es richtig verstehe, darin, dass man ohne die entsprechende Sprache gar nicht an die Dinge herankommt. Das ist, könnte man polemisch sagen die francophone Sicht der Dinge.

Aber es gibt natürlich Alternativen. Und ich sehe nicht, dass Luhmann sie ausführlich diskutiert. Ich für meinen Teil finde z.B. den Externalismus viel plausibler, bei dem (natürlich jetzt total vereinfacht) die Dinge selbst im Zentrum der Bedeutungen stehen. Ich kann auch keine Sprachtheorie nachvollziehen, in der nicht die Wahrheit im Zentrum steht. Ich kann mich nicht erinnern, dass das Dinge sind, die Luhmann diskutiert, aber ich kann mich täuschen.

Wenn man z.B. einen Moment über die Triangulation nachdenkt, d.h. über die Art und Weise, wie wir eigentlich in die Sprache hineinkommen, dann scheint mir, dass wir damit auf jeden Fall auch ein Stück Sozialität eingefangen haben.
sybok hat geschrieben :
Mi 15. Nov 2023, 08:22
Meinem Eindruck nach darf man hier einen Ausschnitt dieses "Netzwerkes von Begriffen" zumindest schon mal flüchtig wahrnehmen: Triff eine Unterscheidung / System als Differenz führt zum Operator (oder umgekehrt), dieser zur operativen Geschlossenheit, das ganze über den Sinnbegriff zum Beobachter (oder über Beobachter zum Sinnbegriff, wahrscheinlich kann man - Netzwerk - eh alles "umdrehen") und mittels der eigenen Anschlussfähigkeit des Operators, mittels reentry, wiederum zur Selbst- und Fremdreferenz. Das scheint mir die "bottom line" der Theorie zu sein, was er in obigem Zitat wohl auch anspricht, und deshalb einen eigenen Thread wert. Ich glaube man sieht da schon mal, immerhin im Ansatz, dass die Begriffe und Konzepte sich aufeinander beziehen und nicht wirklich eine hierarchische Struktur formen, tatsächlich bedingt sich scheinbar alles gegenseitig.
Eine Randbemerkung, wenn ich darf. Ich finde deine Texte teilweise schwieriger zu verstehen als die von Luhmann, was die Diskussion für mich nicht gerade einfacher macht. :)




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Nauplios
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Mo 20. Nov 2023, 20:19

Vielleicht hat es vor jeder Differenz ja doch eine Einheit gegeben, auf die zurück sich alle Unterschiede führen lassen. Damit wäre dann auch die Paradoxie des Anfangs vermieden. Es gibt dafür einen eleganten, wenn auch etwas in die Jahre gekommenen Vorschlag:

"Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde." Gott tritt hier in der Rolle der Einheit aller Unterscheidungen auf. Die Übersetzung mit "im Anfang" (anstelle von "am Anfang") sichert die Paradoxie ab, ansonsten ließe sich eher nach dem fragen, was vor dem Anfang war. Im Anfang war der EINE Gott, der EINE Herr, der sich sofort auch als systemtheoretisch sattelfest erweist, indem er sich Spencer-Browns Losung "Triff eine Unterscheidung" zu eigen macht:

"Die Erde aber war unförmlich (!) und vermischt (!) ..." - Und Gott beginnt sein Schöpfungswerk indem er (unter)scheidet *: Himmel und Erde, Finsternis und Licht, Wasser und Trockenes, das große und das kleine Licht, Pflanzen und Tiere, Tiere und Menschen, Mann und Frau, Baum des Lebens und Baum der Erkenntnis ... Die Einheit all dieser Unterscheidungen ist nicht beobachtbar, nicht mal ein Bild darf man sich davon machen. Doch da der Mensch nun schon mal vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, kann er immerhin eines: Systemtheorie betreiben.

* Realisten können sich hier für Scheiden ent-scheiden, Konstruktivisten für Unterscheiden.




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Nov 2023, 20:32

Die Konstruktivisten übernehmen hier die Position Gottes, indem sie in den Weltteig ihre Formen eintragen. Während wir Realisten die armen Schlucker sind, die mit dem auskommen müssen, was der Fall ist :)




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AufDerSonne
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Mo 20. Nov 2023, 21:17

Nauplios hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 20:19
"Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde."
Oder auch nicht.
Es ist doch immer wieder erstaunlich, was dieser Gott alles kann. Naja, sei es drum.

Ich kenne da noch eine nette Variante: Im Anfang war die Zahl. Und die Zahl war bei Gott und die Zahl war Gott. :)



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sybok
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Mo 20. Nov 2023, 22:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 19:46
Eine Randbemerkung, wenn ich darf. Ich finde deine Texte teilweise schwieriger zu verstehen als die von Luhmann, was die Diskussion für mich nicht gerade einfacher macht. :)
Ja klar, falls ich es ändern kann... woran liegt es, falsche Verwendung von Wörtern, zu viele Formatierungszeichen, merkwürdige Satzstrukturen, ...?




Timberlake
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Mo 20. Nov 2023, 23:06

Nauplios hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 20:19
Vielleicht hat es vor jeder Differenz ja doch eine Einheit gegeben, auf die zurück sich alle Unterschiede führen lassen. Damit wäre dann auch die Paradoxie des Anfangs vermieden. Es gibt dafür einen eleganten, wenn auch etwas in die Jahre gekommenen Vorschlag:

"Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde." Gott tritt hier in der Rolle der Einheit aller Unterscheidungen auf. Die Übersetzung mit "im Anfang" (anstelle von "am Anfang") sichert die Paradoxie ab, ansonsten ließe sich eher nach dem fragen, was vor dem Anfang war. Im Anfang war der EINE Gott, der EINE Herr, der sich sofort auch als systemtheoretisch sattelfest erweist, indem er sich Spencer-Browns Losung "Triff eine Unterscheidung" zu eigen macht:

Wie wäre es denn damit "Im Anfang erschuf ein System , ein System aus Himmel und Erde." Hier nun würde ein System, in der Rolle der Einheit aller Unterscheidungen auf treten und so ganz neben bei wären wir damit , weil selbstreferenziell und damit wie gesagt nicht trivial , bei dem , was die arme Seele Sybok insbesondere umtreibt ...

sybok hat geschrieben :
Mi 15. Nov 2023, 08:22

Wahrscheinlich hat das auch mit dem nächsten Punkt zu tun, aber ich finde das wie gesagt nicht trivial:

3. Das "reentry": "Wiedereintritt der Form in die Form oder der Unterscheidung in das, was unterschieden worden ist". Die Operation als Operation erzeugt bereits die Differenz. Und durch diesen münchhausenmässigen Vorgang des sich selbst in sich selbst Hineinkopierens entstehe dann Selbstreferenz, was dann nach meinem bisherigen Verständnis unmittelbar zum Sinnbegriff führt.

... ein münchhausenmässiger Vorgang, des sich selbst in sich selbst Hineinkopierens. Das erinnert mich übrigens an den Gödelschen Unvollständigkeitssatz .

hrstraub.ch hat geschrieben :
Selbstreferentialität 1

Doch zurück zu Gödel. Was ist – in Laiensprache – der Trick in Gödels Unvollständigkeitssatz?

Der Trick besteht darin, einen Satz, eine logische Aussage …

1. auf sich selber zu beziehen
2. sie dann zu verneinen.

Das ist der ganze Trick. Mit dieser Kombination lässt sich jedes klassische formale System sprengen.




sybok
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Di 21. Nov 2023, 08:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 15:40
sybok hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 15:26
Luhmann stimmt dem ja auch zu, bei uns ist dann der Zeiger, wie er sagt, "auf Seiten des Systems"
Aber das ist logisch nicht möglich, denn ein Zeiger ist ja eine Richtung.

Mein Punkt war jedoch ein anderer. Mir fehlt oben die Unterscheidung zwischen (dem Prozess des) Unterscheidens und den Unterschieden. Man könnte es plakativ und natürlich verkürzt so ausdrücken: Gibt es die Unterschiede, weil wir unterscheiden? Oder unterscheiden wir, weil es Unterschiede gibt?
Ah, bezüglich "Zeiger", verwende ich vom Programmieren her als Synonym für Referenz, ist nicht wirklich ein "Pfeil" mit Länge und Richtung oder sowas gemeint.
Ich glaube, dass die Frage, ob es Unterschiede schon gibt oder sie erst mit der Unterscheidung gezogen werden, gar nicht von Bedeutung ist: So oder so, es muss eine Unterscheidung getroffen werden, wenn man sozusagen gegen den Hintergrund (hier ja die Umwelt) etwas konstruieren will. Menschen vermuten oft bei Zufall Strukturen und wenn sie Strukturen sehen, einen zufälligen Mechanismus dahinter. Prominent wird das beispielsweise im quantitative Finance thematisiert, weil es dort dadurch halt zu Fehlentscheidungen und damit zu knallhart messbaren Geldverlusten kommen kann. Ich will das als Indiz anführen: Man kann scheinbar auch aus Zufall Strukturen herausziehen, Zufall clustert, ob es also Unterschiede schon tatsächlich gibt oder sie künstlich aus einer totalen "Entropiesuppe" gezogen wurde, ich glaube das spielt keine Rolle. Falls ich das richtig sehe, oder wenigstens die richtige Richtung in dieser Sache einschlage, hielte ich das für eine unglaubliche Stärke einer entsprechenden Theorie, denn damit würde dieser Aspekt der Hintergrundabhängigkeit (siehe unten) in meiner momentanen Sichtweise auf äusserst elegante Weise elimiminiert.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 19:46
Wenn man z.B. einen Moment über die Triangulation nachdenkt, d.h. über die Art und Weise, wie wir eigentlich in die Sprache hineinkommen, dann scheint mir, dass wir damit auf jeden Fall auch ein Stück Sozialität eingefangen haben.
Triangulation kenn ich in dem Zusammenhang nicht, das sagt mir nur was bezüglich Technologie, Ortsbestimmung. Aber das "Sozialität einfangen" kann gut sein. Würde das, gesetzt den Fall dass das stimmt, bei Luhmann nicht einfach unter struktureller Kopplung mit der Umwelt laufen?
Quk hat geschrieben :
Mo 20. Nov 2023, 15:48
Der Anfang einer komplexen Ereignis-Verästelung ist meiner Ansicht nach immer eine Singularität aus Ei und Henne; das heißt, an der Stelle gibt es noch nichts, und plötzlich ist spontan sowohl Ei als auch Henne anwesend. Der Anfang muss notwendig inkausal sein. Sonst kommt aus der Singularität heraus nichts in Gang, denn an ihrer Stelle gibt es ja noch keine Zeit, kein Davor, kein Danach. Eine Welt ohne Kausalität kann sich das menschliche Hirn schwer vorstellen, aber ich denke, mit etwas Übung ist diese Vorstellung erlernbar.
Sehr schön, ich ordne die ganze Thematik für mich selber auch unter "Henne/Ei-Problematik" ein ;) . Mir persönlich gefällt das mit der Singularität aber, zumindest in der Form, nicht. Das fällt so vom Himmel, ich will aber ja den Mechanismus verstehen oder, wenn es tatsächlich "einfach so" auftaucht, dann genau wissen, wo, warum und wie genau.
Besser, gefällt mir aber auf meinem jetzigen Stand auch nicht wirklich, schiene mir das, was ich bisher im Umkreis dieser Systemtheorie dazu gehört habe, zum Beispiel von Nassehi, dass man den Aspekt der Zeit miteinbezieht. Zeit muss dann aber ja auch von irgend einer Art von Unterscheidung herkommen. Zeit scheint immer ein Problem, auch in der Physik, ich will einfach eine hintergrundunabhängige Theorie, setzt man Dinge wie Raum und Zeit voraus, ist man schon nicht mehr auf diesem Level.
Es gibt da etwas, worüber ich mir noch nicht im klaren bin, Luhmann spricht es gerade in der 5. Vorlesung Theorie der Gesellschaft kurz an, im Abschnitt wo es um historische Hinweise zur Sprache geht: Die Evolution schaffe vorübergehende einfachere Strukturen um die komplexeren Funktionen auszubilden. Es gibt da nämlich eine Stelle, wo ich mir für mich sicher bin, dass das so abläuft:
In der Fundierung der Mathematik: Wir fundieren sie "klassisch" ja über Mengenlehre und Logik und mein Punkt dabei ist, dass sich die beide - Henne/Ei-Problematik - gegenseitig bedingen. Der Trick, wenn man es ganz genau nimmt, ist eigentlich, aber das wird in der Mathematik leider nicht wirklich behandelt oder untersucht, dass man erst die Logik über die als problematisch erkannte naive Mengenlehre herauszieht, dann damit die Mengenlehre "sauber" formalisieren kann und dann wiederum dadurch die Logik "stabilisiert" - ich nenne das für mich "Ping-Pong-Spiel" und ich meine, dass man ähnliche Menchanismen auch an anderen Stellen antrifft (zum Beispiel beschreibt Luhmann das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdreferenz an einer Stelle ganz ähnlich). Also in meiner Sichtweise tatsächlich wie Luhmann in der Vorlesung sagte: Eine Art evolutionärer Vorgang, der aus einfachen Strukturen (naive Mengenlehre) die komplexeren Strukturen ausbildet.




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Quk
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Di 21. Nov 2023, 10:00

sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47
... zum Beispiel von Nassehi, dass man den Aspekt der Zeit miteinbezieht. Zeit muss dann aber ja auch von irgend einer Art von Unterscheidung herkommen. Zeit scheint immer ein Problem, auch in der Physik, ich will einfach eine hintergrundunabhängige Theorie, setzt man Dinge wie Raum und Zeit voraus, ist man schon nicht mehr auf diesem Level.
Eben. Ich meine, wenn Du und Nassehi den Anfang untersuchen wollen, wessen Anfang ist das? Es ist jener der Zeit. "Vor" der Zeit gibt es keine Zeit, also auch keine Ursache. Dennoch gibt es eine Unterscheidung, nämlich zwischen dem, was gestartet wurde und jenem, was nicht gestartet wurde. Dieser Ur-Unterschied besteht, obwohl er keine Vorzeit und keine Ursache benötigt.
Zuletzt geändert von Quk am Di 21. Nov 2023, 10:32, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47
Triangulation kenn ich in dem Zusammenhang nicht
Ein Beispiel: Wenn ein Kind sprechen lernt, dann ist das Dreieck von großer Bedeutung, dessen Basis (a) Lehrer:in (Vater/Mutter/...) und (b) Schüler:in (Kind) bilden und dessen 8c) "Spitze" der Gegenstand (Wauwau) ist. Dieses Dreieck umfasst die Referenz. In diesen Kontext gehört auch der Slogan "meaning just ain't in the head". Gleichzeitig ist das Dreieck eine der sozialen Grundkonstellationen, denke ich.
sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47
Ich glaube, dass die Frage, ob es Unterschiede schon gibt oder sie erst mit der Unterscheidung gezogen werden, gar nicht von Bedeutung ist ...
Die Triangulation würde nicht funktionieren, wenn es nicht um "externe" Unterschiede ginge. Ich glaube, dieses Bild der Triangulation lässt sich nicht mit der "System/Umwelt-Unterscheidung" einfangen, es ist ganz anders gebaut. Insbesondere sind hier Wahrheit und Rationalität von größter Bedeutung.




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Jörn Budesheim
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Di 21. Nov 2023, 10:44

sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47
Ich glaube, dass die Frage, ob es Unterschiede schon gibt oder sie erst mit der Unterscheidung gezogen werden, gar nicht von Bedeutung ist: [...] Prominent wird das beispielsweise im quantitative Finance thematisiert, weil es dort dadurch halt zu Fehlentscheidungen und damit zu knallhart messbaren Geldverlusten kommen kann.
Zeigt dein eigenes Beispiel mit den Geldverlusten nicht genau das Gegenteil von dem, was du zeigen willst? Die Frage, ob die Unterschiede bereits vorhanden sind oder erst durch die Unterscheidung entstehen, ist in diesem Beispiel doch von großer Bedeutung. Wenn ich eine Unterscheidung mache, die auf keinem Unterschied basiert, dann handelt es sich in der Regel einfach um einen Irrtum. Außerdem setzen doch alle deine Beispiele den Unterschied, den ich stark machen will, voraus. Wenn ich in eine Zufallsverteilung ein Muster hineindeute, das nicht vorliegt, irre ich mich in der Regel einfach.




Timberlake
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Di 21. Nov 2023, 12:50

sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47


In der Fundierung der Mathematik: Wir fundieren sie "klassisch"
.. und genau das und zwar das "klassische" Fundieren in der Mathematik wurde vom Gödelschen Unvollständigkeitssatz ad absurdum gestellt ...
hrstraub.ch hat geschrieben :
Selbstreferentialität 1

Doch zurück zu Gödel. Was ist – in Laiensprache – der Trick in Gödels Unvollständigkeitssatz?

Der Trick besteht darin, einen Satz, eine logische Aussage …

1. auf sich selber zu beziehen
2. sie dann zu verneinen.

Das ist der ganze Trick. Mit dieser Kombination lässt sich jedes klassische formale System sprengen.
Wenn gleich klassische fundierte mathematische formale Systeme dennoch in der Praxis tadelos funktionieren. Das gilt übrigens auch für soziale Systeme. Es sei denn , man lässt sie im Verlauf "differenztheoretischer" Betrachtungen auf sich selber beziehen und anschließend verneinen und so in etwa kommen mir deine Betrachtungen , zum Thema dieses Threads , auf den Punkt gebracht , mittlerweile tatsächlich vor. Stichwort "Ping-Pong-Spiel" ..
sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47

Der Trick, wenn man es ganz genau nimmt, ist eigentlich, aber das wird in der Mathematik leider nicht wirklich behandelt oder untersucht, dass man erst die Logik über die als problematisch erkannte naive Mengenlehre herauszieht, dann damit die Mengenlehre "sauber" formalisieren kann und dann wiederum dadurch die Logik "stabilisiert" - ich nenne das für mich "Ping-Pong-Spiel" und ich meine, dass man ähnliche Menchanismen auch an anderen Stellen antrifft (zum Beispiel beschreibt Luhmann das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdreferenz an einer Stelle ganz ähnlich).
Von Gödel wurde dergleichen übrigens behandelt oder untersucht. In der Mathematik wird es leider nur nicht wirklich zu Kenntnis genommen. Warum auch., wenn .. wie gesagt .. die "klassisch" fundierte Mathematik in der Praxis ausgezeichnet funktioniert. In sofern es auch weinig Sinn macht Luhmanns "klassisch" fundierte Systemtheorie von daher an zugehen, also vom "Zusammenspiel von Selbst- und Fremdreferenz". So zumindest meine Meinung. Dieses "Ping-Pong" einfach nur zu Kenntnis zu nehmen und ggf. auf konkrete Beispiele anwenden, reicht da völlig aus.




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Nauplios
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Di 21. Nov 2023, 13:44

sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47

Ich glaube, dass die Frage, ob es Unterschiede schon gibt oder sie erst mit der Unterscheidung gezogen werden, gar nicht von Bedeutung ist
Das sehe ich auch so. Die Systemtheorie wird meistens auf das Konto "Konstruktivismus" verbucht. Dafür gibt es gute Gründe und man kann auch mit der Unterscheidung Konstruktivismus/Realismus in einem ersten Annäherungsschritt hantieren. Luhmann selbst spricht von einem "operativen Konstruktivismus". Mit diesem Begriff wird die Gesellschaft beschrieben als operativ geschlossenes – aber zugleich kognitiv offenes - Kommunikationssystem, in dem sich "alles, was als Realität erfahren wird, [...] aus dem Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation [ergibt] und nicht aus einem Sichaufdrängen der irgendwie geordnet vorhandenen Außenwelt" (Luhmann; Die Gesellschaft der Gesellschaft; S. 95). Dabei geht es um gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen sozialer Sinnsysteme. Der "operative Konstruktivismus" bestreitet damit jedoch nicht die Existenz einer ontologischen Realität ("Minimalontologie"), die auch empirisch erfahrbar ist ("Es gibt Systeme"). Es handelt sich nicht um eine Erkenntnistheorie im Sinne des "radikalen Konstruktivismus".

Wenn Luhmann also schreibt: "Mein Konsens ist nicht dein Konsens", dann ist damit nicht gemeint, daß es gar keinen Konsens gibt! Es bedeutet nur, daß "mein" und "dein" zwei unterschiedliche Referenzen auf Systeme haben, die gar nicht anders können als je geschlossen zu operieren. Diese "operative Geschlossenheit" wird gerne als Beleg dafür angeführt, daß mit der Systemtheorie ein Konstruktivismus verbunden ist, der die Systeme von jedweder Realität entkoppelt. Die operative Geschlossenheit des Systems isoliert es gegenüber der Umwelt, aber sie entkoppelt es nicht von der Umwelt. Weil es operativ geschlossen ist, kann es überhaupt erst kognitiv offen sein.

Luhmann hat unter dem Titel Soziologische Aufklärung fünf Aufsatzbände veröffentlicht, den letzten mit dem Untertitel Konstruktivistische Perspektiven. Darin heißt es im Zusammenhang mit der Beobachtung erster und zweiter Ordnung:

"Die Unterscheidung von 'Was'-Fragen und 'Wie'-Fragen zielt auf diese Unterscheidung zweier Ebenen der Beobachtung. Oder jedenfalls gibt diese Interpretation ihr einen brauchbaren Sinn. Allerdings darf man es sich damit nicht zu leicht machen. Es handelt sich nicht um einen Fall der logischen oder linguistischen Ebenenarchitektur, nicht um einen Fall der zur Lösung des Paradoxieproblems erfundenen Typenhierarchie. Vielmehr ist die Unterscheidung empirisch gemeint, und unter Philosophen mag es zweckmäßig sein, dies ausdrücklich zu betonen." (Soziologische Aufklärung; Bd. 5; S. 14f)

Warum diese Betonung des Empirischen angebracht ist, erläutert er in einer angeschlossenen Fußnote:

"Dies auch im Hinblick auf eine unergiebige Debatte über 'Konstruktivismus'. Was immer seine Anhänger sagen mögen: selbstverständlich ist der Konstruktivismus eine realistische Erkenntnistheorie, die empirische Argumente benutzt. Die Stoßrichtung zielt nur gegen den alten Selbstbegründungsanspruch der Erkenntnistheorie und deren Formen der Externalisierung: Gott bzw. Subjekt. Und das Resultat ist die These der Systemabhängigkeit aller Erkenntnis mit dem Korrelat einer Beobachtung zweiter Ordnung, einer ebenfalls immer empirisch und systemisch gemeinten Beobachtung beobachtender Systeme." (Soziologische Aufklärung; Bd. 5; S. 15 - Hervorhebungen von mir)

Konstruktion (im Sinne des operativen Konstruktivismus) meint also, daß Systeme die Realität konstruieren, indem sie die Realität konstruieren. - Zu beobachten ist das vielleicht, wenn sich der Pulverdampf, der immer noch über den Schlachtfeldern der Konstruktivismus/Realismus-Debatte schwebt, verzogen hat.




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Nauplios hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 13:44
Konstruktion (im Sinne des operativen Konstruktivismus) meint also, daß Systeme die Realität konstruieren, indem sie die Realität konstruieren.
Man könnte es dann auch Rekonstruktion nennen. Aber wie dem auch sei, wenn die Realität "konstruiert" werden soll, kann es nicht gleichgültig sein, ob die Unterscheidungen, die man trifft, die Unterschiede einfangen, die es gibt.




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Nauplios hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 13:44
Das sehe ich auch so.
Wie wäre es mit einem Beispiel?




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Nauplios
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Di 21. Nov 2023, 14:19

Die Unterschiede, die es gibt, sind Unterschiede, die das System konstruiert.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 14:15
Nauplios hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 13:44
Das sehe ich auch so.
Wie wäre es mit einem Beispiel?
Nauplios hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 13:44
sybok hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 08:47

Ich glaube, dass die Frage, ob es Unterschiede schon gibt oder sie erst mit der Unterscheidung gezogen werden, gar nicht von Bedeutung ist
Das sehe ich auch so. Die Systemtheorie wird meistens auf das Konto "Konstruktivismus" verbucht. Dafür gibt es gute Gründe und man kann auch mit der Unterscheidung Konstruktivismus/Realismus in einem ersten Annäherungsschritt hantieren. Luhmann selbst spricht von einem "operativen Konstruktivismus". Mit diesem Begriff wird die Gesellschaft beschrieben als operativ geschlossenes – aber zugleich kognitiv offenes - Kommunikationssystem, in dem sich "alles, was als Realität erfahren wird, [...] aus dem Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation [ergibt] und nicht aus einem Sichaufdrängen der irgendwie geordnet vorhandenen Außenwelt" (Luhmann; Die Gesellschaft der Gesellschaft; S. 95). Dabei geht es um gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen sozialer Sinnsysteme. Der "operative Konstruktivismus" bestreitet damit jedoch nicht die Existenz einer ontologischen Realität ("Minimalontologie"), die auch empirisch erfahrbar ist ("Es gibt Systeme"). Es handelt sich nicht um eine Erkenntnistheorie im Sinne des "radikalen Konstruktivismus".

Beispiel Zahlen / nicht Zahlen

Mit Zahlen / nicht Zahlen , also mit dem was für Luhmmann ein "systemspezifischer Code" ist , sind soziale Systeme operativ geschlossen , wie zugleich Kognitiv offen.

Wenn ich beispielsweise im Supermarkt für ein Produkt zahle , so stelle eine Anschlussfähigkeit , zu dem Produkt her. Eine Anschlussfähigkeit , die wiederum eine Zahlung an mich , beispielsweise als Arbeitnehmer , an mich voraussetzt . Eine Zahlung , für die erbrachte Leistung für ein Produkt . Von daher ist dieses System "konstruktiv" geschlossen. Deshalb wird nach meine Ansicht Luhmanns Systemtheorie durchaus zu recht meistens auf das Konto "Konstruktivismus" verbucht.
Zuletzt geändert von Timberlake am Di 21. Nov 2023, 14:59, insgesamt 5-mal geändert.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 14:15
Wie wäre es mit einem Beispiel?
Nauplios hat geschrieben :
Di 21. Nov 2023, 14:19
Die Unterschiede, die es gibt, sind Unterschiede, die das System konstruiert.
Zwei Beispiele von Sybok:

Menschen vermuten oft bei Zufall Strukturen
Fehlentscheidungen führen knallhart messbaren Geldverlusten




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