In rebus amoris

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
Antworten
Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Sa 25. Nov 2023, 17:11

Immer noch weiß niemand, was der Sinn des Lebens ist. Doch was man weiß, ist, daß die Frage danach früher oder später eine weitere nach sich zieht, die nach dem Tod und damit auch nach einer möglichen Überwindung des Todes, nach etwas, das über den Tod hinaus Geltung beanspruchen könnte. Die Angebote der Religion dafür haben in der modernen Gesellschaft an Überzeugungskraft verloren. In Verdacht, es im Hinblick auf Sinn und Ewigkeit mit dem Tod aufnehmen zu können, steht jedoch die Liebe; und das nicht erst seit Freud. Eros und Thanatos sind die beiden Gegenpole, die von der attischen Tragödie bis zur Idee der romantischen Liebe auf Augenhöhe um ihre Anwartschaften ringen. Und in der Literaturgeschichte besteht das Heroische der Liebe u.a. darin, daß sie stärker ist als der Tod.

Die moderne Gesellschaft, in der man "Beziehungen" hat, in der die Liebe nicht als Naturgewalt auftritt, sondern als eine dem Menschen innewohnende Kraft ohne rückwärtige mythologische Ursprünge, kann auf eine Fülle von literarischen, philosophischen und ästhetischen Versuchen zurückgreifen, aus denen sich Antworten zu Was-Fragen an die Liebe gewinnen lassen. Was die Liebe ist, scheint geklärt, philosophisch und vielleicht auch schon neurobiologisch. Doch wie funktioniert sie? - Läßt sich die Frage nach dem Wie mit systemtheoretischen Zurüstungen entfalten, ohne Inanspruchnahme ontologischer Fixierungen?




Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 1882
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

Sa 25. Nov 2023, 17:15

Bin ich niemand?




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Sa 25. Nov 2023, 19:05

Quk hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 17:15
Bin ich niemand?
Die Frage impliziert eine Bestimmung dessen, was die Liebe ihrem Wesen nach ist, Quk. Du bist deshalb nicht niemand weil Du offensichtlich jemand bist, der keine Kontaktscheu vor der Was-Frage hat. Was wissen wir über die Liebe, das wir nicht aus Traktaten, aus Romanen, aus Filmen, aus Gedichten, aus Fernsehserien, aus Kunstwerken usw. wissen? - Ontologische Bestimmungen der Liebe sehen sich schnell vor Schwierigkeiten gestellt, wie sie auch Bestimmungs- und Definitionsversuche anderer Entitäten (etwa der Rationalität) haben ...




Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 1882
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

Sa 25. Nov 2023, 21:18

Meine Frage bezieht sich auf das "niemand", Nauplios, was in Deinem Eingangsbeitrag nur im ersten Satz vorkommt, welcher lautet: "Immer noch weiß niemand, was der Sinn des Lebens ist".

Was der Sinn meines Lebens ist, weiß ich inzwischen.

Danach kommst Du auf das Thema der Liebe. Das finde ich sehr interessant. Dazu hätte ich auch viele Gedanken beizutragen, zumal ich mich in letzter Zeit tiefer mit dem Thema "Empathie" beschäftige und wie sie zusammenhängen könnte mit der Tatsache, dass das Leben auf der Erde seit Jahrmillionen durchschnittlich recht gut gedeiht und sich nicht schon längst selbst zerfetzt hat. Aber dieser Faden steht im Luhmann-Bereich, daher wird er wahrscheinlich kein offener Liebesfaden, sondern eher ein philosophiegeschichtlicher Luhmann-Analyse-Faden, und dazu habe ich zu wenig Ahnung.




Timberlake
Beiträge: 1675
Registriert: Mo 16. Mai 2022, 01:29
Wohnort: Shangrila 2.0

So 26. Nov 2023, 01:11

Quk hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 21:18


Danach kommst Du auf das Thema der Liebe. Das finde ich sehr interessant. Dazu hätte ich auch viele Gedanken beizutragen, zumal ich mich in letzter Zeit tiefer mit dem Thema "Empathie" beschäftige und wie sie zusammenhängen könnte mit der Tatsache, dass das Leben auf der Erde seit Jahrmillionen durchschnittlich recht gut gedeiht und sich nicht schon längst selbst zerfetzt hat. Aber dieser Faden steht im Luhmann-Bereich, daher wird er wahrscheinlich kein offener Liebesfaden, sondern eher ein philosophiegeschichtlicher Luhmann-Analyse-Faden, und dazu habe ich zu wenig Ahnung.
Um an dieser Stelle diese Fäden versuchsweise zusammen zu führen ..

Wenn sich nach Luhmann ein System prinzipiell gegen seine Umwelt abgrenzt. (Stichwort: operative Geschlosssenheit) , so könnte ich mir vorstellen , dass Liebe genau das bewirkt. Hass übrigens auch.
Die Tatsache, dass das Leben auf der Erde seit Jahrmillionen durchschnittlich recht gut gedeiht und sich nicht schon längst selbst zerfetzt hat , würde ich auf das zurückführen , was Niklas Luhmann im Hinblick sozialer Systeme "Doppelte Kontingenz" nennt.
Luhmann Wiki hat geschrieben :
Doppelte Kontingenz
  • "In sozialen Systemen trägt jeder Teilnehmer der Tatsache Rechnung, daß andere auch anders handeln können. Jeder kann sein Verhalten also erst festlegen, wenn er weiß, wie andere ihr Verhalten festlegen; aber das Umgekehrte gilt ebenso."
    Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. S. 31
Gehe ich doch einmal aus , das diese Festlegung , obgleich selbige davon ganz sicher nicht wissen , für alle Lebewesen gilt. Während wir in unser Verhalten festgelegt sind , so sind Lebewesen, nach meiner Ansicht , ganz allgemein in ihrer Existenz festgelegt. Beispielsweise über die Nahrung. Warum sollte das ,was für Teilnehmer in sozialen Sytemen gilt , nicht auch ganz allgemein für Teilnehmer in Nahrungs -Systemen gelten?




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

So 26. Nov 2023, 20:12

Quk hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 21:18
Meine Frage bezieht sich auf das "niemand", Nauplios, was in Deinem Eingangsbeitrag nur im ersten Satz vorkommt, welcher lautet: "Immer noch weiß niemand, was der Sinn des Lebens ist".

Was der Sinn meines Lebens ist, weiß ich inzwischen.

Danach kommst Du auf das Thema der Liebe. Das finde ich sehr interessant. Dazu hätte ich auch viele Gedanken beizutragen, zumal ich mich in letzter Zeit tiefer mit dem Thema "Empathie" beschäftige und wie sie zusammenhängen könnte mit der Tatsache, dass das Leben auf der Erde seit Jahrmillionen durchschnittlich recht gut gedeiht und sich nicht schon längst selbst zerfetzt hat. Aber dieser Faden steht im Luhmann-Bereich, daher wird er wahrscheinlich kein offener Liebesfaden, sondern eher ein philosophiegeschichtlicher Luhmann-Analyse-Faden, und dazu habe ich zu wenig Ahnung.
Was ist der Sinn meines Lebens? - Was ist der Sinn Deines Lebens? Man kann solche Fragen individuell beantworten. Dabei kommen dann unterschiedliche Vorstellungen heraus. Der eine möchte eine berufliche Karriere machen, der andere sieht den Sinn seines Lebens darin, mit Frau, Kindern und Enkelkindern sein Leben zu teilen und noch ein anderer sieht den Sinn seines Lebens darin, ein gottgefälliges und asketisches Leben zu führen; er geht ins Kloster.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens philosophisch zu beantworten, ist aber noch was anderes. Denn hier geht es um das Leben in einer sehr viel allgemeineren Bedeutung. Ich kenne keine philosophische Antwort darauf.




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

So 26. Nov 2023, 20:29

Quk hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 21:18

Danach kommst Du auf das Thema der Liebe. Das finde ich sehr interessant. Dazu hätte ich auch viele Gedanken beizutragen, zumal ich mich in letzter Zeit tiefer mit dem Thema "Empathie" beschäftige und wie sie zusammenhängen könnte mit der Tatsache, dass das Leben auf der Erde seit Jahrmillionen durchschnittlich recht gut gedeiht und sich nicht schon längst selbst zerfetzt hat. Aber dieser Faden steht im Luhmann-Bereich, daher wird er wahrscheinlich kein offener Liebesfaden, sondern eher ein philosophiegeschichtlicher Luhmann-Analyse-Faden, und dazu habe ich zu wenig Ahnung.

Auf das Thema Liebe bin ich gekommen, weil ja die Liebe ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ ist und wir im Hauptthread zur Systemtheorie gerade über solche Medien sprechen. Die Liebe lag mir näher als andere symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie beispielsweise Macht oder Geld. Hinzu kommt, daß es dazu (wieder mal) die Mitschrift einer Vorlesung gibt, nicht von Niklas Luhmann, sondern von Peter Fuchs: „Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme“.

Ob es klug war, dies anzustoßen, daran hab´ ich inzwischen selber Zweifel. ;)




sybok
Beiträge: 374
Registriert: Mi 7. Sep 2022, 17:36

So 26. Nov 2023, 21:47

Nauplios hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 20:29
Auf das Thema Liebe bin ich gekommen, weil ja die Liebe ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ ist und wir im Hauptthread zur Systemtheorie gerade über solche Medien sprechen. Die Liebe lag mir näher als andere symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie beispielsweise Macht oder Geld.
Es hiess ja, die Erfahrungswelt der Terminologie der Systemtheorie komme aus Biologie, Spieltheorie, Informationstheorie, etc. "Ein 'Ja' in der Kommunikation wahrscheinlicher machen" klingt ja sehr stark nach einem Selektionskriterium. Man könnte also die Entwicklung dieser symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wohl als evolutionärer Vorgang verstehen. Ich frage mich, wie man dann die Entwicklungsgeschichte der Intimsysteme schreiben würde. Also warum diese Art der Kommunikation um Liebe dann selektiert wurde. Die Themen Reproduktion und Bedürfnisbefriedigung scheinen mir beispielsweise nicht verantwortlich zu sein, da gäbe es doch unkompliziertere Zweige der Kommunikation. Die Themen gingen vielleicht eher unter struktureller Kopplung? Andererseits, eine total zufällige Entwicklung kann es ja auch nicht sein, dafür steht "Liebe" zu offenkundig im Zusammenhang mit der Biologie.

Ich frage mich, wie frei man eigentlich bei der Wahl von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ist. Warum bei "Liebe" beispielsweise nicht ein abgeschwächtes "Freundschaft"? Wie erkennt man das System und das Medium? Ich würde vermuten, dass die Freiheiten sehr gross sind, die Fragestellungen und solche Dinge eine Rolle spielen. Aber müsste es nicht irgendwelche Evaluierungskriterien geben?




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Mo 27. Nov 2023, 13:26

sybok hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 21:47

Es hiess ja, die Erfahrungswelt der Terminologie der Systemtheorie komme aus Biologie, Spieltheorie, Informationstheorie, etc. "Ein 'Ja' in der Kommunikation wahrscheinlicher machen" klingt ja sehr stark nach einem Selektionskriterium. Man könnte also die Entwicklung dieser symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wohl als evolutionärer Vorgang verstehen. Ich frage mich, wie man dann die Entwicklungsgeschichte der Intimsysteme schreiben würde.
Man muß vielleicht noch mal betonen, daß es Luhmann nur insofern um die Liebe geht als sie für die Soziologie als soziales Phänomen in den Blick kommt. Individuelle Emotionen mögen daran anteil haben, gehören wohl auch zu den Voraussetzungen der Entstehung von Intimsystemen, doch gilt auch hier: der Mensch, das Individuum, ist draußen. Und es schließt sich erneut die Frage an: Was bleibt dann noch? - Die wenig überraschende Antwort: es bleiben Kommunikationen.

Systemtheoretisch gesehen ist die Liebe kein Gefühl; sie ist die Deutung eines Gefühls, eine Deutung, die ihrerseits auf Kommunikationen beruht, etwa Gespräche, Gerede, Romane, Gedichte, Filme, Fernsehserien, Musicals, philosophische Traktate, Kunstwerke usw. Das Material, das der Soziologie bei der Beschreibung der Liebe zur Verfügung steht, ist nicht das individuelle Gefühl des Soziologen, seine individuelle Lebenserfahrung in Liebesangelegenheiten, ob er als Systemtheoretiker ein guter Liebhaber ist o.ä., sondern es sind die Kulturerzeugnisse der Deutung der Liebe. Luhmann spricht auch von Liebessemantik. Es gibt keine geheimen oder besonderen Quellen, die ihm zur Verfügung stehen; seine Quellen sind im Wesentlichen Massenmedien, in denen Liebe gedeutet wird und in denen darüber kommuniziert wird. Für den Systemtheoretiker ist Liebe kein Gefühl, sondern ein Code für Intimität.

Dieser Code läßt sich als Evolution der Liebessemantik natürlich beobachten. Man stößt dann etwa auf das Phänomen, daß die Liebessemantik (nicht die Liebe) des Hochmittelalters darauf abstellt, daß die Geliebte für den Liebenden unerreichbar oder vergeben ist (Dante und Beatrice, Petrarca und Laura) oder es erst nach dem Tod zu einer Liebesbeziehung kommt usw. Damit wurde semantisch etwas vorbereitet, was vor allem in Frankreich des 17. Jahrhunderts zur literarischen Entfaltung kommt: die Liebe wird zu etwas, woran man leidet, sie ist Passion. Sie erfährt erst durch Passion ihre Legitimität; echte Liebe läßt sich von unechter Liebe dadurch, daß der Liebende an der Liebe leidet. In modernen Gesellschaften wird diese Semantik auf Zufall umgestellt: die erste Begegnung muß zufällig sein. Nur in geringem Maße darf man diesem Zufall auf die Sprünge helfen: corriger la fortune. Zu meiner Zeit galt es noch als unecht, wenn sich die Partner über ein Eheberatungsinstitut kennenlernten; dann wurde etwas "angebahnt" (von dritter Stelle) und das galt als bedenklich, weil damit nicht genügend Zufall im Spiel war. Heiratsanzeigen galten als zu grobe Eingriffe in die schicksalsbedingten Wege der Liebe. In Zeiten von Tinder & Co ist das natürlich wieder anders.




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Mo 27. Nov 2023, 13:37

1968 hat Luhmann in Bielefeld ein Seminar abgehalten mit dem in feiner Ironie gewählten Titel: "Liebe. Eine Übung". Dementsprechend waren die Erwartungen der Studierenden daran groß. Es geht die Anekdote, daß die Teilnehmerzahl nach der Erklärung Luhmanns, daß es sich um eine soziologische Übung handle, kontinuierlich verringerte.




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Mo 27. Nov 2023, 14:02

sybok hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 21:47

Ich frage mich, wie frei man eigentlich bei der Wahl von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ist. Warum bei "Liebe" beispielsweise nicht ein abgeschwächtes "Freundschaft"? Wie erkennt man das System und das Medium? Ich würde vermuten, dass die Freiheiten sehr gross sind, die Fragestellungen und solche Dinge eine Rolle spielen. Aber müsste es nicht irgendwelche Evaluierungskriterien geben?
Ich denke, daß es solche Evaluierungskriterien gibt, daß man Liebe an der Form ihrer Semantik erkennt und sie dadurch von anderen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Geld oder Macht oder Wahrheit unterscheiden kann.

Sanftes Erröten ist beispielsweise ein Topos der Liebessemantik des 19. Jahrhunderts. Das Intimsystem benötigt dazu einen gesellschaftlichen Kontext, der sicherstellt, daß das Erröten nicht die Folge eines längeren Atemanhaltens ist. Sanft erröten kann sie (denn es geht dabei fast ausschließlich um die Frau) allerdings nur, wenn sie über die Semantik der Liebe hinreichend informiert ist, wenn sie - um es mit einem Begriff der Romantik zu sagen - Ahnung hat. Hat sie keine Ahnung, liegt für's Erröten auch eigentlich kein Grund vor. Das Erröten gehört zum gesellschaftlich goutierten Code der Kommunikation des Intimsystems. Es zeigt ihm, daß sie ihn verstanden hat. Das Erröten kann dann der evolutionary kick der Kommunikation sein, die sich nun stabilisieren muß, d.h. Anschlußkommunikation erzeugen muß. Ahnung bekommen die Frauen mit dem Aufkommen der Liebesromane, was die Gesellschaft zunächst beargwöhnt. Die Frauen sollen gerade so viel wissen, daß es zum Erröten reicht, aber nicht zu mehr. Deshalb werden Damenbibliotheken gegründet, um die Frauen vor zu viel Ahnung zu schützen und zur Eindämmung ihrer Neugier.

Mit der Frühromantik entsteht zudem ein Netzwerk von Korrespondenzen zwischen den Frauen. Der Brief wird zu einem literarischen Genre. Hinzu kommt eine Salonkultur, die hauptsächlich von Frauen gepflegt wird. Bettina von Arnim, Caroline von Humboldt, Caroline Schlegel-Schelling, Rahel Varnhagen von Ense, Karoline von Günderode u.a. gehören zu den prominenten Briefschreiberinnen dieser Zeit. Man kann dann Erfahrungen austauschen und weiß sich damit in Liebesangelegenheiten besser zu helfen.

Sanft erröten heißt auch: Unschuld signalisieren. Wer sich in Sachen Liebe bereits schuldig gemacht hat, errötet nicht so schnell. Das Intimsystem bildet also einen eigenen Code aus, der es gewissermaßen konditioniert (s. die 7. Vorlesung über Konditionierung und Motivation). So hat die Frau nicht die Möglichkeit des ersten Schritts; würde sie ihn dennoch tun, kämen Zweifel an ihrer Reinheit, ihrer Keuschheit, ihrer Unschuld auf. Damit es zum ersten Schritt kommen kann, muß das Intimsystem mit Kontingenz angereichert werden. Sie kann wie gesagt "zufällig" ihr weißes Taschentuch in seinem Gesichtskreis "verlieren", was ihm eine Kommunikationsofferte ermöglicht, oder sie kann stürzen oder auch in Ohnmacht fallen u.ä.

All das bedeutet natürlich nicht, daß die Frauen früherer Jahrhunderte keine Ahnung von den Absichten der Männer hatten. Das Entscheidende sind nur die Codes der Kommunikation, wie das Intimsystem von innen Grenzen gegenüber seiner Umwelt zieht. Um die Semantik der Liebe geht es, nicht um die praktische Kundigkeit der am Liebesgeschehen selbst beteiligten Individuen.

In aller Regel erröten die Frauen heute nicht mehr. Der Code des Verstehens verläuft über Standards wie: "Gehen wir zu mir oder gehen wir zu dir?" Oder: "Möchtest du noch auf einen Kaffee mit reinkommen?" - Frühere Codes wie: "Soll ich Ihnen mal meine Briefmarkensammlung zeigen?" funktionieren nicht mehr und führen günstigstenfalls zu Irritationen.




Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 1882
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

Mo 27. Nov 2023, 14:32

Nauplios hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 13:26
... doch gilt auch hier: der Mensch, das Individuum, ist draußen. Und es schließt sich erneut die Frage an: Was bleibt dann noch? - Die wenig überraschende Antwort: es bleiben Kommunikationen.
Und es kommuniziert nur dasjenige, was draußen ist? Drinnen sind dann nur noch verstaubte Mikrofone und leeres Papier? Das ist doch keine Kommunikation.

Wenn, sagen wir, meine Geliebte auf mir drauf liegt, sodass wir beide zu einem Gemeinsam-Draußen verschmelzen und zwischen uns das luhmannsche "Drinnen" keinen Raum findet, und sie ihre Zunge in meinen Rachen bohrt, dann ist das doch eine recht fruchtbare Kommunikation, dazu noch auf mehreren Sinneskanälen gleichzeitig. Da befindet sich das luhmannsche System doch direkt im gemeinsamen Hautsackbereich dieses menschlichen Duetts. Ich meine, da gibts keine Zwischenräume, um zwischen radikalem Draußen und Drinnen unterscheiden zu können. Und falls diese Zweierbeispiel zu trivial ist, so nehme man einen Dreier -- oder ein Wacken-Publikum aus tausend aneinander reibenden Leibern. Dann möge man mal dieses Publikum evakuieren und auf den zurückgelassenen leeren Platz schauen. Auf dieses "Drinnen". Dort bleiben so wenig Kommunikationen übrig wie Klackgeräusche auf einem Billiardtisch ohne Kugeln.




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Mo 27. Nov 2023, 14:45

Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, daß auf der Seite des binären Codes erheblich mehr "nein" als "ja" ausgewählt wird, zeigt sich am Kommunikationsmedium Liebe sehr deutlich. Gleichwohl ist ja das Anbahnungsmanagement heute breit gefächert, so breit, daß spezielle Probleme bereits wieder aus der Fülle an Möglichkeiten resultieren (etwa bei Fernbeziehungen).

Eine Liebesgeschichte braucht immer Probleme. "Ohne Probleme keine Systeme" - auch keine Intimsysteme. Das können verfeindete Familien sein (Romeo und Julia). Schaut man sich in diesen Tagen das Angebot an Weinachtsfilmen ("Herzkino") an, sind es oft Probleme, die Globalisierungsphänomenen entwachsen: Sie macht beruflich Karriere und muß für ein Jahr nach Amerika. Bleibt das Intimsystem währenddessen stabil? usw. Eine Liebesgeschichte ohne Probleme hat keine Faszinationskraft. Irgendwas muß daneben gehen (sie erkrankt schwer ... er hat seinen früheren Aufenthalt im Gefängnis verschwiegen ... oder schläft mit ihrer besten Freundin und dergleichen). Der Kitsch besteht dann darin, daß alle Probleme gelöst werden - aber eben erst am Ende. Dagegen enden Liebesgeschichten in der Hochliteratur meist tragisch (Werther, Madame Bovary, Effie Briest), aber das will an Weihnachten natürlich niemand sehen.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 7317
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Mo 27. Nov 2023, 14:55

Na ja, weiter im Text steht dann, was bzw. welche Kommunikationen gemeint sind. Welche für die Soziologie gemeint sind.

Diese hier:
Nauplios:
Systemtheoretisch gesehen ist die Liebe kein Gefühl; sie ist die Deutung eines Gefühls, eine Deutung, die ihrerseits auf Kommunikationen beruht, etwa Gespräche, Gerede, Romane, Gedichte, Filme, Fernsehserien, Musicals, philosophische Traktate, Kunstwerke usw. Das Material, das der Soziologie bei der Beschreibung der Liebe zur Verfügung steht, ist nicht das individuelle Gefühl des Soziologen, seine individuelle Lebenserfahrung in Liebesangelegenheiten, ob er als Systemtheoretiker ein guter Liebhaber ist o.ä., sondern es sind die Kulturerzeugnisse der Deutung der Liebe. Luhmann spricht auch von Liebessemantik. Es gibt keine geheimen oder besonderen Quellen, die ihm zur Verfügung stehen; seine Quellen sind im Wesentlichen Massenmedien, in denen Liebe gedeutet wird und in denen darüber kommuniziert wird. Für den Systemtheoretiker ist Liebe kein Gefühl, sondern ein Code für Intimität.
Sofern ich das verstanden habe, wird in der Systemtheorie/Soziologie nur indirekte die Liebe behandelt und zwar die Deutung der Liebe, nicht das Gefühl und dann wieder rum auch nur indirekt über die oben genannten Kommunikationen. Das individuelle Gefühl und die direkte Kommunikation zählen nicht, sondern das, was auf gesellschaftlicher Ebene als "Kollektiv" passiert und kommuniziert wird. Es ist ja eine Gesellschaftstheorie, und es geht darum wie die Gesellschaft kommuniziert. Ansonsten kommt man sonst nicht auf ein System der Gesellschaft. Und nur die o.g. Kommunikationsmittel spiegeln die Gesellschaft wieder.

Was sich so direkt auf der individuellen Ebene abspielt, ist nicht interessant. Sondern das, was gesellschaftlich über diese individuelle Ebene kommuniziert wird.
Mehrere indirekte Kommunikationen sozusagen.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23559
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 27. Nov 2023, 15:23

Körperliche Liebe ist notwendig zu Reproduktion der Gesellschaft. Trotzdem gehört sie nicht zur Gesellschaft :-)




Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Mo 27. Nov 2023, 18:19

Dazu ist mir gestern in einem dicken Lexikon Diotimas Liebesleiter begegnet. Die Geschichte kannte ich noch nicht und fand es spannend, dass Platon von ihr unterwiesen wurde, was Liebe sei.
https://de.wikibrief.org/wiki/Diotima%2 ... er_of_Love



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Mo 27. Nov 2023, 19:55

Quk hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 14:32

Wenn, sagen wir, meine Geliebte auf mir drauf liegt ...
... , dann ist das Intimsystem nicht angeschaltet. ;)

Liebe und Sexualität haben nichts miteinander zu tun. Wir kommen vielleicht später noch darauf, wenn es um "symbiotische Mechanismen" geht.

"Zwar steht es außer Frage, daß die Individuen, die in der Umwelt des Intimsystems sind, bis in die Haarspitzen hinein aufgeladen sein können mit sexueller Begierde, daß die Stimmen heißer werden und die Körper kaum voneinander wegzuhalten sind, aber das Begehren der Individuen und die Körper (...), sind keine Bestandteile des Intimsystems." (Peter Fuchs; Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme; S. 45)

Es ist zu früh, das schon als schlechte Nachricht zu bewerten. ;)




Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Mo 27. Nov 2023, 20:26

Stefanie hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 14:55

Sofern ich das verstanden habe, wird in der Systemtheorie/Soziologie nur indirekt die Liebe behandelt und zwar die Deutung der Liebe, nicht das Gefühl und dann wieder rum auch nur indirekt über die oben genannten Kommunikationen.
Ja, man könnte auch sagen, die Liebe wird in dem Moment zu einem systemtheoretischen Gegenstand, in dem Kommunikationen darüber stattfinden. Es herrscht sicher kein Mangel an Definitions- und Beschreibungsversuchen über das Wesen der Liebe oder über ihren ontologischen Status. Die Literatur, die Musik, die Kunst ... können hier auf eine lange Tradition zurückschauen; Infinitum hatte das Symposion Platons schon angesprochen. Aber was die Liebe ist - weiß man nicht. Was man darüber weiß, weiß man aus der Zeitung. Oder aus Romanen oder Filmen. Und man kann dann darüber nachdenken, ob das, was man dort beobachtet, auf einen zutrifft. Wenn in jungen Jahren ein Mädchen für einen Jungen schwärmt, kommt die Frage auf: Ist das die Liebe? - Die Antwort erfährt man durch Kommunikationen - mit der Großmutter, mit der Freundin, durch die BRAVO, durch Fortsetzungsromane usw. Daß der Umschwärmte ein Popstar, ein Schauspieler, ein Fußballer ... ist, gibt da vielleicht schon einen Hinweis. Zwanzig Jahre später weiß man dann: es war doch nicht Liebe.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 7317
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Mo 27. Nov 2023, 20:41

Ich denke schon, das Grundprinzip verstanden zu haben, ob mir das gefällt, steht auf einem anderen Blatt. Wie üblich.
Mir fehlt grundsätzlich bei der Systemtheorie irgendwie der Erkenntnisgewinn bzw. der Nutzen. Das ist wohl eine Frage für einen der anderen threads, denke ich mal.

Bei den nächsten Beispielen darf dann mal der Junge/Mann von dem Mädchen/Frau schwärmen. : - ))



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Benutzeravatar
Nauplios
Beiträge: 3002
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

Mo 27. Nov 2023, 20:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 15:23
Körperliche Liebe ist notwendig zu Reproduktion der Gesellschaft. Trotzdem gehört sie nicht zur Gesellschaft :-)
Zur Gesellschaft gehört die Beobachtung der körperlichen Liebe durch einen Beobachter zweiter Ordnung. Der kann dann über Sexualität als Moraltheologe sagen, daß sie erst mit der Absicht der Fortpflanzung legitim ist, kann Ehen ohne Trauschein als "wilde Ehen" einordnen; oder der Beobachter ist ein Politiker, der die Ehe für alle fordert oder jemand, der sich daran stört, daß zwei schwule Männer sich in der Öffentlichkeit küssen oder eine Schauspielerin, die über Zudringlichkeiten eines Regisseurs berichtet oder die Leiterin eines Frauenhauses, die über sexualisierte Gewalt berichtet oder ein ehemaliger Meßdiener oder ein Demograph usw

Körperliche Liebe ist notwendig zur Reproduktion der Gesellschaft. Ohne Menschen, die Sexualität praktizieren gäbe es die Gesellschaft nicht. Ohne den das biologische Leben ermöglichenden Abstand von Sonne und Erde gäbe es auch keine Gesellschaft. Ohne ein geeignetes Klima auf der Erde gäbe es ebenfalls keine Gesellschaft. Trotzdem gehört das Klima nicht zur Gesellschaft, wohl aber die Kommunikation über das Klima und über geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung der Erderwärmung u.ä.
Zuletzt geändert von Nauplios am Mo 27. Nov 2023, 20:54, insgesamt 1-mal geändert.




Antworten