In rebus amoris

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Jörn Budesheim
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Fr 1. Dez 2023, 14:09

Stefanie hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 13:40
Mit Luhmann und seiner Systemtheorie hat das nichts tun.
Wenn ich auf YouTube nach Luhmann suche, bekomme ich Dutzende von Beratern angezeigt, die sich auf Luhmann beziehen und teilweise auch Videos posten, die die Systemtheorie erklären. So erging es mir zumindest in den letzten Wochen, als ich nach Videos zum neuen Thema suchte. Ich habe sie mir natürlich nicht im Detail angeschaut.




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Nauplios
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Fr 1. Dez 2023, 18:13

"Ich kann mit meiner Frau über alles reden."

Über alles? - Das Können ist natürlich nicht zu bestreiten, aber ist die Möglichkeit dazu auch die Wirklichkeit? Intimsysteme zehren davon, daß in ihnen gerade nicht über alles kommuniziert werden muß. In dem Interview mit Alexander Kluge berichtet Luhmann einen Fall aus der Familientherapie: Ein junges Paar hat Probleme damit, sich darauf zu verständigen, wann es zum Geschlechtsverkehr kommen soll.

"Also ich möchte es schon, aber willst du es auch?"
"Ich will es auch, aber ich weiß ja nicht, ob du es nur willst, weil ich es will."
"Ich kann es aber nur wollen, wenn ich weiß, daß du es nicht nur willst, weil ich es will."

Die Lösung: immer freitags.

Intimsysteme brauchen Routinen, die sich einspielen und das System von Dauerreflektionen entlasten. In einem bestimmten Maße wird es stabilisiert durch Langeweile. Die ständige Abklärung von Erwartungen und Erwartungserwartungen, die es dann wiederum auf beiden Seiten gibt, ließe das System auf Dauer heißlaufen. Alles müßte dann untereinander ausverhandelt werden. Der therapeutische Ansatz ist im Grunde eine Delegierung von Entscheidungen. Ein Dritter übernimmt die Verantwortung dafür, daß es klappt. Klappt es nicht, liegt es nicht an den Partnern. Man kann den Therapeuten wechseln oder die Methode. Therapien lösen keine Probleme, sie pflegen sie.

Intimsysteme müssen nicht alles kommunizieren. Sehnsüchte nach spezifischen sexuellen Praktiken werden oft in die Umwelt des Systems ausgelagert. Der Klassiker: Prostitution, die kein Intimsystem ist.




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Nauplios
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Fr 1. Dez 2023, 19:15

WIR BEIDE / Rest der Welt

Wird bei dieser Unterscheidung die linke Seite markiert, ist das Intimsystem sozusagen eingeschaltet. Das bedeutet keineswegs, daß es den Rest der Welt überhaupt nicht mehr gibt.

Intime Kommunikation kann über Sprache laufen, über Gesten, über die Augen und auch über das Schweigen. Das Schweigen ist nicht etwa Nicht-Kommunikation. Wenn sie sich im Badezimmer die Haare föhnt und er dazukommt und sich mit der Fernsehzeitung in der Hand auf die Kloschüssel setzt, könnte sie in dem Moment sagen: "Nun warte doch bis ich fertig bin." Sie könnte aber auch wortlos ihren Föhn mit ins Schlafzimmer nehmen und ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ihre Haare dort weiterföhnen. Auch so wird kommuniziert. Eine Bestätigung für diese Kommunikation läge etwa darin, daß er später zu ihr sagt: "Du, das vorhin im Badezimmer, das tut mir leid."

Hier kommt etwas Wichtiges dazu: Kommunikation kommt nicht dadurch zustande, daß sie etwas sagt oder über dieses Etwas schweigt. Kommunikation kommt erst mit dem Verstehen zustande. Hat er zum Beispiel ihr Handeln im Bad überhaupt nicht bemerkt, liegt keine Kommunikation vor. Verstehen heißt auch nicht, daß er sie richtig versteht. Kommunikation ist kein Vorgang, bei dem etwas ausgetauscht wird o.ä. Die Systemtheorie konzeptualisiert den Vorgang der Kommunikation von seinem Ende her. Dabei ist "gelungene" Kommunikation nicht die, bei der alter ego das von ego Gesagte so versteht wie dieser es gemeint hat. Auch das Mißverstehen ist Verstehen.




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Nauplios
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Fr 1. Dez 2023, 20:33

Stefanie hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 13:40

Es sind pädagogische Hilfen und keine soziologischen Hilfen. Mit Luhmann und seiner Systemtheorie hat das nichts tun.

Im Internet tummeln sich diverse Anbieter, mit zum Teil doch seltsamen Vorgehensweisen. Manche verwenden Begriffe wie Kybernetik, manche durchaus die Sprache von Luhmann, verbinden das mit anderen Elementen. Manches geht schon in Richtung Esoterik.
Die gängigen und anerkannten Methoden in der systemischen Beratung/Therapie sind eindeutig pädagogischer Natur und haben nichts mit der Systemtheorie von Luhmann zu tun. Das war die klare Aussage.
Nicht in allem, wo System draufsteht, ist Systemtheorie (à la Luhmann) drin. Das ist schon richtig.

Es gibt andererseits außerhalb der Soziologie eine nicht zu übersehende Bereitschaft, sich auf die Systemtheorie einzulassen. Dies ist nur eine kleine Auswahl:

- "Systemtheorie: Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften" (Frank Becker)

- "Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner" (Jürgen Kriz)

- "Frauen, Männer, Gender Trouble: Systemtheoretische Essays" (Ursula Pasero)

- "Systemtheorie und Sport" (Karl-Heinrich Bette)

- "Systemtheorie der Literatur" (Jürgen Fohrmann)

- "Systemtheorie und Emotionsmanagement als Säulen der Führungsarbeit" (Sabine Lehner)

- "Praxis der Veränderung in Organisationen: Was Systemtheorie, Psychologie und Konstruktivismus zum Verstehen und Handeln in Organisationen beitragen können" (Rainer Wagner)

- "Humor als Kommunikationsmedium" (Jörg Räwel)

- "Soziale Arbeit und Systemtheorien" (Heino Hollstein-Brinkmann)

- "Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft" (Armin Scholl)

- "Systemtheorie und Soziale Arbeit" (Tilly Miller)

- "Systemtheoretische Literaturwissenschaft" (Nils Werber)

- "Systemtheoretische Einführung in die Theologie" (Eberhard Blanke)

- "Systemtheorie und Gender" (Christine Weinbach)

- "Gender Studies und Systemtheorie" (Sabine Kampmann)

- "Systemtheorie und Pädagogik" (Sabine Scheef)

Das ist jetzt nur eine winzig kleine Auswahl an Beispielen, die den Stellenwert der Systemtheorie Luhmanns zeigen.




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Stefanie
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Fr 1. Dez 2023, 22:25

Nauplios, die Systemtheorie hat mit Sicherheit ihren Stellenwert in der Wissenschaft.
In dem Bereich der sozialen Arbeit für den ich arbeite, gelte Soziologen und Sozialwissenschaftler*innen nicht als Fachkräfte. In keinem Tätigkeitsbereich.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Timberlake
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Fr 1. Dez 2023, 22:49

Stefanie hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 22:25
Nauplios, die Systemtheorie hat mit Sicherheit ihren Stellenwert in der Wissenschaft.
In dem Bereich der sozialen Arbeit für den ich arbeite, gelte Soziologen und Sozialwissenschaftler*innen nicht als Fachkräfte. In keinem Tätigkeitsbereich.
.. und was willst du uns damit "kommunizieren". Etwa das Praxis und Theorie zwei Paar Schuhe sind? Jedes Paar sind für sich zwar Schuhe , getragen werden sie jedoch stets getrennt. Es sei denn ...



Aber Spaß beiseite. In dem ich einmal davon ausgehe, dass du für diese soziale Arbeit ausgebildet wurdest, so doch sicherlich auf Grundlage dessen, was zuvor von Soziologen und Sozialwissenschaftler*innen erarbeitet wurde. Für den Fall , dass während dessen Luhmanns Systemtheorie nicht auf den Lehrplan stand , wovon ich übrigens ausgehe, so vermutlich tatsächlich deshalb, weil man dergleichen dafür entbehrlich hielt.

Schade eigentlich . Wenn es hier beispielsweise hieß .. ich zitiere ..
  • "Ich kann mit meiner Frau über alles reden."

    Über alles? -

    "Also ich möchte es schon, aber willst du es auch?"
    "Ich will es auch, aber ich weiß ja nicht, ob du es nur willst, weil ich es will."
    "Ich kann es aber nur wollen, wenn ich weiß, daß du es nicht nur willst, weil ich es will."
.. so könnte man diesen Dialog sicherlich dem Bereich der sozialen Arbeit zuordnen , für den du arbeitest. Auch auf die Gefahr mich zu wiederholen , für den wissenschaftlichen Bereich von Luhmann ist dieser Dialog , zumindest nach meinem Verständnis , ein Paradebeispiel für die Doppelte Kontingenz und somit seiner Systemtheorie. Dieser Dialog stellt als solches eine Schnittstelle , zwischen diesen beiden Bereichen dar.
Zuletzt geändert von Timberlake am Fr 1. Dez 2023, 23:46, insgesamt 9-mal geändert.




sybok
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Fr 1. Dez 2023, 23:25

Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 19:15
Hier kommt etwas Wichtiges dazu: Kommunikation kommt nicht dadurch zustande, daß sie etwas sagt oder über dieses Etwas schweigt. Kommunikation kommt erst mit dem Verstehen zustande. Hat er zum Beispiel ihr Handeln im Bad überhaupt nicht bemerkt, liegt keine Kommunikation vor. Verstehen heißt auch nicht, daß er sie richtig versteht. Kommunikation ist kein Vorgang, bei dem etwas ausgetauscht wird o.ä. Die Systemtheorie konzeptualisiert den Vorgang der Kommunikation von seinem Ende her. Dabei ist "gelungene" Kommunikation nicht die, bei der alter ego das von ego Gesagte so versteht wie dieser es gemeint hat. Auch das Mißverstehen ist Verstehen.
Wenn eigentlich Sinn das Medium ist, durch das Kommunikation den Anschluss bildet und Kommunikation nur stattfindet, wenn es Verstehen gibt, kann man dann alternativ sagen, dass "Verstehen" Formen im Medium Sinn (die bei dem jeweiligen Anschluss der Kommunikation angenommen oder konstruiert werden) darstellen?
Und würde nun Variation, die nach Luhmanns Vorschlag auf der Ebene der Kommunikation greift, demnach hier auf dem Sinn als Medium greifen, oder? Die "Nein"s sollen ja wahrscheinlicher werden, wie würde man die Badezimmer-Szene aus dieser Sicht, also bezüglich Evolution, analysieren? Ich würde das so interpretieren, dass Missverständnisse wahrscheinlicher sind als dass er ihre eigentliche Intention trifft und dies als Variationen "im Sinn" betrachten, etwa wenn er ihr Abgang aus dem Badezimmer als Aggression auffasst, oder in narzisstischer Weise dass ihr Abgang gar nichts mit ihm zu tun hat, oder als Ausdruck eines Charakterzuges den er ihr zuschreibt, etc.
Die Selektion dann als Auswahl aus den potentiellen Abfolgen der jeweiligen Reaktionen, es wird - fast tautologisch - jene Variante selektiert, welche die weitere Kommunikation, die Autopoiesis, sicherstellt. Und schliesslich die Stabilisierung dann, wenn das System überlebt, die Szene nicht zu einem Streit eskaliert auf den hin sie sich trennen und folglich das System dekonstruieren würde .
Kann man das so sehen, oder wie würdest du das darstellen?




Timberlake
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Sa 2. Dez 2023, 00:03

.. wie wäre es denn wenn du dergleichen, zum besseren Verständnis an einem anderem Beispiel aus der Praxis fest machst . Beispielsweise , weil sich selbiger dazu m.E. dazu geradezu anbietet , an dem von Nauplios hier vor kurzem vorgestelltem Dialog .




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Nauplios
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Sa 2. Dez 2023, 17:10

sybok hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 23:25
Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 19:15
Hier kommt etwas Wichtiges dazu: Kommunikation kommt nicht dadurch zustande, daß sie etwas sagt oder über dieses Etwas schweigt. Kommunikation kommt erst mit dem Verstehen zustande. Hat er zum Beispiel ihr Handeln im Bad überhaupt nicht bemerkt, liegt keine Kommunikation vor. Verstehen heißt auch nicht, daß er sie richtig versteht. Kommunikation ist kein Vorgang, bei dem etwas ausgetauscht wird o.ä. Die Systemtheorie konzeptualisiert den Vorgang der Kommunikation von seinem Ende her. Dabei ist "gelungene" Kommunikation nicht die, bei der alter ego das von ego Gesagte so versteht wie dieser es gemeint hat. Auch das Mißverstehen ist Verstehen.
Wenn eigentlich Sinn das Medium ist, durch das Kommunikation den Anschluss bildet und Kommunikation nur stattfindet, wenn es Verstehen gibt, kann man dann alternativ sagen, dass "Verstehen" Formen im Medium Sinn (die bei dem jeweiligen Anschluss der Kommunikation angenommen oder konstruiert werden) darstellen?
Und würde nun Variation, die nach Luhmanns Vorschlag auf der Ebene der Kommunikation greift, demnach hier auf dem Sinn als Medium greifen, oder? Die "Nein"s sollen ja wahrscheinlicher werden, wie würde man die Badezimmer-Szene aus dieser Sicht, also bezüglich Evolution, analysieren? Ich würde das so interpretieren, dass Missverständnisse wahrscheinlicher sind als dass er ihre eigentliche Intention trifft und dies als Variationen "im Sinn" betrachten, etwa wenn er ihr Abgang aus dem Badezimmer als Aggression auffasst, oder in narzisstischer Weise dass ihr Abgang gar nichts mit ihm zu tun hat, oder als Ausdruck eines Charakterzuges den er ihr zuschreibt, etc.
Die Selektion dann als Auswahl aus den potentiellen Abfolgen der jeweiligen Reaktionen, es wird - fast tautologisch - jene Variante selektiert, welche die weitere Kommunikation, die Autopoiesis, sicherstellt. Und schliesslich die Stabilisierung dann, wenn das System überlebt, die Szene nicht zu einem Streit eskaliert auf den hin sie sich trennen und folglich das System dekonstruieren würde .
Kann man das so sehen, oder wie würdest du das darstellen?
"Sinn, Kommunikation, Verstehen, Medium, Form, Evolution, Variation, Selektion, Autopoiesis, Dekonstruktion"

Das ist fast schon die gesamte Systemtheorie in nuce. ;) Also ich muß passen. Diese ineinander verflochtenen Fragen übersteigen meinen Horizont. ;)




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Nauplios
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Sa 2. Dez 2023, 17:25

Stefanie hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 22:25

Nauplios, die Systemtheorie hat mit Sicherheit ihren Stellenwert in der Wissenschaft.
In dem Bereich der sozialen Arbeit für den ich arbeite, gelte Soziologen und Sozialwissenschaftler*innen nicht als Fachkräfte. In keinem Tätigkeitsbereich.
"Fachkräfte" sind sie auch nicht.

Ein Soziologe, der über das System der Pflege schreibt, ist keine Pflegefachkraft. Das ist klar. (Noch viel weniger wären es Philosophen.)

Theorie der modernen Gesellschaft. Das ist das Programm. Es hat über die Grenzen der Soziologie hinaus Interesse geweckt, in der Theologie, in der Philosophie, in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, in der Psychotherapie, in den Erziehungswissenschaften ... Trotzdem mag es Theolog*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Literaturwissenschaftler*innen ... geben, die mit Systemtheorie noch nie in Berührung gekommen sind und den Namen Luhmann nicht kennen; das will ich nicht bestreiten.

Sie müssen oder sollten es auch nicht.




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Nauplios
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Sa 2. Dez 2023, 17:39

Ein Intimsystem ist ein Fall hoher Unwahrscheinlichkeit. "Ich liebe Dich" bedeutet Höchstrelevanz, Exklusivität, Toleranz gegenüber Eigenarten des Partners, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit in der Kommunikation, Deutungskompetenz gegenüber Gesagtem und mehr noch gegenüber dem bloß Angedeuteten oder gar dem Ungesagten usw.

Wer schon mal auf Partnersuche war, weiß, wie unwahrscheinlich Kommunikationen sind, die solche Anforderungen erfüllen und zwar dauerhaft erfüllen, zumindest was die romantische Liebe betrifft. Ohne ein Mindestmaß an Bestand und Kontinuität würden wir nicht von "Lieben" sprechen. Man liebt nicht montags den und dienstags einen anderen (abgesehen vom Karneval)




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Nauplios
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Sa 2. Dez 2023, 18:27

Woher weiß man, daß man jemanden liebt? Damit ist eine mögliche Phase der Unschlüssigkeit, die mit der Frage einhergeht, nicht geleugnet; hier geht es jedoch nur um den für ein Bewußtsein gesicherten Befund.

Stellt man sich einen "Findling" wie Kaspar Hauser vor, der ähnlich wie Freitag in Defoes "Robinson Crusoe", in der Wildnis aufgewachsen ist, ohne soziale Kontakte, d.h. ohne jede Referenz auf Liebe: würde er wissen, was die Semantik der Liebe, das Zwinkern, der Augenaufschlag, das Lächeln, der Flirt, das Sich-an-den-Händen-Halten, das Einritzen von Initialen in Baumstämme, das Herz als Symbol usw zu bedeuten hätte? Würde er all das vor dem Hintergrund seiner kochenden und wallenden Hormone, die es beim Anblick von Menschen anderen (oder gleichen) Geschlechts sicher gäbe, in sein Verstehen einbinden können?

Er würde die Sprache der Blicke, der Gebärden, der Gesten nicht verstehen können. Vielleicht würde es für andere einen Reiz seiner Animalität und Urwüchsigkeit geben, aber die Sozialtechnik des Flirtens, diese Strategien des Halb und Halb, der Liebessymbolik ... all diese Sozialpraktiken würde er erst einüben müssen, um für ein Intimsystem fit zu werden. Und das deshalb, weil es keine Ontologie der Liebe gibt. Was Liebe "ist", wissen wir nur vom Hörensagen, aus Massenmedien wie Büchern, Funk und Fernsehen usw, d.h. aus dem, was an sozialen Beschreibungen für Liebe zur Verfügung steht.




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Sa 2. Dez 2023, 18:43

Die Schwierigkeiten mit Haspar Hauser als Partner in einem Intimsystem wiederholen sich in gewisser Weise, wenn der humanoide Roboter Tom in Ich bin dein Mensch auf romantische Liebe aufgerüstet werden soll, nur daß der Roboter nicht aus der Wildnis kommt, sondern aus dem Labor.

Er kann das soziale Phänomen Liebe immerhin nachahmen, er läßt Alma ein Bad ein, umstellt mit Kerzen, bestreut mit Rosenblüten, reicht ihr ein Glas Sekt ... Ein Thema des Films ist u.a. operative Geschlossenheit! Wie kann Alma herausfinden, daß Toms Liebe aufrichtig ist? - Gar nicht.




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2023, 18:27
...
weil es keine Ontologie der Liebe gibt.
Dieser Satz ist mir ein Rätsel. Vielleicht bedeutet er so viel wie: Es gibt keine Liebe. Aber ich nehme an, das ist nicht gemeint. Also ich verstehe erstens nicht so ganz, was Du damit meinst und zweitens, warum es Dir eigentlich so wichtig ist. Denn es scheint dir wichtig zu sein.

Vielleicht könnte man den Satz übersetzen mit: "Die Liebe hat kein Wesen oder keine Wesensmerkmale?" Dann würde ich zwar immer noch nicht zustimmen, aber ich hätte wenigstens eine Ahnung, was damit gemeint ist.




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Sa 2. Dez 2023, 19:16

Auch der historische Vergleich, den Luhmann in Liebe als Passion unternimmt, zeigt, daß die die Liebe kein ontologisch mit sich identisches Sein hat, dessen Substanz über Jahrhunderte hinweg vom Historiker "dingfest" gemacht werden könnte. Die Konstruktion der romantischen Liebe gibt es erst in der Neuzeit. Im Mittelalter durfte die wahre Liebe nur Gott gelten. (s.a. Abaelard und Heloise) Die romantische Liebe gibt erst seit gut 200 Jahren und das hat vor allem der Umstellung der modernen Gesellschaft auf funktionale Differenzierung zu tun.




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Sa 2. Dez 2023, 19:21

Nauplios hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2023, 18:27
Und das deshalb, weil es keine Ontologie der Liebe gibt.
Ich nehme jetzt mal als Arbeitshypothese an, dass du damit meinst, dass die Liebe keinen Wesenskern hat. Wenn du das meinst, woher weißt du dann, dass die Dinge, die du aufzählst, die Art zu sprechen, mit den Augen zu klimpern etc. pp. einfach nicht zum Wesen der Liebe gehören? Das wäre eine alternative Erklärung, die ebenso nahe liegt, wie kannst du sie ausschließen?




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Sa 2. Dez 2023, 19:26

Nauplios hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2023, 19:16
Auch der historische Vergleich, den Luhmann in Liebe als Passion unternimmt, zeigt, daß die die Liebe kein ontologisch mit sich identisches Sein hat, dessen Substanz über Jahrhunderte hinweg vom Historiker "dingfest" gemacht werden könnte.
Ich verstehe diese Formulierung auch nicht. Ich verstehe unter dem Wort Ontologie offensichtlich etwas komplett anderes als du. Deshalb noch einmal die direkte Frage: Willst du damit sagen, dass die Liebe keine wesentlichen Eigenschaften hat, das es also kein Wesen der Liebe gibt?

Wenn das so ist, dann reicht allerdings die Tatsache, dass sich die Erscheinungsformen der Liebe wandeln, keineswegs aus, um das zu begründen.




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Sa 2. Dez 2023, 19:48

Wir verstehen nicht nur die Ontologie unterschiedlich. Wir verstehen alles unterschiedlich. Mir ist aus Jahrzehnten kein Fall von Einverständnis bekannt.




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Sa 2. Dez 2023, 19:50

Du verstehst aber meine Frage? Willst du mit diesen Formulierungen sagen, dass die Liebe kein definiertes Wesen hat?




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Sa 2. Dez 2023, 19:53

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