In rebus amoris

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Nauplios
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Di 28. Nov 2023, 21:30

Quk hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 20:13
Ich denke nicht, dass das Verwenden des Wortes "sein" oder "existieren" schon eine ontologische Tätigkeit ... hm ... ist? -- Schon wieder "ist". Ich vermute, auch luhmannsche Fachgespräche sind voll mit "ist"-Wörtern.
Das ist auch so, weil sich das Hilfsverb "sein" - wie auch andere Hilfsverben wie "werden" oder "haben" im Deutschen nicht vermeiden lassen. Aber die Verwendung von Hilfsverben und ihren Formen wie "ist" oder "bist" oder "sind" hat noch nichts mit Ontologie zu tun. Wenn Klaus sagt "Ich bin der Klaus" oder "Die Suppe ist kalt", betreibt er damit noch keine Ontologie. Wenn man den Infinitiv "sein" substantiviert oder von Existenz spricht oder vom Dasein u.ä. ist das schon etwas anderes. Wenn es Menschen "geben" muß, wenn sie vorhanden sein müssen ... ist das schon was anderes. Aber das ist nicht deswegen ontologisch, weil es "vorhanden sein" muß, sondern weil es "vorhanden sein" muß. In der Vorhandenheit, in der Existenz, im Dasein (Heidegger) ... steckt das ontologische Moment, nicht in der Verwendung von Hilfsverben.

Auch Luhmann kommt nicht ohne eine "Minimalontologie" aus; auch er spricht ja davon, daß es Systeme "gibt" (das hatten wir an anderer Stelle bereits besprochen). Aber Luhmann geht es nicht um das Sein dieser Systeme, sondern darum wie sie funktionieren, welche Referenzen sie ausbilden, wie sie Komplexität aufbauen, wie sie beobachten usw.




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Quk
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Di 28. Nov 2023, 21:36

Ich hätte auch schreiben können: Welche Mindestanzahl an Wesen erfordert eine Gesellschaftsbildung? Wie auch immer, die Zahl ist abstrakt. Warum also der Frage ausweichen?
Zuletzt geändert von Quk am Di 28. Nov 2023, 21:39, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Di 28. Nov 2023, 21:36

Nauplios hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 21:30
Aber Luhmann geht es nicht um das Sein dieser Systeme, sondern darum wie sie funktionieren, welche Referenzen sie ausbilden, wie sie Komplexität aufbauen, wie sie beobachten usw.
Das verstehe ich nicht. Das Sein dieser Systeme besteht doch gerade darin, dass sie irgendeine Art und Weise funktionieren, eine Funktion inne haben, Referenzen ausbilden, Komplexität aufbauen beobachten etc.




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Jörn Budesheim
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Mi 29. Nov 2023, 08:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 20:53
https://youtu.be/l4WWpVxhC3I?si=K-yUkBJCNOg6j4n5

Niklas Luhmann im Gespräch mit Alexander Kluge über Liebe als Passion. ...
Das Interview ist insofern interessant, weil es an keiner Stelle von Liebe handelt. Das, was dort beschrieben wird, könnte genauso gut auf eine zufällige Zweckgemeinschaft ohne jede Liebe zutreffen. Oder auf Ehepaare, bei denen die Liebe längst abhanden gekommen ist und die bloß aus Gewohnheit oder Angst vor dem Alleinsein zusammenbleiben.




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Quk
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Mi 29. Nov 2023, 11:08

Mir ist aufgefallen, lieber Nauplios, dass Du luhmannkritische Argumente gerne rhetorisch in den Rahmen der Naivität und der Unaufgeschlossenheit stellst, um sie, so vermute ich, abzuschwächen gegenüber Deiner Argumentation, die meines Erachtens im Wesentlichen nur hinweist auf die große Seitenanzahl der luhmannschen Theorie, die zudem noch nicht fertig sei. Diese Rhetorik, so scheint mir, will die luhmannsche Theorie immun machen gegen Falsifikation. Ich lese, beim Luhmann-Studium wird einem versprochen, ganz Großes lernen zu können, wenn man nur offen genug sei und sich nicht mit Trivialem abgebe. Mir persönlich erscheint das indirekt wie eine Unterstellung, man sei nicht offen genug. Ähnliches verkündet manche Heilsversprecherin, die vom vermeintlich naiven Missionierten verlangt, sich Gott zu öffnen. Und dann passiere ganz Großes.

Du hast behauptet, der Sinn des Lebens wisse niemand. Darauf schrieb ich, dass ich ihn wisse. Bewusst habe ich vom Sinn "meines" Lebens geschrieben, weil ich das nicht verallgemeinern will. Natürlich ist diese Schreibweise nur eine von mehreren Optionen, das Gesagte als eine These zu markieren. Ich hätte es auch so ausdrücken können: "Nach meiner These ist der Sinn des Lebens ..." -- so ist das zwar eine Verallgemeinerung, aber es ist kein Dogma, sondern eine These, die offen zur Falsifikation steht. Jedenfalls hast Du, anstatt um eine Erläuterung meinerseits zu bitten, bereits eine fertige Antwort auf Deine Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie lautet: Niemand weiß ihn. Mein Gegenargument, das Du noch nicht einmal kennst, stellst Du vorab in den Rahmen der naiven Nichtphilosophie (siehe Beitrag 71104).

In ähnlicher Weise berahmst Du meine philosophischen Beiträge zu der Frage, was Liebe sei: Du berahmst sie mit trivialen Sprüchen aus einem Hochzeitsgästebuch. Das ist Unsinn und hat mit meinen Punkten nicht das geringste zu tun.

Nun frage ich mich, woher nimmst Du Deinen alleinigen Anspruch auf die Deutungshoheit? Mir scheint, Du nimmst ihn aus dem, was andere in der Vergangenheit schrieben und dem, was Du persönlich aus diesem vergangenen Schreibgut auserlesen hast. Was ich hier vermisse, sind eigene Gedanken. Auch kritische Gedanken. Ich meine, aus den gegenwärtigen Gedanken wird einmal das Schreibgut der Zukunft, auf welches ein in hundert Jahren lebender Nauplios wieder zurückgreifen kann :-)




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Nauplios
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Mi 29. Nov 2023, 13:07

Stefanie hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 21:18
Nauplios
Die Systemtheorie ist nicht blind gegenüber der empirischen Sozialforschung; sie erhebt allerdings den Anspruch, universale Theorie der Gesellschaft zu sein, deren Funktionsweise offenzulegen. Was die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien angeht, stellt sie beispielsweise Vergleichsmöglichkeiten zwischen Macht, Geld, Liebe ... zur Verfügung. Sie kann die Differenzierungsweise der Gesellschaft beschreiben oder die Weise der Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Der leitende Fragetypus ist dabei in der Regel "Wie ist xy möglich?" oder auch "Welches Problem wird durch xy gelöst?"
Mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sind die von Dir genannten Beispiele gemeint?

Sie beschreibt doch "nur", was sie diesen Medien entnimmt. Es ist keine direkte Kommunikation mit den Mitgliedern der Gesellschaft. Dadurch entsteht doch eine Lücke, ein Loch zwischen den unmittelbaren Äußerungen und den Inhalten dieser Medien. Diese sind zudem bearbeitet und enthalten Wertungen, die je nach Quelle unterschiedlich sind. Das Quellenmaterial ist schon eine Interpretation der Gesellschaft und wird dann noch mal von der Systemtheorie untersucht und interpretiert.
Wie können damit die oben zitierten gestellten Fragen beantwortet werden?
Zum Titel dieses Fadens mittels der Gesamtausgabe der BRAVO, den Verkaufsprospekten von Beate Uhse oder der Gesamtausgabe des Blattes der katholischen Landjugend?
Um die Funktionsweise der Gesellschaft zu beschreiben braucht es aber auch Originalquellen - direkte Äußerungen der Mitglieder einer Gesellschaft- und die von Dir genannten Mittel.
Ansonsten ist die Beschreibung unvollständig und muss zwangsläufig zu ungenaue Ergebnissen z.B zu den Funktionsweise führen.
Ja, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind zum Beispiel Geld, Liebe, Macht, oder Wahrheit. Es sind diejenigen Medien, die sich bedeutenden Funktionssystemen der Gesellschaft zuordnen lassen: Wirtschaft, Intimität, Politik, Wissenschaft. Das sind natürlich nicht sämtliche Funktionssysteme und folglich sind damit auch nicht alle symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien genannt. Weitere wichtige Funktionssysteme sind das Recht, das Erziehungssystem, die Religion usw. (Es gibt diesbezüglich eine auffallende Affinität zu den symbolischen Formen von Ernst Cassirer.)

Diese Medien sind unsichtbar. Sichtbar ist die ihnen korrespondierende Form. Man trifft Geld an in Form von Geldscheinen, Münzen, Kontoauszügen, Pfandbriefen, Sparverträgen, Wertpapieren, Bilanzen usw, aber nicht in seiner Allgemeinheit, was allegorische Figurationen nicht ausschließt. In einem Theaterstück kann der Autor das Geld auftreten lassen; das kann dann ein Schauspieler sein, der einen Klumpen Gold trägt oder ein Anzugmosaik aus Geldscheinen an hat o.ä. - Medien haben eine "lose Kopplung" ihrer Elemente; die Form der Medien hat eine "feste Kopplung".

Ebenso ist Liebe unsichtbar - als Medium in fester Kopplung, sichtbar (oder vielleicht besser beobachtbar) ist sie als Form loser gekoppelter Elemente wie Gesten, Zärtlichkeiten, Küsse, Trauscheinen, Scheidungsurteilen Heiratsanträgen usw.

Auch Macht ist nicht als Medium sichtbar, sondern erst dann, wenn sie Formen annimmt, wenn sie ausgeübt wird in Form von Zwangsmaßnahmen, gleichsam spürbar ist als Knöllchen, als Gerichtsurteil, als Gefängniszelle, als Mäßigungsgebot im Beamtenrecht usw.

"Originalquellen" - gehören durchaus zum "Material", das von der Systemtheorie beobachtet wird. Solche Quellen müssen natürlich eine gewisse Aussagekraft haben. Was der Nachbar, der unfreiwillig Single ist, weil sich keine Frau für ihn interessiert, über Liebe und Intimität sagt, hat weniger Aussagekraft als eine sozialpsychologische Studie über Denk- und Verhaltensweisen von Incels und deren Frauenbildern. - Also die Systemtheorie nutzt schon Originalquellen, sie beobachtet allerdings die Gesellschaft indem sie die Beobachtungen der Gesellschaft beobachtet (Beobachtung zweiter Ordnung).




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Nauplios
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Mi 29. Nov 2023, 14:21

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 21:36

Das verstehe ich nicht. Das Sein dieser Systeme besteht doch gerade darin, dass sie irgendeine Art und Weise funktionieren, eine Funktion inne haben, Referenzen ausbilden, Komplexität aufbauen beobachten etc.
"Als Ontologie wollen wir das Resultat einer Beobachtungsweise bezeichnen, die von der Unterscheidung Sein/Nichtsein ausgeht und alle anderen Unterscheidungen dieser Unterscheidung nachordnet." (Niklas Luhmann; Die Gesellschaft der Gesellschaft; S. 895)

In der klassischen Ontologie ist die Bezeichnung für unveränderlich Seiendes Substanz. Aristoteles unterscheidet Substanz und Akzidens. Von der ousia, also dem was ein Seiendes in seinem Sein ausmacht, unterscheidet er die Akzidentien. Das sind Zufälligkeiten wie Zeit- und Ortsbestimmungen, Quantität, Relation u.a. - Die ousia ist dagegen das Unveränderliche, das unter diesen Akzidentien liegende Substrat, dem die Zufälligkeiten zwar anhaften, aber die nicht zu seinem Wesen gehören. In der Ontologie hat diese Unterscheidung von Substanz/Akzidens Nachfolgeunterscheidungen generiert, zum Beispiel die von Subjekt und Objekt. Das subiectum ist auch das Zugrundeliegende, das hypokéimenon. Nimmt man alle Akzidentien fort, bleibt die Substanz als das dann noch Vorhandene, als Seiendes übrig.

"Autopoietische Systeme sind substanzfreie Ortlosigkeiten, sie sind in gewisser Weise fungierende U-Topien, die weder Gewicht noch irgendein Maß und deshalb auch keinen Inhalt haben. Sie lassen sich nicht ohne Informationsverlust als Objekt oder Subjekt begreifen, als ‚Gegen- Ständigkeit‘ und ‚Zu-Grunde-Liegendes‘ oder gar als ‚zu Grunde liegende Gegen-Ständigkeit‘. Sie entziehen sich dem Seins-Schema. Selbst die Innen/Außen-Unterscheidung ist problematisch, insofern mit ihr Raum gedacht ist, in dem etwas stecken kann und anderes nicht. Man könnte allenfalls von einer Minimalontologie sprechen, die darin besteht, dass der Ausdruck ‚System‘ Ausdruck einer Beobachtung ist, die man sich kaum anders denn als wirkliche Operation eines wirklichen Systems vorstellen kann." (Peter Fuchs)

Autopoietische Systeme "entziehen sich dem Seinsschema". Oder wie Luhmann schreibt:

"Es ist eine Selbstillusionierung sinnkonstituierender Systeme, wenn sie meinen, zeitüberdauernde Identitäten habe es immer schon gegeben und werde es weiterhin geben, und man könne sich daher auf sie wie auf Vorhandenes beziehen. Alle Orientierung ist Konstruktion, ist von Moment zu Moment reaktualisierte Unterscheidung."

Die Minimalontologie der Systemtheorie ("Es gibt Systeme") besteht nicht darin, daß diese Systeme eine Substanz, ein Substrat, eine ousia darstellen, die man ding-fest machen könnte, sondern darin, daß Unterscheidungen von Sein/Nichtsein oder Subjekt/Objekt Produkte von Systemoperationen sind. Die so operierenden Systeme "gibt es" und die Systemtheorie kann auch Beschreibungen ihrer Funktionsweise anfertigen, aber dennoch handelt es sich um "substanzfreie Ortlosigkeiten" (Peter Fuchs)

Zur Thematik von Substanz und Funktion s.a. Ernst Cassirer; Substanzbegriff und Funktionsbegriff.




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Quk
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Mi 29. Nov 2023, 15:01

Ist des Luhmanns Theorie die Beschreibung einer Art Naturgesetz? Naturgesetze sind ja auch substanzlos, unzeitlich, unontologisch. Man kann sie allerdings auf Substanzen anwenden und für Vorhersagen verwenden. Diesbezüglich sind Naturgesetze hilfreich und faszinierend. Worin besteht die Befriedigung beim Ausarbeiten eines Gesellschafts-Naturgesetzes, das auf eine substanzielle Gesellschafts-Praxis nicht anwendbar ist? Ist allein die Vorstellung befriedigend, dass es ein ewiges Naturgesetz der Gesellschaft gibt? Gibt diese Vorstellung der zeitfreien Substanzlosigkeit einen gewissen Halt? Liegt darin der "Liebreiz"?




sybok
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Mi 29. Nov 2023, 15:04

Nauplios hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 13:07
Diese Medien sind unsichtbar. Sichtbar ist die ihnen korrespondierende Form. Man trifft Geld an in Form von Geldscheinen, Münzen, Kontoauszügen, Pfandbriefen, Sparverträgen, Wertpapieren, Bilanzen usw, aber nicht in seiner Allgemeinheit, was allegorische Figurationen nicht ausschließt.
Macht perfekt sinn, aber trotzdem eine Nachfrage dazu: Das dürften eigentlich auch nur Formen sein, wenn sozusagen etwas damit passiert, oder? Ich müsste es ja, soweit mein Verständnis, schon in irgend einer Weise als Kommunikation auffassen können? Oder würde man vielleicht bei einem herumliegenden, nichtstuenden Geldschein "Kommunikation" entsprechend weit auffassen ("Kommunikation über die Zeit" oder sowas)?




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Jörn Budesheim
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Mi 29. Nov 2023, 15:15

In der Ontologie geht es um zwei Fragen, die aber zusammenhängen. Was heißt es, dass etwas existiert und was existiert? Es geht also um den richtigen Begriff der Existenz und um das, was darunter fällt, was es also wirklich gibt. Die Ontologie ist natürlich keineswegs auf dem Begriff der Substanz festgelegt. Deswegen gibt es auch so etwas wie eine Sozialontologie, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Tatsachen unter den Begriff des Sozialen fallen.




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Nauplios
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Mi 29. Nov 2023, 15:18

"In der Moderne können wir schließlich nicht mehr sagen, was Liebe ist. Wir sind unfähig, die Identität der Liebe ohne Differenz (...) zu denken, als eine Substanz mit Akzidentien, als etwas, das sich klassifizieren läßt, nicht einmal als etwas, das als abgegrenztes Phänomen in einer Welt von Phänomenen vorkommt." (Peter Fuchs; Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme; S. 13)

Was für den Ansatz der Systemtheorie in Gänze gilt, ihre "De-Ontologisierung", wird von Fuchs gleich in der ersten Vorlesung ins Licht gerückt. Es gibt von Peter Fuchs eine umfangreiche Abhandlung mit dem Titel: "Das System SELBST. Eine Studie zur Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: 'Ich liebe dich!'?" - Kann man überhaupt von einem "jemand" sprechen, der liebt?

Wer liebt da überhaupt? - "Wir stellen uns dann Menschen vor, die sich im Zustand der Liebe befinden, die verzaubert sind, die zu lächelnden Telephonen rennen, sinnlose Zeichen in Bäume ritzen, sich an den Händen halten, Menschen, die in ein unprofessionelles Kopfsausen geraten sind, das sie wenigstens befristet zu nichts mehr tauglich macht." (Peter Fuchs; Liebe, Sex und solche Sachen; S. 14)

Ich kenne die oben genannte Studie zwar nicht, aber mir schwant Übles: nicht ein "Jemand", sondern das System liebt. :lol:




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Quk
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Mi 29. Nov 2023, 15:27

Genau. Der Sachverhalt bleibt der selbe, es werden nur die Begriffszuweisungen verschoben. Aus Jemand wird System. Aus System wird Jemand. Ich nenne das einen erkenntnislosen Eiertanz :-)




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Jörn Budesheim
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Mi 29. Nov 2023, 16:47

Sind es wirklich dieselben Sachverhalte nur mit unterschiedlichen Etiketten?
Georg Kneer, Armin Nassehi, Luhmanns Theorie sozialer Systeme hat geschrieben : ... "Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren."

Was bedeutet es, um mit der letzten Aussage zu beginnen, wenn gesagt wird, daß nur die Kommunikation, aber nicht der Mensch kommunizieren kann? Um diesen Satz zu verstehen, müssen wir den Begriff Mensch etwas näher erläutern. Der Begriff Mensch ist, exakt formuliert, kein systemtheoretischer Begriff. Die Systemtheorie geht von der Unterscheidung von System und Umwelt aus. Wenn man sich auf diese Prämisse - zumindest versuchsweise - einläßt, dann ist alles, was man beobachtet, entweder System (bzw. Teil des Systems) oder Umwelt (bzw. Teil der Umwelt). Der Mensch ist in diesem Sinne kein System, sondern er besteht aus mehreren, getrennt operierenden Systemen. Es wäre also falsch, den Menschen etwa auf sein organisches System oder sein psychisches System zu beschränken. Der Mensch ist nicht nur Leben, nicht nur Denken, er ist mehr- und dieses mehr schließt es aus, daß der Mensch ein System ist. Wir finden am Menschen eine Vielzahl von eigenständigen Systemen - etwa das organische System, das Immunsystem, das neurophysiologische System und das psychische System -, die vollkommen überschneidungsfrei operieren. In dieser Weise haben wir das menschliche Bewußtsein als ein geschlossenes, autopoieti- sches System begriffen, in dessen Umwelt sich das Gehirn und somit alle weiteren Systeme des Menschen befinden. Am Menschen gibt es somit unterschiedliche Prozesse, aber es gibt keine diese verschiedenartigen Systeme übergreifende autopoietische Einheit. Wenn im folgenden der Ausdruck Mensch dennoch hin und wieder Verwendung findet, so ist damit nicht ein System Mensch, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Systemen am Menschen gemeint.

Damit kommen wir auf unsere Ausgangsfrage zurück. Inwiefern läßt sich sagen, daß der Mensch nicht kommunizieren kann? Diese These ergibt sich unmittelbar aus der Überlegung, daß die unterschiedlichen Systeme des Menschen selbstreferentiell-geschlossen operieren. Das bedeutet, daß die Systeme keine kommunikativen Beziehungen zu anderen Systemen (eines anderen Menschen) aufnehmen können. So gibt es keinen unmittelbaren Kontakt zwischen zwei Bewußtseinssystemen. Kein Bewußtsein kann mit seinen Operationen an den Gedanken und Vorstellungen eines anderen Bewußtseins anschließen, kein Bewußtsein kann außerhalb seiner Grenzen operieren. Insofern gilt: Das Bewußtsein denkt, es schreitet von Gedanke zu Gedanke fort, aber es kommuniziert nicht mit anderen psychischen Systemen. Selbstverständlich kann das Bewußtsein denken, daß es kommuniziert, aber das bleibt sein eigener Gedanke, bleibt also seine eigene Operation. Insofern gibt es keine bewußte Kommunikation, also keine Kommunikation zwischen zwei psychi- schen Systemen. Was auch immer wir denken, wir können nicht an den Vorstellungen eines anderen Bewußtseinssystems unmittelbar partizipieren, wir können bestenfalls unterstellen, daß das andere Bewußtseinssystem in diesem Moment einen bestimmten Gedanken faßt - aber auch diese Unterstellung ist allein unser eigener Gedanke und somit wiederum eine Operation unseres eigenen Bewußtseinssystemen. Damit wird die zunächst merkwürdig klingende Formulierung verständlich: Der Mensch kommuniziert nicht. Die Geschlossenheit organischer, neuronaler und psychischer Systeme macht einen direkten Kontakt eines Menschen mit einem anderen Menschen unmöglich.

Auf der Ebene organischer, neuronaler und psychischer Prozesse ist Kommunikation ausgeschlossen. Das bedeutet zugleich, daß Kommunikation etwas von diesen Prozessen grundlegend Verschie- denes ist. Kommunikation bildet somit einen eigenständigen und eigendynamischen Prozeß. Eine angemessene Darstellung von Kommunikations-Zusammenhängen setzt also voraus, daß Kommunikation sorgfältig von organischen, neuronalen und psychischen Zuständen unterschieden wird. Damit haben wir im Prinzip bereits den Vorschlag Luhmanns zur Beschreibung von Kommunikationen erfaßt: Kommunikationen sind, so Luhmann, keine Operationen von Organismen, Nervensystemen oder Bewußtseinssystemen, vielmehr kommen sie zustande durch die Konstitution einer neuen Art von Systemen - und zwar von sozialen Systemen. Soziale Systeme sind also autopoetische Systeme, die in einem rekursiven Prozess fortlaufend Kommunikation an Kommunikation anschließen.




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Mi 29. Nov 2023, 17:24

Mit anderen Worten, die Liebe ist für die Systemtheorie ein unerreichbarer Gegenstand, weil sich immer Menschen (und andere Lebewesen) lieben. Die Liebe ist nur aus der Teilnehmerperspektive dieser Wesen beschreibbar und verstehbar. Was die Systemtheorie allenfalls leisten kann, wäre die über die Jahrtausende wechselnde Semantik der Liebesbeziehungen zu analysieren oder darzustellen. Aber diese Semantik ist nicht dasselbe wie die Liebe.




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Stefanie
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Mi 29. Nov 2023, 19:06

Das gilt dann nicht nur für die Liebe, oder? Sondern auch für Hass, Trauer, Freude, schlechte Laune, etc.?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Nauplios hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 17:11
Immer noch weiß niemand, was der Sinn des Lebens ist.
Um zu wissen, dass niemand weiß, was der Sinn des Lebens ist, müsste man alle gegebenen Antworten kennen und sie begründet verwerfen können. Das scheint mir ein schwer zu bewältigendes Unterfangen zu sein :) Nach Susan Wolf liegt der Sinn im Leben darin, etwas zu lieben, das unsere Liebe verdient. Ich kenne diese Position nicht im Detail, aber es scheint mir ein vielversprechender Ansatz zu sein.




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Mi 29. Nov 2023, 19:23

Kein Baby überlebt oder wird ein gesunder Erwachsener, wenn es nicht geliebt wird. Das ist leider empirisch erwiesen. Das war kürzlich ein Thema hier im Forum. Worum geht es dabei? Um die leibliche und seelische Zuwendung eines Menschen zu einem neugeborenen Menschen. Jede theoretische Konzeption von Liebe, die diese Tatsache nicht einbezieht und richtig darstellen kann, muss falsch sein.




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Mi 29. Nov 2023, 19:36

sybok hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 15:04

Macht perfekt sinn, aber trotzdem eine Nachfrage dazu: Das dürften eigentlich auch nur Formen sein, wenn sozusagen etwas damit passiert, oder? Ich müsste es ja, soweit mein Verständnis, schon in irgend einer Weise als Kommunikation auffassen können? Oder würde man vielleicht bei einem herumliegenden, nichtstuenden Geldschein "Kommunikation" entsprechend weit auffassen ("Kommunikation über die Zeit" oder sowas)?
Diese Unterscheidung von Medium und Form dient dazu "die Unterscheidung von Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaften zu ersetzen". (Niklas Luhmann; Die Kunst der Gesellschaft; S. 166) Das dingontologische Konzept wird damit "überflüssig". Die Medium/Form-Unterscheidung nennt Fuchs auch ein "komplett de-ontologisierendes Schema". (Peter Fuchs; Der Sinn der Beobachtung; S. 25)

Man könnte es auch so sagen, daß die lose Kopplung des Mediums die feste Kopplung der Form benötigt, damit "etwas passiert", wenn Geld ausgegeben oder eingetrieben oder überwiesen wird usw, wenn Macht ausgeübt wird, die Wahrheit behauptet wird, die Liebe zum Ausdruck gebracht wird. Wenn nichts passiert, passiert nichts. ;)




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Mi 29. Nov 2023, 19:49

Dieses Medienkonzept ist eines aus einer funktionalistischen Perspektive, d.h. es folgt der Frage "Welches Problem wird damit gelöst?" bzw. "Was wird durch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium wahrscheinlicher?" - In Soziale Systeme beschreibt Luhmann diese funktionalistische Perspektive so: Es geht dabei darum, "Theorien zu suchen, denen es gelingt, Normales für unwahrscheinlich zu erklären." (Soziale Systeme; S. 162)




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Mi 29. Nov 2023, 20:23

infinitum hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 18:19
Dazu ist mir gestern in einem dicken Lexikon Diotimas Liebesleiter begegnet. Die Geschichte kannte ich noch nicht und fand es spannend, dass Platon von ihr unterwiesen wurde, was Liebe sei.
https://de.wikibrief.org/wiki/Diotima%2 ... er_of_Love
Dieses platonische Symposion haben Andrea und ich mal in einem anderen Forum zur Diskussion gestellt, aber auch nur mit mäßigem Erfolg, weil dieser Dialog literarisch-erzählend ist und vermeintlich zu wenig sozialen Gegenwartsbezug hat. Dabei geht es darum, daß die Teilnehmer Lobreden auf den Eros halten sollen - im Uhrzeigersinn:

"So müssen auch wir zuerst den Eros preisen, wie er beschaffen ist, dann seine Gaben."

(οὕτω δὴ τὸν ἔρωτα καὶ ἡμᾶς δίκαιον ἐπαινέσαι πρῶτον αὐτόν, οἷός ἐστιν, ἔπειτα τὰς δόσεις.)

Die Unterweisung in die Liebe übernimmt dann eine blinde Seherin. Sie ist nicht Seherin, obwohl sie blind ist, sondern weil sie blind ist. Die Bedingungen der Möglichkeit ihres Sehens sind die Bedingungen der Möglichkeit ihres Nicht-Sehens. Mehr sag' ich jetzt mal dazu nicht. ;)




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