In rebus amoris

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
1+1=3
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Mi 29. Nov 2023, 20:58

Nauplios hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 21:30
Auch Luhmann kommt nicht ohne eine "Minimalontologie" aus; auch er spricht ja davon, daß es Systeme "gibt" (das hatten wir an anderer Stelle bereits besprochen). Aber Luhmann geht es nicht um das Sein dieser Systeme, sondern darum wie sie funktionieren, welche Referenzen sie ausbilden, wie sie Komplexität aufbauen, wie sie beobachten usw.
Im anderen Forum bin ich über das Wort "Funktionseinheiten" gestolpert (m.E. gerade auch als mögliche Alternative zum Systembegriff geeignet). Vielleicht passt es ja auch hier, an dieser "Stelle":

("Funktionseinheiten")
>> Für mich ein schöner Begriff - gerade WEIL er so "klinisch" und abstrakt und allgemein anwendbar ist. Ich bin ja gerade darum ein Fan des "Emergentismus", weil er in gewissen Hinsichten zugleich Einheit und Vielheit zulässt. I.d.R. strukturell hierarchisch aufgebaut. Wo jede Ebene sozusagen ihr "eigenes Recht" hat (z.B. "Eigengesetzlichkeiten" - etwa die Biologie gegenüber der Chemie und "erst recht" der Physik etc.). Ein "Ismus" (der immer ein Reduktionismus bedeutet!) dagegen ist "übergriffig" und tut den kategorial "anders gearteten" o. so "Schichten" Gewalt/"Unrecht" usf. an. Eine solche Schicht ist aus einer (und "insgesamt" allen ...) untergeordneten Schicht(en) aufgebaut [...] und stellt ggf. ihrerseits das "Material" (und "die kausalen Mittel") für eine übergeordnete Schicht dar (wohlgemerkt, ohne dafür ihre eigene "Identität" sowie ihre "Eigenarten & Fähigkeiten" etc. - inkl. "Freiheiten"... - aufgeben zu müssen - ganz im Gegenteil, sind es doch gerade diese "Umstände", die "der Stoff und die Wirk- und Antriebsursachen" der "überformenden" Ebene sind!).
(Gerade nach "unten/innen" und "oben/außen"!) "Offene Systeme (oder Funktionseinheiten usw.)", die letztlich eben nicht "statisch", sondern eben "dynamische", meinetwegen "flüchtige" "Wesenheiten/Entitäten" darstellen (so auch das erwähnte "virtuelle Ich", welches durchaus "wirkmächtig" ist ...). <<

Naturgemäß strukturieren oder organisieren sich Systeme (Plural!) nicht nur hierarchisch ("holarchisch"...), wie oben beschrieben, sondern "gegegnen sich ebenso auf gleicher Höhe" und interagieren ggf. miteinander (wobei, ebenso naturgemäß, das oder die andere/n System/e die [gerade auch funktionale - oder funktionelle?] "Umwelt" "gemessen" an sich selbst darstellen.) Aber all das nur nebenbei, ergänzend sozusagen.
Zuletzt geändert von 1+1=3 am Mi 29. Nov 2023, 21:07, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Mi 29. Nov 2023, 21:03

1+1=3 hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 20:58
Reduktionismus
Das ist eigentlich eine interessante Frage, inwiefern die Systemtheorie nicht selbst ein Reduktionismus ist, weil sie ja die Vielfalt der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf eine Ebene reduziert.




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Mi 29. Nov 2023, 21:10

Ich hätte ein Argument, das "mir auf der Zunge liegt", aber gerade nicht "zu fassen kriege". Ich werde noch darauf zurückkommen ...

Zuerst: Es ist eine Art Formalismus oder "abstraktest-formaler" Umgang mit der "Komplexität der Realität", sozusagen universell anwendbar, dabei die jeweiligen konkreten "Einzelfälle" niemals "unterdrückend", sondern eben zulassend. Oder so. So ungefähr. (Erstmal.)




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Jörn Budesheim
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Mi 29. Nov 2023, 21:18

Kannst du mir das an dem Beispiel mit den Säuglingen, die Liebe brauchen, um zu überleben erläutern?




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Mi 29. Nov 2023, 21:31

Puh, in sowas bin ich nicht gut.

Ein Säugling ist kommt in verschiedenen Hinsichten stark abhängig von dem ihm das Leben "aktiv" ermöglichenden System, primär "Mutter-Kind-Beziehung" zur Welt. (Es muss nicht unbedingt - und auch nicht nur - die Mutter sein. Außerdem ändert sich die Beziehung potenziell mit der Zeit.) Dazu gehören nicht zuletzt auch emotional-psychologische Aspekte. "Liebe"...

(Das ist jetzt ziemlich krude und "krampfig", dazu leider auch "noch" mit biologistischer Schlagseite [vermengt mit etwas "Küchenpsychologie", oder so]. Aber etwa so plus vieler weiterer Aspekte, würde ich sagen.)




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Stefanie
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Mi 29. Nov 2023, 22:25

Ich bin der Meinung, dass eine im Wissenschaftsbetrieb, z.B. an einer Uni, entwickelt Theorie irgendwann zumindest ansatzweise in die Praxis überführt werden sollte. Das kann hier wohl nicht gelingen oder ist sogar nicht gewollt.
Wozu dann die ganze Mühe?
Was macht man mit einer Theorie, die immer in der Theorie stecken bleibt?

Dieses Zitat hier
"Wir stellen uns dann Menschen vor, die sich im Zustand der Liebe befinden, die verzaubert sind, die zu lächelnden Telephonen rennen, sinnlose Zeichen in Bäume ritzen, sich an den Händen halten, Menschen, die in ein unprofessionelles Kopfsausen geraten sind, das sie wenigstens befristet zu nichts mehr tauglich macht." (Peter Fuchs; Liebe, Sex und solche Sachen; S. 14)"
schwankt für mich zwischen Kitsch und ehrlich gesagt, einer gehörigen Portion Respektlosigkeit.

Nauplios, Du hast das ganze sehr anschaulich erklärt und ich konnte dem sehr gut folgen.
Nur, überzeugt hat es mich nicht.



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Timberlake
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Do 30. Nov 2023, 00:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 20:53
https://youtu.be/l4WWpVxhC3I?si=K-yUkBJCNOg6j4n5

Niklas Luhmann im Gespräch mit Alexander Kluge über Liebe als Passion. Alexander Kluge ist natürlich schwer zu ertragen ... aber wenn es der Wahrheitsfindung dient.

Ich konnte das Video leider nicht einbetten, weil der Autor des einbetten verhindert hat.


" .. wenn das jetzt auf der Ebene einer modernen intimen Beziehung und nicht unbedingt auch literarischen konkret vor Augen hatten. Also die ständige Beobachtung zweiter Ordnung. Dabei ist alles was man tut, unter der Annahme oder den Mitbewusstsein tut , was würde sie oder was würde er sagen, wer das sehen oder wie muss ich mich verhalten , … Also der Liebesbeweis ist daneben, dass sich einlassen , auf das was man in den Augen des Anderen ist und das zu wissen. Einfach nur bei sein bis sich zu fügen, war das auch zu wollen und der sein der andere oder die andere erwartet , " ( Niklas Luhmann .. 0:20 min )

Zu diesem Liebesbeweis , des sich Einlassens auf das , was man in den Augen des Anderen ist und das zu wissen ., nur mal zur Ergänzung ...
Timberlake hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 01:11

Um an dieser Stelle diese Fäden versuchsweise zusammen zu führen ..

Wenn sich nach Luhmann ein System prinzipiell gegen seine Umwelt abgrenzt. (Stichwort: operative Geschlosssenheit) , so könnte ich mir vorstellen , dass Liebe genau das bewirkt. Hass übrigens auch.
Die Tatsache, dass das Leben auf der Erde seit Jahrmillionen durchschnittlich recht gut gedeiht und sich nicht schon längst selbst zerfetzt hat , würde ich auf das zurückführen , was Niklas Luhmann im Hinblick sozialer Systeme "Doppelte Kontingenz" nennt.
Luhmann Wiki hat geschrieben :
Doppelte Kontingenz
  • "In sozialen Systemen trägt jeder Teilnehmer der Tatsache Rechnung, daß andere auch anders handeln können. Jeder kann sein Verhalten also erst festlegen, wenn er weiß, wie andere ihr Verhalten festlegen; aber das Umgekehrte gilt ebenso."
    Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. S. 31
Diese "Beobachtung zweiter Ordnung." scheint mir danach seinen Ursprung in Luhmanns "Doppelte Kontingenz" zu haben.

Bemerkenswert fand ich übrigens wie Luhmann wenig später diese "Beobachtung zweiter Ordnung." auf die (Markt -) Wirtschaft anwendet und so ganz nebenbei begründet hat , warum im Gegensatz dazu die "fixierten Preise" des sozialistischen Ostblocks von daher für dieses "Funktionssystems" eine Katastrophe sind. Das mal nur so neben bei.




Timberlake
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Do 30. Nov 2023, 01:48

Quk hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 11:08

. Ich lese, beim Luhmann-Studium wird einem versprochen, ganz Großes lernen zu können, wenn man nur offen genug sei und sich nicht mit Trivialem abgebe. Mir persönlich erscheint das indirekt wie eine Unterstellung, man sei nicht offen genug. Ähnliches verkündet manche Heilsversprecherin, die vom vermeintlich naiven Missionierten verlangt, sich Gott zu öffnen. Und dann passiere ganz Großes.

Ich korrigiere ... ." Ich lese, beim Luhmann-Studium wird einem versprochen, ganz Großes lernen zu können, wenn man nur offen genug sei und sich .. mit Trivialem abgebe. Erst in dem man sich mit Trivialem abgibt, ist man offen genug für ein Luhmann-Studium. So zumindest meine Meinung. Auch wenn meine Beiträge mitunter anders erscheinen. Obgleich verschachtelt , sie gründen sich in der Regel auf Trivialitäten.

Beispiel ..
Luhmann Wiki hat geschrieben :
Doppelte Kontingenz
  • "In sozialen Systemen trägt jeder Teilnehmer der Tatsache Rechnung, daß andere auch anders handeln können. Jeder kann sein Verhalten also erst festlegen, wenn er weiß, wie andere ihr Verhalten festlegen; aber das Umgekehrte gilt ebenso."
    Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. S. 31
Für mich ist jedenfalls dieses Zitat an Trivialität nicht zu überbieten. Für diejenigen , die jenseits dessen ... ich sag mal so .. gerne im Trüben fischen natürlich ein Graus. Gut möglich , dass deshalb , weil man sich eben nicht mit solchen Trivialitäten abgibt, keine Kommunikation dazu zustande kommt. Übrigens dieses Festlegen seines eigenen Verhaltens , unter Berücksichtigung des Verhalten des Anderen , gelingt naturgemäß insbesondere unter dem Vorzeichen der Liebe. Zumindest gehe ich einmal davon aus. Wie ich auch davon ausgehe , dass es auch unter dem Vorzeichen von Hass besonders gut gelingt.




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Eiwa
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Do 30. Nov 2023, 04:20

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 19:10
Nauplios hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 17:11
Immer noch weiß niemand, was der Sinn des Lebens ist.
Um zu wissen, dass niemand weiß, was der Sinn des Lebens ist, müsste man alle gegebenen Antworten kennen und sie begründet verwerfen können. Das scheint mir ein schwer zu bewältigendes Unterfangen zu sein :) Nach Susan Wolf liegt der Sinn im Leben darin, etwas zu lieben, das unsere Liebe verdient. Ich kenne diese Position nicht im Detail, aber es scheint mir ein vielversprechender Ansatz zu sein.
Manchmal ertappe ich mich dabei zu denken, dass die Frage "falsch" gestellt sei.
Oder sie wird so beantwortet, dass die Frage aus ihrem Ursprung herausgerissen wird und man eine Definition davon bekommt, was der Sinn im Leben der antwortenden Person ist (Eine Falle, in der ich auch nur zu gerne hineintappe) - aber die Frage lautet eben nicht: "Was ist der Sinn in deinem Leben?".
Sie ist viel größer, viel umfassender: "Des Lebens" ... Und dann kann man das auch noch ausweiten, weil ja nicht nur der Mensch lebt.

Im ersten Augenblick fand ich die Aussage, "Der Sinn des Lebens bestünde darin, etwas zu lieben, das unsere Liebe verdient" schön, nur um im nächsten über "etwas" und "verdient" zu stolpern und es weit, weit weg weisen zu wollen.
Schöner fände ich: "Der Sinn des Lebens besteht darin, zu lieben". Das wäre, nach meiner Ansicht, wenn man es denn möchte, ein Ansatz.
Aber Liebe hat so viele Formen...

Diffuse Gedanken... Ich habe oft Fantasien darüber, dass wir nur ein ganz kleines Zahnrädchen in Unmengen von Zahnrädchen sind und das einem vielleicht deswegen der tiefere Sinn des Lebens wie ein glitschiger Fisch entgleitet.

Wenn man den kleinsten Nenner nehmen möchte, könnte man vielleicht sagen, dass der Sinn des Lebens darin besteht, am Kreislauf des Selbigen teilzunehmen. Ich weiß nicht, ob das wirklich Sinn macht.




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Jörn Budesheim
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Do 30. Nov 2023, 07:47

Eiwa hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 04:20
Schöner fände ich: "Der Sinn des Lebens besteht darin, zu lieben". Das wäre, nach meiner Ansicht, wenn man es denn möchte, ein Ansatz.
Aber man kann eben auch schreckliche Dinge lieben, etwa andere zu quälen; weitere Beispiele kann sich jeder selbst ausmalen. Darin kann der Sinn im Leben doch wohl kaum lieben, oder?




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Eiwa
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Do 30. Nov 2023, 09:34

Eiwa hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 04:20
Aber Liebe hat so viele Formen...
... Und nicht jede davon muss "gesund" sein.
Man könnte auch sagen, man liebt es, Spaghetti zu essen oder Kreuzworträtsel zu lösen und damit wäre man dem Sinn des Lebens auch nicht näher gekommen.

Für mich birgt es eine Gefahr, die schrecklichen Dinge mit dem Zusatz "verdient" ausschliessen zu wollen. Vor allem auch im Zwischenmenschlichen Bereich.
Wer entscheidet, was oder wer Liebe verdient?




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Jörn Budesheim
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Eiwa hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 09:34
Für mich birgt es eine Gefahr, die schrecklichen Dinge mit dem Zusatz "verdient" ausschliessen zu wollen.
Ich finde, das ist nicht eine Gefahr, sondern ein sinnvoller Zusatz um die schrecklichen Dinge auszuschließen
Eiwa hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 09:34
Wer entscheidet, was oder wer Liebe verdient?
Dass "andere zu Quälen" keine Liebe verdient, entscheidet eigentlich niemand.




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Eiwa
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Do 30. Nov 2023, 11:03

Es ist schwierig, es genau auf den Punkt zu bringen.
Ich stimme damit überein, dass die Handlung "andere zu quälen" keine Liebe verdient.
Was ist aber mit dem Menschen hinter dieser Handlung? Lässt sich das so simpel beantworten, was er verdient hat oder nicht? Für mich ist das nicht immer in jeden Fall ganz klar eindeutig.
Ich finde es aber auch "hart", so etwas Elementares wie Liebe an Bedingungen zu knüpfen, die "verdienen" mit sich bringen. Leider werden da ja nicht nur die Schrecken ausgeschlossen, es lässt sich auch sehr missbrauchen.

Es ist zwar nur ein Spruch, aber sagt man nicht auch: "Lieb' mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten"?!
Zumindest ich für meinen Teil kann darin schon irgendwas finden...

Ich tue mich einfach schwer mit dem Zusatz "verdienen". Vermutlich, weil es eben viel Potential zum Missbrauch birgt.




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Nauplios
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Do 30. Nov 2023, 11:14

Stefanie hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 22:25

Ich bin der Meinung, dass eine im Wissenschaftsbetrieb, z.B. an einer Uni, entwickelt Theorie irgendwann zumindest ansatzweise in die Praxis überführt werden sollte. Das kann hier wohl nicht gelingen oder ist sogar nicht gewollt.
Wozu dann die ganze Mühe?
Was macht man mit einer Theorie, die immer in der Theorie stecken bleibt?
Man könnte die Formulierung "in die Praxis überführen" im Fall der Systemtheorie sogar dahingehend modifizieren, daß man sagt, daß diese Theorie nicht der Praxis überführt werden kann. Denn die soziologische Idee der Wahrheit besteht "nicht mehr in der (...) Übereinstimmung ihrer Aussagen mit ihrem Gegenstand, sondern in einer Art Formkongruenz" (Niklas Luhmann; "Was ist der Fall?" und "Was steckt dahinter?". Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, in: "Zeitschrift für Soziologie"; 22/4 S. 258) "Man könnte (...), in Analogie zu Kunstformen, sagen, dass die Soziologie die Gesellschaft in der Gesellschaft zu parodieren hätte." (a.a.O.; S. 258)

Eine Parodie zeichnet sich ja dadurch aus, daß sie das Parodierte nicht eins zu eins repräsentiert; es geht ihr nicht um eine genaue Abbildung. Mit der Parodie wird etwas bloßgestellt und das ermöglicht "Formkongruenz", aber nicht "Übereinstimmung" beziehungsweise "Überführung". Salopp gesagt: die Systemtheorie bemißt ihre Tauglichkeit danach, daß sie für die Praxis nicht taugt. :o

Die Systemtheorie ist eine Parodie der Gesellschaft in der Gesellschaft. Luhmann spricht auch von einer "Reflexionsform der Parodie". Dabei ist ja die Parodie von Haus aus eine literarische Form, also eine Form der Ästhetik. Und das legt den Gedanken nahe, ob es eine Affinität, eine Analogie zwischen Kunst und Systemtheorie gibt. Die Theorie wird mit dieser Analogie keineswegs beliebig. Luhmann selbst schreibt:

"Eine heute adäquate Gesellschaftstheorie (ebenso wie eine Theorie der postmodernen Kunst) verlangt, auf den bloßen Genuss des Wiedererkennens zu verzichten und die Theoriekonstruktion aus sich selbst heraus zu beurteilen." (Die Gesellschaft der Gesellschaft; S. 1149) Die Systemtheorie versteht sich als eine "selbsttragende Konstruktion" (Luhmann); sie hat Einschränkungen durch das Wesen ihres Gegenstands nicht nötig. ;) Sie arbeitet mit Verfremdungseffekten, Paradoxien, Tautologien u.ä. Die Parodie muß natürlich "passen"; ihr Programm ist nicht "anything goes". -




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Do 30. Nov 2023, 11:46

In Die Gesellschaft der Gesellschaft heißt es an einer Stelle, an der es um die Verschiebung des Beobachterstandpunktes auf die Ebene zweiter oder dritter Ordnung geht, daß damit die "so ist es Attitüde (...) ersetzt (wird) durch ein Begriffsspiel, das an sich selber Halt findet." (S. 1132)

Inwieweit ein solches "Begriffsspiel" mit der von Deleuze vorgenommenen Definition der Philosophie als Erschaffung von Begriffen und Begriffskaskaden vergleichbar ist, kannst Du besser als ich einschätzen, Infinitum. ;)




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Do 30. Nov 2023, 12:02

Stefanie hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 22:25
Was macht man mit einer Theorie, die immer in der Theorie stecken bleibt?
Wenn man danach googelt, findet man viele systemische Beratungsangebote, die sich an Luhmann orientieren.




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Do 30. Nov 2023, 12:15

Stefanie hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 22:25

Was macht man mit einer Theorie, die immer in der Theorie stecken bleibt?
Man bewundert sie. ;)

In einem seiner letzten Interviews wurde Luhmann nach seinem legendären Zettelkasten gefragt:

Das heißt, was einmal in diesem Zettelkasten als gelesen und verstanden notiert ist, selbst wenn es der größte Irrtum war, bleibt?

Antwort: "Ja, ja".

Wenn man schon bei der Frage ist, was man alles lieben kann, drängt sich da nicht die Frage auf, ob man auch eine soziologische Theorie lieben kann?

Hier kann es nur eine Antwort geben:

Ja, ja. :)




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Do 30. Nov 2023, 12:29

Nauplios hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 11:14
Sie arbeitet mit Verfremdungseffekten, Paradoxien, Tautologien u.ä. Die Parodie muß natürlich "passen"; ihr Programm ist nicht "anything goes". -
"Bis zur Kenntlichkeit entstellt", sozusagen. 😉

("Camp = Die Lüge, die die Wahrheit sagt"...)

https://books.google.de/books?id=7M9fDw ... 22&f=false




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Do 30. Nov 2023, 12:34

Stefanie hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 22:25

Nauplios, Du hast das ganze sehr anschaulich erklärt und ich konnte dem sehr gut folgen.
Nur, überzeugt hat es mich nicht.
Wovon auch, wenn die Paradoxie zur Orthodoxie der modernen Gesellschaft geworden ist? ;)

Von der Forderung Luhmanns nach "gelehrter Poesie" hatten wir an anderer Stelle ja schon gesprochen. Peter Fuchs hat das in Theorie als Lehrgedicht vertieft. Die Systemtheorie ist gleichsam Theorie aus dem Geiste der Poesie.




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Do 30. Nov 2023, 12:56

Nauplios hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 11:14
[D]ie soziologische Idee der Wahrheit besteht "nicht mehr in der (...) Übereinstimmung ihrer Aussagen mit ihrem Gegenstand, sondern in einer Art Formkongruenz" (Niklas Luhmann; "Was ist der Fall?" und "Was steckt dahinter?". Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, in: "Zeitschrift für Soziologie"; 22/4 S. 258) "Man könnte (...), in Analogie zu Kunstformen, sagen, dass die Soziologie die Gesellschaft in der Gesellschaft zu parodieren hätte." (a.a.O.; S. 258) [Hervorhebung von mir]
Kann jemand wie Luhmann im Alleingang definieren, was überhaupt die "soziologische Idee der Wahrheit" ist? Sicher nicht. Oder hat Luhmann die Wahrheit über die Wahrheit gepachtet?

Das "nicht mehr" in dem Zitat hat vielleicht eine große Verführungskraft, man fühlt sich, wenn man mitgeht, als Teil einer Bewegung, die eine überholte Idee hinter sich lässt. Man ist damit, meint man vielleicht, auf der Höhe der Zeit. Aber: Stimmt es, dass Wahrheit nicht mehr in der Übereinstimmung ihrer Aussagen mit ihrem Gegenstand besteht, sondern in einer Art Formkongruenz, oder ist das nur eine Behauptung Luhmanns, die auch falsch sein kann? Kann man das überhaupt kohärent denken? Und ist das wirklich die Höhe der Zeit?

Inzwischen ist nach meiner Leseerfahrung die gängige Auffassung über die Wahrheit die folgende: Eine Ansicht P ist wahr gdw p. Oder anders gesagt: Die Ansicht, dass es Systeme gibt, ist genau dann wahr, wenn es sie gibt. Was Luhmann über Formkongruenz denkt oder nicht, ist irrelevant, finde ich.




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