In rebus amoris

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Do 30. Nov 2023, 13:14

Theorie verhält sich doch beinahe schon notwendig immer "unterkomplex" gegenüber "der Realität" (was immer das sein mag). (So wie Wahrnehmung generell auch ...)




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Stefanie
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Do 30. Nov 2023, 13:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 12:02
Stefanie hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2023, 22:25
Was macht man mit einer Theorie, die immer in der Theorie stecken bleibt?
Wenn man danach googelt, findet man viele systemische Beratungsangebote, die sich an Luhmann orientieren.
Ich gehe entweder 1. Etage höher oder 1. Etage tiefer und muss hoffen, die Kolleg*innen haben Zeit. Gestern zumindest war die erste Reaktion wie folgt: Da musste ich mich im Studium (Sozialpädagogik) mit befassen, wenden wir aber in der Praxis hier nicht an.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Jörn Budesheim
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Do 30. Nov 2023, 13:39

Ich glaube, auf YouTube findet man viele systemische Berater mit entsprechenden Videos.




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Jörn Budesheim
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Do 30. Nov 2023, 13:43

1+1=3 hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 13:14
"Realität" (was immer das sein mag)
Das müsstest du doch am besten wissen, du bist schließlich real :-)




1+1=3
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Do 30. Nov 2023, 14:14

Aber das ist meine Realität, die hat sonst keine/r. 🙃




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Jörn Budesheim
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Mag sein oder nicht sein, es ändert aber nichts daran, dass du zur Realität gehörst.




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Nauplios
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Do 30. Nov 2023, 14:26

Diotima hatte ich gestern kurz erwähnt, die blinde Seherin. Teiresias wäre von derselben Typik. Die Systemtheorie ist im Grunde ähnlich gebaut. Sie läßt etwas sehen, was sich nicht sehen läßt; und das über die Metapher des Systems. In einem Vortrag, den SWR2 1999 übertragen hat, hat Peter Fuchs die Denkfigur des blinden Sehens für die Systemtheorie modifiziert:

"Ich war in diesen Tagen mit meinen jüngsten Töchtern, die Wendy-Leserinnen, also Pferdeliebhaberinnen sind, beim Reiten und hab dort zugeguckt. Und ich sah wie ein Pferd gefüttert wurde, mit Hilfe eines Eimers. Und das Rätsel, das sich mir sofort aufdrängte ist, wie macht das Pferd das, den Eimer zu finden, obwohl es nicht nach unten gucken kann? Die Augen sind ja oben, an den beiden Seiten und dann ist da so ein langes Kinn – ich hoffe, man nennt es Kinn oder Kiefer, und es kann den Eimer nicht sehen. Und darauf hin hab ich die Pferdelehrerin befragt, wie es denn bemerken würde, wo der Eimer sich befindet und wie es damit umgehen kann? Und darauf sagt mir die Pferdelehrerin: Dies seien 'Tasthaare', die dafür verantwortlich seien, Tasthaare unten am Kiefer. Und ich würde sagen, die Metapher des Systems, von Luhmann genial ausgenutzt und eingeführt in dieser Form, ist ein Kompendium von Tasthaaren. Das System sozusagen, dieser Begriff, diese Metapher hat uns geholfen, sehr viel weiter über die alteuropäische Tradition hinauszukommen. Aber wir sehen noch nicht, wohin das führt!"




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Quk
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Do 30. Nov 2023, 14:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 12:56
Nauplios hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 11:14
[D]ie soziologische Idee der Wahrheit besteht "nicht mehr in der (...) Übereinstimmung ihrer Aussagen mit ihrem Gegenstand, sondern in einer Art Formkongruenz" (Niklas Luhmann; "Was ist der Fall?" und "Was steckt dahinter?". Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, in: "Zeitschrift für Soziologie"; 22/4 S. 258) "Man könnte (...), in Analogie zu Kunstformen, sagen, dass die Soziologie die Gesellschaft in der Gesellschaft zu parodieren hätte." (a.a.O.; S. 258) [Hervorhebung von mir]
Kann jemand wie Luhmann im Alleingang definieren, was überhaupt die "soziologische Idee der Wahrheit" ist? Sicher nicht. Oder hat Luhmann die Wahrheit über die Wahrheit gepachtet?

Das "nicht mehr" in dem Zitat hat vielleicht eine große Verführungskraft, man fühlt sich, wenn man mitgeht, als Teil einer Bewegung, die eine überholte Idee hinter sich lässt. Man ist damit, meint man vielleicht, auf der Höhe der Zeit. Aber: Stimmt es, dass Wahrheit nicht mehr in der Übereinstimmung ihrer Aussagen mit ihrem Gegenstand besteht, sondern in einer Art Formkongruenz, oder ist das nur eine Behauptung Luhmanns, die auch falsch sein kann? Kann man das überhaupt kohärent denken? Und ist das wirklich die Höhe der Zeit?

Inzwischen ist nach meiner Leseerfahrung die gängige Auffassung über die Wahrheit die folgende: Eine Ansicht P ist wahr gdw p. Oder anders gesagt: Die Ansicht, dass es Systeme gibt, ist genau dann wahr, wenn es sie gibt. Was Luhmann über Formkongruenz denkt oder nicht, ist irrelevant, finde ich.
Ich hatte und habe exakt die selben Gedanken, Jörn.

Zur "Formkongruenz": Ich meine, lateinische Wörter klingen erhaben. Wie wir wissen, bedeutet "kongruent" auf Deutsch "übereinstimmend". Daraus lese ich, Luhmann ersetzt die Aussage-Gegenstand-Übereinstimmung mit einer Form-Form-Übereinstimmung. Meiner Ansicht nach ist das wieder einmal der gleiche Sachverhalt, nur eben mit verzaubernd verschobenen Begriffszuweisungen. Auch sein Theoriegebäude besteht ja aus nichts anderem als aus Aussagen. Verzaubernderweise wird bei ihm nun Aussage zu Form A, und Gegenstand wird zu Form B. -- "Aussage=Gegenstand" wird zu "A=B". -- Nichts neues. Nur andere Begriffe. Eine der beiden Formen bleibt ja Text, Sprache, Zahl, Symbol. Und die andere Form bleibt der Gegenstand.

Ja, ja.

Was bedeutet "gdw"?




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Jörn Budesheim
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Do 30. Nov 2023, 14:41

Genau dann wenn




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Quk
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Do 30. Nov 2023, 14:46

Achso, klar :-)

P.S.: Man könnte nun einwenden, Form A bestünde nicht aus Aussagen, sondern aus einer abstrakten Idee hinter der Sprache. Gut, das gleiche kann ich aber auch behaupten in dem Satz "dieses Glas ist jetzt voll". Da geht es nicht um die Sprache im Satz, sondern um eine dahinter stehende Idee. Wenn diese Idee übereinstimmt mit dem gemeinten Gegenstand, ist der Satz wahr.




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Do 30. Nov 2023, 15:17

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 14:17
Mag sein oder nicht sein, es ändert aber nichts daran, dass du zur Realität gehörst.
"Subjektiv gewordene Objektivität"? Mit eigenen ("System"-)Gesetzen (unter den Bedingungen allgemeiner, "natürlicher" Gesetzmäßigkeiten)?




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Nauplios
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Do 30. Nov 2023, 15:50

1+1=3 hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 14:14
Aber das ist meine Realität, die hat sonst keine/r. 🙃
Deine Realität ist nicht meine Realität. Das gilt natürlich auch für die Realität des Beobachters der Realität. Christian Morgenstern hat dieses Verhältnis von Beobachtung und Selbstbeobachtung in seinem Gedicht vom blonden Korken in Verse gebracht:

"Ein blonder Korke spiegelt sich
in einem Lacktablett –
allein er sah sich dennoch nich,
selbst wenn er Augen hätt!

Das macht, dieweil er senkrecht steigt
zu seinem Spiegelbild!
Wenn man ihn freilich seitwärts neigt,
zerfällt, was oben gilt.

O Mensch, gesetzt, du spiegelst dich
im, sagen wir, im All!
Und senkrecht! – wärest du dann nich
ganz in demselben Fall?"




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Jörn Budesheim
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Do 30. Nov 2023, 16:16

1+1=3 hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 15:17
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 14:17
Mag sein oder nicht sein, es ändert aber nichts daran, dass du zur Realität gehörst.
"Subjektiv gewordene Objektivität"? Mit eigenen ("System"-)Gesetzen (unter den Bedingungen allgemeiner, "natürlicher" Gesetzmäßigkeiten)?
Warum so kompliziert? Du existierst, was heißt, dass du zur Realität gehörst. Oder willst du das bestreiten?




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Do 30. Nov 2023, 16:37

Hab's doch nicht bestritten. 🙂




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Nauplios
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Do 30. Nov 2023, 16:50

Das Beispiel des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Wahrheit ist eigentlich ganz gut geeignet, das Kommunikationsmedium Liebe in seiner Funktionalität ein wenig mit Kontrast anzureichern. Als Kommunikationsmedium der Wissenschaft, geht es im allgemeinen (Kuhns Paradigmenwechsel mal beiseite gelassen) bei Wahrheit um Bestätigung und Akzeptanz einer Angemessenheit, einer Entsprechung, einer Adäquation zwischen dem was gesagt wird, geschrieben wird (etwa in Form von Hypothesen wie bei Popper) und dem, was in der Welt beobachtet wird. Die "Logik der Forschung" läuft dann über Wiederholbarkeit, Methodik usw. Individuelle Eigenarten spielen hier keine Rolle; sie würden ein "objektives" Ergebnis nur verfälschen. Wer wissenschaftlich Bewiesenes nicht als wahr akzeptiert, muß mit Prestigeverlusten rechnen, mit Nichtbeachtung usw.

Bei der Liebe hingegen spielen genau jene Eigenarten, die bei der Wahrheit ausgeblendet werden, die Hauptrolle. Man liebt einen Menschen um seiner Einzigartigkeit willen, liebt vielleicht sogar gewisse Marotten usw. Das Individuelle, das Besondere, wird nicht neutralisiert. Es spielt mehr oder weniger die Hauptrolle.

Konflikte kann es geben, wenn man sich liebt, aber es dennoch mit Wahrheit zu tun bekommt. Der Systemtheoretiker und erfahrene Ehemann Luhmann gab 1969 den Rat, "etwa bei der Eheschließung gleich auch einen Brockhaus zu kaufen, damit Differenzen, die auf der Ebene der Wahrheit beigelegt werden können, nicht (...) zu Differenzen in der Liebe anschwellen." (Niklas Luhmann; Liebe - eine Übung; S. 20)

Der Brockhaus ist natürlich aus der Mode gekommen. Doch darf erwähnt werden: Luhmanns Ehe mit Ursula hielt bis zu deren Tod 1977. Nichts konnte beide trennen. Sie war Goldschmiedin!




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Do 30. Nov 2023, 17:18

Dann gibt es noch die "asymmetrische" Beziehungen, in denen es um Abhängigkeit und Macht geht und ggf. nur noch aus irgendwelchen rhetorischen Gründen die Rede von Wahrheit ist, aber vor allem eine Waffe neben vielen anderen darstellt (und die Kommunikation eben auf anderen semantischen Ebenen abläuft als auf dem "offiziellen Wortlaut"). Das ist dann auch keine Liebe mehr, sondern nur noch ein Abhängigkeits-/Machtverhältnis. Was aber auch ein "aktiv" selbsterhaltendes System ist, nebenbei gesagt.




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Nauplios
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Do 30. Nov 2023, 19:00

Eiwa hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 04:20

Im ersten Augenblick fand ich die Aussage, "Der Sinn des Lebens bestünde darin, etwas zu lieben, das unsere Liebe verdient" schön, nur um im nächsten über "etwas" und "verdient" zu stolpern und es weit, weit weg weisen zu wollen.
Schöner fände ich: "Der Sinn des Lebens besteht darin, zu lieben". Das wäre, nach meiner Ansicht, wenn man es denn möchte, ein Ansatz.
Aber Liebe hat so viele Formen ...
Über diese Formen der Liebe hat Stendhal eine Sammlung von Essays geschrieben, De l'amour:

Stendhal_L_Amour.jpg
Stendhal_L_Amour.jpg (127.79 KiB) 541 mal betrachtet
Erschienen ist sie 1822 und Stendhal bezeichnete diese Sammlung als "Physiologie der Liebe", weil es genau um diese Formen der Liebe geht, die Du ansprichst. Man muß natürlich bedenken, daß es vor 200 Jahren andere Formen waren, die sozial ausgewiesen waren, als heutige Formen. So gibt es etwa die höfische Liebe, eine Art ritualisierte Liebe, deren Ausdruck an ein reglementiertes Procedere gebunden ist. Das Kommunikationsmedium könnte vielleicht Galanterie sein. Eine andere Form wäre die Liebe aus Leidenschaft, in der nichts standardisiert ist. Oder die Liebe aus Eitelkeit: die Frau verstärkt die Reputation des Mannes (die Gegenrichtung hat Stendhal, der immer aus der Perspektive des Mannes schreibt, nicht in Betracht gezogen). Das ist dann eine Liebe, die sich als amour propre, als Eigenliebe, tarnt und moralisch verwerflich ist. Zur leidenschaftlichen Liebe kann es dennoch kommen in dem Maße wie das Intimsystem scheitert. Dann hat man es mit einer Art Stalking avant la lettre zu tun, einem Bedrängen aus gekränkter Eitelkeit.

Liebe aus Leidenschaft wird dann immer mehr favoriert. Die Leidenschaft entlastet den Liebenden von der Verantwortung für seine Taten. Crime passionell, Verbrechen aus Leidenschaft, ist dann ein juristischer Tatbestand, der milde beurteilt wird usw.




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Do 30. Nov 2023, 19:34

Um in diesem Zusammenhang auch eine zeitgenössische Autorin zu nennen:

Die israelische Soziologin Eva Illouz hat eine Reihe von Studien veröffentlicht, die sich mit dem Gefühl der Liebe beschäftigen:

- "Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus"

- "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004"

- "Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung"

- "Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und 'Shades of Grey'"

- "Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen"

- "Was ist sexuelles Kapital?"

Eva Illouz ist mit renommierten Wissenschaftspreisen geehrt worden, u.a. mit dem "Anneliese-Maier-Forschungspreis".

Allerdings hat sie 2019 die Niklas-Luhmann-Gastprofessur der Fakultät für Soziologie der Uni Bielefeld bekommen. ;)




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Nauplios
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Fr 1. Dez 2023, 12:07

Wie kaum ein anderer Satz ist der Satz "Ich liebe dich" erwartungsbefrachtet, was die bange Erwartung der Ablehnung einschließt. Der Satz hat ein hohes Maß an Selektivität, so daß die Auswahl an möglichen Antworten nicht besonders hoch ist. Man kann mit "ich dich auch" antworten, aber nicht mit "sonntags auch?" - Roland Barthes ist dem Satz "ich liebe dich" und seinem Erwartungshorizont in Fragmente einer Sprache der Liebe nachgegangen. "Ich dich auch" gibt der romantischen Liebe, die sich gerade als Nichtbeachtung ökonomischer oder standesspezifischer Unterschiede versteht, den Charakter des Tausches. Ich sage dir das und im Gegenzug sagst du dann das. Eigentlich müßten die Liebenden den Satz simultan aussprechen, um das Spezifikum des Transfers abzuschwächen. Deswegen werden Verschmelzungsmetaphern im Diskurs der romantischen Liebe favorisiert. Ich bin dein und du bist mein. Usw.

Roland Barthes, der kein Systemtheoretiker war, schreibt: "Die Welt ist eben dies: ein Zwang zum Teilen." (Fragmente einer Sprache der Liebe; S. 161) - Die Welt ist der Störenfried des Intimsystems ("Wir zwei gegen den Rest der Welt"). Sie zwingt dazu, Unterscheidungen zu treffen, auch dort, wo das Unterschiedene nach Einheit verlangt. Der mythologische Prototyp der Einheit ist der Kugelmensch in der Rede des Aristophanes (Platon; Symposion; 189c).

Die Exklusion in der romantischen Liebe zeigt sich systemseitig als Inklusion. Die Pfeile des Eros narkotisieren den Liebenden so, daß der Geliebte als Einheit gedacht wird. Nur den anderen Körper zu lieben, wäre für die romantische Liebe ein Verstoß gegen die erotical correctness. Geliebt wird der Mensch in seiner Ganzheit. Man liebt nicht nur das Bewußtsein des anderen oder seine Intelligenz oder seine Biographie oder sein Gehirn. Deshalb reicht es für eine stabile Liebe nicht aus, nur den Körper des anderen zu lieben. Liebe darf also eines nicht: differenzieren. Sie darf eigentlich nicht mit Unterscheidungen beobachten. Es wird Einheit hergestellt und was darunter nicht verhandelt werden kann, das nicht Liebenswerte, wird damit dann tolerabel: ihr Schnarchen, seine Unzuverlässigkeit, ihr Schuhtick, seine kriminelle Vergangenheit usw.




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Stefanie
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Fr 1. Dez 2023, 13:40

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 30. Nov 2023, 13:39
Ich glaube, auf YouTube findet man viele systemische Berater mit entsprechenden Videos.
Ich habe kein Video geschaut, ich habe gefragt, da bei meinem Arbeitgeber nahezu alle Professionen versammelt sind.
Systemische Beratung oder auch Systemische Therapie ist zum einem kein geschützter Begriff und es gibt keine staatliche Anerkennung für eine Ausbildung in diesem Bereich. Dies bedeutet, es gibt auch keine Vorgaben, was man bei einer systemischen Beratung so alles können muss. Ergo tummeln sich unterschiedliche Anbieter in diesem Bereich.
In der Praxis, vor allem im Bereich der Hilfen für Familien, die oft vom Jugendamt empfohlen werden oder sogar angeordnet werden, bedeutet systemische Beratung folgendes:
Es gibt in einer Familie Probleme, sagen wir Mama, Papa und drei Kinder. Es gibt Probleme mit einem Kind. Die systemische Beratung berät dann, wie der Name sagt, das System Familie und nicht das einzelne Familienmitglied. Man kann sich das wie ein Mobilee vorstellen. Ein Teil, was fragil ist und sich bewegt. Stuppst man ein Teil an, bewegen sich die anderen Teile mit. In der Beratung bzw. Therapie wird nicht aus der Beobachterrolle hinaus die Familie beraten. Die Familie als System, also alle Familienmitglieder bekommen Wege aufgezeigt, wie man ein Problem lösen kann. Welche Verhalten welche Folgen nach sich zieht. Z.B. nimmt man Familienmitglied raus aus dem System, ändert sich die Gewichtung beim Mobilee. Zudem wird ein Platz frei, die Rollenverteilung ändert. Hierbei wird durch Hilfestellungen unterstützt. Es sind pädagogische Hilfen und keine soziologischen Hilfen. Mit Luhmann und seiner Systemtheorie hat das nichts tun.

Im Internet tummeln sich diverse Anbieter, mit zum Teil doch seltsamen Vorgehensweisen. Manche verwenden Begriffe wie Kybernetik, manche durchaus die Sprache von Luhmann, verbinden das mit anderen Elementen. Manches geht schon in Richtung Esoterik.
Die gängigen und anerkannten Methoden in der systemischen Beratung/Therapie sind eindeutig pädagogischer Natur und haben nichts mit der Systemtheorie von Luhmann zu tun. Das war die klare Aussage.
Es ist doch auch logisch. Die Systemtheorie ist eine reine Theorie, eine Theorie die sammelt und beschreibt, aber keine Therapieansätze "erfindet".



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