Ist Kommunikation unwahrscheinlich?

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Jörn Budesheim
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Sa 25. Nov 2023, 19:09

Nach Ansicht von Niklas Luhmann ist Kommunikation unwahrscheinlich, hier ein kurzer Ausschnitt aus einem Lehrbuch:
Margit Berghaus hat geschrieben : 8.1 Kommunikation ist, unwahrscheinlich"

Nach Luhmann ist Kommunikation ,,extrem unwahrscheinlich" (1997, 193; 1981a, 25 f). Nach unserer Alltagserfahrung scheint allerdings die Richtigkeit dieser Aussage unwahrscheinlich. Denn wann immer man beispielsweise in der Bibliothek, im Restaurant, im Zug, beim Spaziergang, am Strand oder am Schreibtisch Ruhe haben will, ist es eher wahrscheinlich, dass menschliches Sprechen ringsum einem dieselbe raubt; überall und permanent wird kommuniziert. Luhmann behauptet trotzdem:
  • "Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl wir sie jeden Tag erleben, praktizieren und ohne sie nicht leben würden. Diese unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit gilt es vorab zu begreifen." (1981a, 26, Hervorhebung durch M.B.)
  • „Sieht man einmal davon ab, dass ein Gesellschaftssystem faktisch bereits existiert und Kommunikation durch Kommunikation reproduziert, ist ein solcher Sachverhalt extrem unwahrscheinlich." (1997, 190)
  • ,,Wie soll jemand auf die Idee kommen, einen anderen, dessen Verhalten ja gefährlich sein kann oder auch komisch, nicht nur schlicht wahrzunehmen, sondern es im Hinblick auf die Unterscheidung von Mitteilung und Information zu beobachten? Wie soll der andere erwarten und sich darauf einstellen können, daß er so beobachtet wird? Und wie soll jemand sich ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und welche?) zu wagen, wenn gerade das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt, sie abzulehnen? Geht man von dem aus, was für die beteiligten psychischen Systeme wahrscheinlich ist, ist also kaum verständlich zu machen, daß es überhaupt zu Kommunikation kommt." (1997, 191)
Um sich die „unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit“ sichtbar zu machen, nehme man einmal für einen Moment eine (falsche) naive Position ein: Danach besteht die Welt ontologisch aus Dingen, Eigenschaften, Informationen, sinnvollen Elementen, Gut und Böse usw. Und man könnte diese vorweg gegliederte Welt beobachten und erkennen. Dazu passt dann die Vorstellung der Informationsübertragung: Man pickt sich eine (unabhängig vom Beobachter) existierende Information heraus und teilt sie jemand anderem mit. Die Selektion und ihre Angemessenheit wird von der Sache nahegelegt und lässt sich im Vergleich mit der realen Realität auf Richtigkeit kontrollieren.

Wie bereits dargelegt, ist dieses,,dingontologische Konzept" falsch (1995a, 166; vergl. auch Kap. 6.3.1). Aber dann haben wir das Unwahrscheinlichkeitsproblem: Wenn die prinzipielle Beliebigkeit von Selektionen nicht von einer vorweg vorhandenen und erkennbaren Ordnung der Sachwelt eingegrenzt ist - wodurch ist sie dann eingrenzbar?,,Wie ist soziale Ordnung möglich?" (1984, 165)

8.2 Selektionen sind, kontingent“ und „doppelt kontingent"

Selektionen sind beliebig, kontingent". Kontingent heißt: Alles ist so ther much anders möglich (1984, 21, auch in gente komponente im Kommunikationsprozess ist für sich völlig kontingent. Die den Anforderungen verdeutlichen, die erfüllt sein müssen, damit sie zustandekommt.
  • Die Unwahrscheinlichkeit einer kommunikativen Operation kann man an Kommunikation ist [...] eine Synthese aus drei Selektionen. Sie besteht aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede dieser Komponenten ist in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis." (1997, 190)
Und da mindestens zwei Instanzen beteiligt sind, „Ego" und „Alter", die jeweils ihre Selektionen darauf abstellen, dass auch die andere Seite seligiert, haben wir es sogar mit „doppelter Kontingenz" zu tun (vergl. das Kapitel „Doppelte Kontingenz" in 1984, 148 ff; vergl. auch 1975b, 171; 1997, 814). Nun könnte man sich vorstellen, dass es dadurch noch zu einer Steigerung der Unwahrscheinlichkeit kommt. Dieses ist aber nicht der Fall, im Gegenteil: Die doppelte Kontingenz überwindet Kontingenz, weil sie einen Problemlösungsprozess in Gang setzt. Das ist folgendermaßen zu erklären: Systeme - psychische und soziale - sind sich gegenseitig als „black boxes" gegeben. Ego und Alter handeln im Verhältnis zueinander und erleben sich gegenseitig, beob- achten sich und sehen sich beobachtet. Dabei sind sie „einander nicht durchsichtig und nicht kalkulierbar", aber unterstellen sich gegenseitige Beeinfluss- barkeit und rechnen sich sinnvolle Einflüsse zu, was Anschlussoperationen provoziert. „Die schwarzen Kästen erzeugen sozusagen Weißheit, wenn sie aufeinandertreffen"; schwarz mal schwarz ergibt nicht schwärzer, sondern weiß (1984, 156; vergl. auch 1995b, 14). Es entsteht ein Zirkel, eine soziale Ord- nung: „Wenn Du tust, was ich will, tue ich, was Du willst." (1997, 336, Anm. 256; vergl. auch 1984, 166). So führt „doppelte Kontingenz zwangsläufig zur Bildung von sozialen Systemen" (1984, 177).
  • „Wenn jeder kontingent handelt, also jeder auch anders handeln kann und jeder dies von sich selbst und den anderen weiß und in Rechnung stellt, ist es zunächst unwahrscheinlich, daß eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit Sinngebung) im Handeln anderer findet; denn die Selbstfestlegung würde vorausset- zen, daß andere sich festlegen, und umgekehrt. Zugleich mit der Unwahrscheinlich- keit sozialer Ordnung erklärt dieses Konzept aber auch die Normalität sozialer Ord- nung; denn unter dieser Bedingung doppelter Kontingenz wird jede Selbstfestlegung, wie immer zufällig entstanden und wie immer kalkuliert, Informations- und Anschlußwert für anderes Handeln gewinnen. Gerade weil ein solches System geschlossenselbstreferentiell gebildet wird, also A durch B bestimmt wird und B durch A, wird jeder Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv." (1984, 165; Hervorhebung durch M.B.)
Quelle: Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht, Böhlau UTB




Timberlake
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Sa 25. Nov 2023, 20:19

Um dazu Niklas Luhmann höchspersönlich zu Wort kommen zu lassen , zitiere ich einmal aus ...Luhmann, Niklas (2001): Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation , Aufsätze und Reden. Stuttgart, 76-93

Luhmann, Niklas (2001) hat geschrieben : Eine Kommunikation des hier angestrebten Typs behauptet also als erstes : Kommunikation ist Unwahrscheinlich .Sie ist unwahrscheinlich , obwohl wir sie jeden Tag erleben praktizieren und ohne sie nicht leben würde. Diese unsichtbar gewordenen Unwahrscheinlichkeit gilt es vorab zu begreifen und dazu bedarf es einer
Bezugnehmend auf den Beitrag zuvor , Luhmann war sich also durchaus bewusst , dass wir jeden Tag Kommunikation erleben, praktizieren und das wir ohne sie nicht leben würden.
Luhmann, Niklas (2001) hat geschrieben : Diese unsichtbar gewordenen Unwahrscheinlichkeit gilt es vorab zu begreifen und dazu bedarf es einer sozusagen contra-phänomenologischen Anstrengung: Diese Aufgabe lässt sich lösen , wenn man Kommunikation nicht als Phänomen , sondern als Problem auffasst.
Das was wir jeden Tag an Kommunikation erleben , sollten wir allerdings nicht als als Phänomen , sondern als Problem auffassen , Als da wären , die folgenden 3

Luhmann, Niklas (2001) hat geschrieben : (1) Als erstes ist unwahrscheinlich , dass einer überhaupt versteht , was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewusstseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden , und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal sein Gedächtnis.
(2) Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen von Empfängern. Es ist unwahrscheinlich , dass eine Kommunikation mehr Personen erreicht , als in einer konkreten Situation anwesend sind. ..
(3) Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs. Selbst wenn eine Kommunikation verstanden wird , ist damit noch nicht gesichert , dass sie auch angenommen wird. ..
Wenn man sich diese hier kommunizierten Probleme als " gesichert annimmt" , so kommt man wohl tatsächlich nicht umhin zu akzeptieren , dass das , was wir jeden Tag an Kommunikation erleben und praktizieren, lediglich eingebildet ist. Oder besser gesagt , wir würden uns demnach nur einbilden , dass eine erfolgreiche Kommmunikation stattgefunden hat. In sofern ich mir übrigens nur selbst sicher sein kann , diesen Beitrag auch verstanden zu haben. Was die Anderen daran verstanden haben , entzieht sich grundsätzlich meiner Erkenntnis , wie sich auch den Anderen grundsätzlich die Erkenntnis entzieht , was ich daran verstanden habe.
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 25. Nov 2023, 20:38, insgesamt 5-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Sa 25. Nov 2023, 20:21

Margit Berghaus hat geschrieben : Um sich die „unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit“ sichtbar zu machen, nehme man einmal für einen Moment eine (falsche) naive Position ein: Danach besteht die Welt ontologisch aus Dingen, Eigenschaften, Informationen, sinnvollen Elementen, Gut und Böse usw. Und man könnte diese vorweg gegliederte Welt beobachten und erkennen. Dazu passt dann die Vorstellung der Informationsübertragung: Man pickt sich eine (unabhängig vom Beobachter) existierende Information heraus und teilt sie jemand anderem mit. Die Selektion und ihre Angemessenheit wird von der Sache nahegelegt und lässt sich im Vergleich mit der realen Realität auf Richtigkeit kontrollieren.

Wie bereits dargelegt, ist dieses,,dingontologische Konzept" falsch (1995a, 166; vergl. auch Kap. 6.3.1). Aber dann haben wir das Unwahrscheinlichkeitsproblem: Wenn die prinzipielle Beliebigkeit von Selektionen nicht von einer vorweg vorhandenen und erkennbaren Ordnung der Sachwelt eingegrenzt ist - wodurch ist sie dann eingrenzbar?,,Wie ist soziale Ordnung möglich?" (1984, 165)
Wenn wir um das Argumentes willen mal annehmen, dass die naive und falsche Position gar nicht naiv und auch nicht falsch wäre, sondern richtig, was würde dann für die Theorie von Luhmann daraus folgen gemäß Margit Berghaus?




Timberlake
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Sa 25. Nov 2023, 20:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 25. Nov 2023, 20:21
Margit Berghaus hat geschrieben : Um sich die „unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit“ sichtbar zu machen, nehme man einmal für einen Moment eine (falsche) naive Position ein: Danach besteht die Welt ontologisch aus Dingen, Eigenschaften, Informationen, sinnvollen Elementen, Gut und Böse usw. Und man könnte diese vorweg gegliederte Welt beobachten und erkennen. Dazu passt dann die Vorstellung der Informationsübertragung: Man pickt sich eine (unabhängig vom Beobachter) existierende Information heraus und teilt sie jemand anderem mit. Die Selektion und ihre Angemessenheit wird von der Sache nahegelegt und lässt sich im Vergleich mit der realen Realität auf Richtigkeit kontrollieren.

Wie bereits dargelegt, ist dieses,,dingontologische Konzept" falsch (1995a, 166; vergl. auch Kap. 6.3.1). Aber dann haben wir das Unwahrscheinlichkeitsproblem: Wenn die prinzipielle Beliebigkeit von Selektionen nicht von einer vorweg vorhandenen und erkennbaren Ordnung der Sachwelt eingegrenzt ist - wodurch ist sie dann eingrenzbar?,,Wie ist soziale Ordnung möglich?" (1984, 165)
Wenn wir um das Argumentes willen mal annehmen, dass die naive und falsche Position gar nicht naiv und auch nicht falsch wäre, sondern richtig, was würde dann für die Theorie von Luhmann daraus folgen gemäß Margit Berghaus?
.. ganz einfach ...
Luhmann, Niklas (2001) hat geschrieben : (1) Als erstes ist unwahrscheinlich , dass einer überhaupt versteht , was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewusstseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden , und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal sein Gedächtnis.
(2) Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen von Empfängern. Es ist unwahrscheinlich , dass eine Kommunikation mehr Personen erreicht , als in einer konkreten Situation anwesend sind. ..
(3) Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs. Selbst wenn eine Kommunikation verstanden wird , ist damit noch nicht gesichert , dass sie auch angenommen wird. ..
.. daraus würde folgen, dass diese Probleme faktisch nicht existieren. Was ich übrigens wiederum für höchst "unwahrscheinlich" halten würde.


Apropos naive oder falsche Position ...
Luhmann, Niklas (2001) hat geschrieben : Aber es gibt auch Gründe der praktischen Orientierung , die sich in einer Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft zunehmend aufdrängen. Man kann nicht länger naiv davon ausgehen, dass auf Basis von »Natur « - sei es physischer , sei es menschlicher Natur – Verbesserungen immer weiter möglich sein werden.




Timberlake
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So 26. Nov 2023, 00:50

Doch kommen wir auf eine Kommunikation zurück , die im wahrsten Sinne des Wortes unwahrscheinlich ist ..
Luhmann, Niklas (2001) hat geschrieben : Man wird Kommunikation unterlassen , wenn Erreichen von Personen , Verständnis und Erfolg, nicht ausreichend als gesichert erscheinen.


.. und zwar zwischen Personen , deren Positionen , von was auch immer , soweit aus einander liegen , dass eine Verständigung unmöglich erscheint. Beispielweise wie die , seiner Zeit zwischen Galileo und der katholischen Kirche. Für Galileo stand bekanntlich die Sonne im Zentrum unseres Planetensystems und für katholischen Kirche die Erde.

Sigmund Freud spricht in diesem Zusammenhang übrigens von den drei großen Kränkungen der Menschheit . Diese „kosmologische Kränkung“ , der „biologischen Kränkung“ , wonach der Mensch von den Tieren abstammt und der „psychologische Kränkung“ bei der man davon ausgeht, dass nicht etwa das Bewusstsein , sondern das Unterbewusstsein Herr im Hause ist.

Während die Positionen der ersten beiden Kränkungen inzwischen soweit wissenschaftlich abgeklärt sind , dass nahezu alle diese Positionen vertreten , so macht eine „Kommunikation – Unterlassung“ eigentlich nur noch bei der Letzten Kränkung einen Sinn. Mittlerweile spricht man übrigens sogar von einer vierten Kränkung. Unter Bezugnahme auf Goethes Zauberlehrling , wäre der Mensch demnach nicht mehr Herr über seine technischen Möglichkeiten ist . Ich würde diese vierte Kränkung allerdings auf die dritte Kränkung zurückführen . Möglicherweise sogar als einen Beweis dafür ansehen.

Wie dem auch sei , wenn man denn nach aktuellen Beispielen sucht , bei der Kommunikation unterlassen wird , weil . so Niklas Luhmann .. „Verständnis und Erfolg, nicht ausreichend als gesichert erscheinen“ dann wird man bei der dritten bzw. vierten Kränkung auf jeden Fall fündig. Schon aus rein " praktischer Orientierung" ..
Luhmann, Niklas (2001) hat geschrieben : Aber es gibt auch Gründe der praktischen Orientierung , die sich in einer Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft zunehmend aufdrängen. Man kann nicht länger naiv davon ausgehen, dass auf Basis von »Natur « - sei es physischer , sei es menschlicher Natur – Verbesserungen immer weiter möglich sein werden.




Burkart
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So 26. Nov 2023, 09:33

Ah ha... Kommunikation sei also unwahrscheinlich, meint hier der Eine... während es angeblich doch unmöglich sein soll, nicht zu kommunizieren...
Ob es wohl helfen würde, Vertreter des einen und des anderen Standpunktes miteinander kommunieren zu lassen oder es zumindest zu versuchen?
Vielleicht finden sie ja einen vernünftigen Kompromiss?



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Jörn Budesheim
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Und da mindestens zwei Instanzen beteiligt sind, „Ego" und „Alter", die jeweils ihre Selektionen darauf abstellen, dass auch die andere Seite seligiert, haben wir es sogar mit „doppelter Kontingenz" zu tun (vergl. das Kapitel „Doppelte Kontingenz" in 1984, 148 ff; vergl. auch 1975b, 171; 1997, 814). Nun könnte man sich vorstellen, dass es dadurch noch zu einer Steigerung der Unwahrscheinlichkeit kommt. Dieses ist aber nicht der Fall, im Gegenteil: Die doppelte Kontingenz überwindet Kontingenz, weil sie einen Problemlösungsprozess in Gang setzt. Das ist folgendermaßen zu erklären: Systeme - psychische und soziale - sind sich gegenseitig als „black boxes" gegeben. Ego und Alter handeln im Verhältnis zueinander und erleben sich gegenseitig, beob- achten sich und sehen sich beobachtet. Dabei sind sie „einander nicht durchsichtig und nicht kalkulierbar", aber unterstellen sich gegenseitige Beeinfluss- barkeit und rechnen sich sinnvolle Einflüsse zu, was Anschlussoperationen provoziert. „Die schwarzen Kästen erzeugen sozusagen Weißheit, wenn sie aufeinandertreffen"; schwarz mal schwarz ergibt nicht schwärzer, sondern weiß (1984, 156; vergl. auch 1995b, 14). Es entsteht ein Zirkel, eine soziale Ord- nung: „Wenn Du tust, was ich will, tue ich, was Du willst." (1997, 336, Anm. 256; vergl. auch 1984, 166). So führt „doppelte Kontingenz zwangsläufig zur Bildung von sozialen Systemen" (1984, 177).
Sind Menschen füreinander wirklich Black Boxes? Das halte ich für abwegig. Denken wir nur an unsere Emotionen, die in der Regel auch einen sozialen Aspekt haben, weil sie auf andere gerichtet sind. Wer sich ekelt, zeigt in der Regel auch ein deutliches Ekelverhalten, was bekanntlich ein großer evolutionärer Vorteil ist, weil die Gruppenmitglieder über die Situation informiert sind. Das ist das Gegenteil einer Black Box.

Ein anderes Beispiel sind unsere Augen, die sich evolutionär so entwickelt haben, dass andere sehen können, wohin wir schauen. Auch hier: keine Blackbox.




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Nauplios
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So 26. Nov 2023, 11:29

"Systeme- psychische und soziale - sind sich gegenseitig als 'black boxes' gegeben." (vermutlich Margot Berghaus [?])

"Sind Menschen füreinander wirklich Black Boxes?" (Jörn)

Menschen sind keine Systeme. Sofern von ego und alter ego in der Systemtheorie die Rede ist, sind "psychische Systeme" gemeint, Bewußtseinssysteme. Auch wenn etwa von "Er" und "Sie" die Rede ist, dann zielt das auf Bewußtseinssysteme, verkürzt: auf Bewußtsein.

"Black box" bedeutet, daß mir (auch dieses "mir" meint nicht den Menschen, der hier unter dem Namen "Nauplios" schreibt, sondern mein Bewußtsein als ein psychisches System) ... , daß mein Bewußtsein nicht außerhalb seiner selbst operieren kann. Es kann nicht in das Bewußtsein alter egos einmarschieren und beobachten, was da los ist. Das bedeutet aber nicht, daß es überhaupt nicht beobachten kann. Es kann zum Beispiel Menschen beobachten, ihre Freude, die man ihnen ansieht, ihre Trauer usw. Doch Beobachtungen sind Beobachtungen eines (psychischen) Systems, das kognitiv offen ist, aber operativ geschlossen. Beobachtung findet im System statt. Auch Gesten, Blicke u.ä. sind Gesten, Blicke, die beobachtet werden. "Ihr Blick sagt alles ... Sein Gesicht spricht Bände ... Sieh' das doch mal mit meinen Augen ... Versetzt dich mal in seine Lage ..." All das ändert nichts daran, daß das Mit-anderen-Augen-Sehen, das In-die-Lage-Versetzen ... innerhalb eines Bewußtseins(systems) stattfindet. Wo auch sonst?

"Black boxes" meint die operative Geschlossenheit eines Systems, das kognitiv offen ist. Wäre es nicht kognitiv offen, könnte man nicht sicher sein, daß es "da draußen" überhaupt noch andere Menschen, Tiere, Gegenstände gibt. Ein psychisches System, das kognitiv geschlossen wäre, würde keine Fremdreferenz ausbilden können; es würde in sich implodieren. Ein psychisches System, das operativ offen wäre, könnte keine Selbstreferenz ausbilden; es würde in seine Umwelt explodieren.




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Nauplios
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So 26. Nov 2023, 12:03

Daß ein Bewußtsein außerhalb seiner Systemgrenzen operieren kann, eignet sich natürlich als filmisches Motiv sein. Der Held wird auf eine Zeitreise in die Vergangenheit geschickt, um sich dort in das Bewußtsein eines Bösewichts zu hacken, damit die Welt der Gegenwart nicht untergeht o.ä. - Ein religiöses Motiv wäre Besessenheit. Ein Dämon besetzt das Bewußtsein eines kleinen Mädchens, das nun Böses tut. Aus "ihm heraus" spricht der Teufel. Vielleicht versuchen sich auch therapeutische Maßnahmen im Andocken an Bewußtsein, Hypnose oder bestimmte Formen der Suggestion von Einflüsterungen ... der Teufel als Influencer... :evil:




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Jörn Budesheim
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So 26. Nov 2023, 12:16

Luhmann hat geschrieben : Wie soll jemand auf die Idee kommen, einen anderen, dessen Verhalten ja gefährlich sein kann oder auch komisch, nicht nur schlicht wahrzunehmen, sondern es im Hinblick auf die Unterscheidung von Mitteilung und Information zu beobachten? Wie soll der andere erwarten und sich darauf einstellen können, daß er so beobachtet wird? Und wie soll jemand sich ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und welche?) zu wagen, wenn gerade das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt, sie abzulehnen?
Wer ist hier jemand?




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Nauplios
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So 26. Nov 2023, 12:43

"Der Mensch ist draußen." (Luhmann) ...

Jemand, jemand anders Mann, Frau, er, sie, du, ich, ego, alter ego, Kind, Greis, Arzt, Patient... was auch immer man einsetzt: die Systemtheorie kennt die Zurechnungsgröße Mensch nicht. Auch dann nicht, wenn der Mann, die Frau, jemand, jemand anders ... einen Körper hat, ein Gehirn ... obwohl das Vorhandensein von Menschen zu den Voraussetzungen sozialer Systeme gehört. Zu den Voraussetzungen, nicht zu den Elementen. Der Mensch als leibliche, seelische Einheit hat keine systemtheoretische Adresse.

Warum tun - ich sag' jetzt mal - wir uns so schwer damit, diesen Gedanken zuzulassen? - Damit ist ja der Mensch in seiner existenziellen Situation nicht geleugnet oder kein seriöser Gegenstand der Philosophie oder der Kunst mehr. Er bleibt das selbstverständlich. In der Systemtheorie der modernen Gesellschaft kommt er nun mal als theoretische Bezugsgröße nicht vor. Zur existziellen Situation des Menschen gehört natürlich auch der andere Mensch, dessen Antlitz usw. Aber die Systemtheorie kann und will das nicht sein: eine Lehre von der existenziellen Situation des Menschen, seinem ontologischen In-der-Welt-Sein usw. Systemtheorie ist keine Lehre vom Menschen. Damit wird die Philosophie nicht überflüssig. Im Gegenteil.
Zuletzt geändert von Nauplios am So 26. Nov 2023, 12:58, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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So 26. Nov 2023, 12:57

Wenn die systemtheoretische Terminologie nicht in der Lage ist, die Sachverhalte zu modellieren, dann muss man über die Terminologie nachdenken.

Wenn alle Einwände immer damit abgeblockt werden, dass sie nicht in diese Terminologie passen, dann stimmt etwas nicht. Wie kann diese Theorie der Tatsache gerecht werden, dass wir eben nicht Black Boxes füreinander sind, weil z.B. Emotionen und Blicke und vieles mehr uns schon auf der basalen Ebene als soziale Wesen auszeichnen.

Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sich die Realität der Terminologie anpassen muss, sondern umgekehrt, die Terminologie muss sich der Realität anpassen.




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So 26. Nov 2023, 13:01

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 12:57
Wenn die systemtheoretische Terminologie nicht in der Lage ist, die Sachverhalte zu modellieren, dann muss man über die Terminologie nachdenken.

Wenn alle Einwände immer damit abgeblockt werden, dass sie nicht in diese Terminologie passen, dann stimmt etwas nicht. Wie kann diese Theorie der Tatsache gerecht werden, dass wir eben nicht Black Boxes füreinander sind, weil z.B. Emotionen und Blicke und vieles mehr uns schon auf der basalen Ebene als soziale Wesen auszeichnen.

Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sich die Realität der Terminologie anpassen muss, sondern umgekehrt, die Terminologie muss sich der Realität anpassen.
Die Realität ist eine Konstruktion des Systems. ;) Aber ich denke, wir werden da nicht weiterkommen. Wir drehen uns im Kreis.




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So 26. Nov 2023, 13:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 10:10
Sind Menschen füreinander wirklich Black Boxes?
Aus meiner Sicht sind sie es bzw. ich sehe es auch so.
Das halte ich für abwegig. Denken wir nur an unsere Emotionen, die in der Regel auch einen sozialen Aspekt haben, weil sie auf andere gerichtet sind.
Das ist ja "nur" unser individuelle Sicht auf die Anderen, kein Widerspruch zur Blackbox.
Wer sich ekelt, zeigt in der Regel auch ein deutliches Ekelverhalten, was bekanntlich ein großer evolutionärer Vorteil ist, weil die Gruppenmitglieder über die Situation informiert sind. Das ist das Gegenteil einer Black Box.
Man kann sich auch vor Spinnen ekeln u.ä., sind sie für uns deshalb was Anderes als Black Boxen?
Ein anderes Beispiel sind unsere Augen, die sich evolutionär so entwickelt haben, dass andere sehen können, wohin wir schauen. Auch hier: keine Blackbox.
Wohin wir schauen... mal stimmt unsere Annahme dazu, vor allem wenn es zum aktuellen Kontext/zur akutueller Situation passt, mal aber auch nicht.

Auch zu Nauplios:
Ja, man kann Menschen als etwas Besonderes, von der restlichen Welt Abgehobenes sehen, aber damit tut man sich oft keinen Gefallen.
Wir können in einen Menschen einfach nicht wirklich sicher reinschauen, insofern ist er einfach eine Blackbox; den Begriff nicht auf Menschen anwenden zu wollen, macht hier keinen Sinn.



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So 26. Nov 2023, 13:07

Auch eine konstruktivistische Theorie kann nicht beliebig verfahren. Solche Dinge wie die oben erwähnten, z.B Emotionen, Blickrichtung etc muss sie auf irgendeine Art und Weise plausibel modellieren können. Soweit ich weiß, ist längst bekannt, dass Emotionen der große schwarze Fleck der Theorie sind, Nachfolger Luhmanns versuchen das zu reparieren, habe ich verschiedentlich gelesen, aber über deren Erfolge oder Misserfolge bin ich leider nicht im Bilde.




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So 26. Nov 2023, 14:42

Nauplios hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 12:43
die Systemtheorie kennt die Zurechnungsgröße Mensch nicht.
Was ist denn in der Systemtheorie die Grundeinheit? Auf was stützt sie sich?



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AufDerSonne
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So 26. Nov 2023, 14:47

Burkart hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 13:02
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 10:10
Sind Menschen füreinander wirklich Black Boxes?
Aus meiner Sicht sind sie es bzw. ich sehe es auch so.
Ein Mensch ist so lange eine Black Box für einen anderen Menschen, bis er etwas von sich erzählt.
Wenn ich jemanden Fremden in der Stadt sehe, ist er weitgehend eine Black Box für mich. Das heisst, erste Informationen habe ich schon dann, nämlich über sein Aussehen. Wenn ich mit jemandem spreche, bekomme ich mehr Informationen. In gewissen Fällen kann ich einen Menschen sehr gut kennen lernen. Dann ist er natürlich keine Black Box mehr für mich.



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So 26. Nov 2023, 15:03

AufDerSonne hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 14:47
Burkart hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 13:02
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 10:10
Sind Menschen füreinander wirklich Black Boxes?
Aus meiner Sicht sind sie es bzw. ich sehe es auch so.
Ein Mensch ist so lange eine Black Box für einen anderen Menschen, bis er etwas von sich erzählt.
Wenn ich jemanden Fremden in der Stadt sehe, ist er weitgehend eine Black Box für mich. Das heisst, erste Informationen habe ich schon dann, nämlich über sein Aussehen. Wenn ich mit jemandem spreche, bekomme ich mehr Informationen. In gewissen Fällen kann ich einen Menschen sehr gut kennen lernen. Dann ist er natürlich keine Black Box mehr für mich.
Aussehen, Verhalten oder auch Erzählen macht eine Black Box nicht zur White Box, dazu müsstest du die inneren Strukturen des Menschen kennen.
Black Box heißt nicht, dass man gar nichts über ein System (hier Mensch) herausfinden kann.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
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So 26. Nov 2023, 15:59

Ego geht nicht mit alter um, als wäre sie eine Black Box, deren Innenleben man nicht kennt und von dem man nur das äußere Verhalten hat, so dass man im Prinzip raten muss. Das ist im Grunde eine Ausgeburt des längst überholten Behaviorismus und eine völlig falsche Vorstellung von dem, was man leider "Innenleben" nennt.




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So 26. Nov 2023, 16:02

Margit Berghaus hat geschrieben : Um sich die „unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit“ sichtbar zu machen, nehme man einmal für einen Moment eine (falsche) naive Position ein: Danach besteht die Welt ontologisch aus Dingen, Eigenschaften, Informationen, sinnvollen Elementen, Gut und Böse usw. Und man könnte diese vorweg gegliederte Welt beobachten und erkennen. Dazu passt dann die Vorstellung der Informationsübertragung: Man pickt sich eine (unabhängig vom Beobachter) existierende Information heraus und teilt sie jemand anderem mit. Die Selektion und ihre Angemessenheit wird von der Sache nahegelegt und lässt sich im Vergleich mit der realen Realität auf Richtigkeit kontrollieren.
Was Margrit Berghaus mit Luhmann für falsch und naiv hält, halte ich für richtig und zeitgemäße Philosophie. All diese Dinge, von denen sie behauptet, dass es sie in der Realität nicht gibt, gibt es de facto, daran kann es keinen Zweifel geben, und deshalb ist das, wovon sie meint, dass es nicht möglich sei, nämlich eine "vom Beobachter unabhängige Information" zu selektieren und zu kommunizieren, im Gegensatz zu Luhmann und Berghaus möglich.




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