Ist Kommunikation unwahrscheinlich?

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 26. Nov 2023, 18:19

Nauplios hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 12:03
Daß ein Bewußtsein außerhalb seiner Systemgrenzen operieren kann, eignet sich natürlich als filmisches Motiv sein. Der Held wird auf eine Zeitreise in die Vergangenheit geschickt, um sich dort in das Bewußtsein eines Bösewichts zu hacken, damit die Welt der Gegenwart nicht untergeht o.ä. - Ein religiöses Motiv wäre Besessenheit. Ein Dämon besetzt das Bewußtsein eines kleinen Mädchens, das nun Böses tut. Aus "ihm heraus" spricht der Teufel. Vielleicht versuchen sich auch therapeutische Maßnahmen im Andocken an Bewußtsein, Hypnose oder bestimmte Formen der Suggestion von Einflüsterungen ... der Teufel als Influencer... :evil:
Slavoj Žižek hat geschrieben : [es gibt eine] externalistischen Sichtweise, wonach unsere sinnvollen Erfahrungen nicht wie innere Bilder irgendwo im Kopf zu verorten sind, sondern »außerhalb des Gehirns«? Sie sind demnach etwas, das als Resultat der komplexen Interaktion zwischen unserem Gehirn, unseren körperlichen Tätigkeiten und der komplexen Wirklichkeit entsteht, in der wir interagieren, so dass eine Fokussierung auf unser isoliertes Gehirn die anvisierte Erfahrung per definitionem verfehlen muss.

...

In einem Artikel für die Zeitschrift The New York Review of Books erklärt Tim Parks Manzottis Behauptung, dass sich meine Erfahrungen »außerhalb meines Kopfes« befinden, wie folgt:
  • Damit das Regenbogenerlebnis stattfinden kann, brauchen wir Sonnenschein, Regentropfen und einen Zuschauer. Es ist nicht so, dass die Sonne und die Regentropfen aufhören zu existieren, wenn niemand da ist, der sie sieht. Manzotti ist kein Bischof Berkeley. Aber solange niemand an einer ganz bestimmten Stelle anwesend ist, kann kein farbiger Bogen erscheinen. Der Regenbogen ist also ein Prozess, der verschiedene Elemente erfordert, von denen eines zufällig ein Instrument der Sinneswahrnehmung ist. Er existiert weder ganz und eigenständig in der Welt noch als erworbenes Bild im Kopf, getrennt von dem, was wahrgenommen wird (dies ist die Ansicht der »Internalisten«, die unter den Neurowissenschaftlern die Mehrheit bilden); das Bewusstsein ist vielmehr zwischen Sonnenlicht, Regentropfen und visuellem Kortex ausgebreitet und erzeugt ein einzigartiges, vergängliches neues Ganzes, das Regenbogenerlebnis. Oder noch einmal: Der Betrachter sieht nicht die Welt; er ist Teil eines Weltprozesses. (Slavoj Žižek zitiert das, teilt es aber nicht einfach)




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 26. Nov 2023, 18:40

Nauplios hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 12:43
Warum tun - ich sag' jetzt mal - wir uns so schwer damit, diesen Gedanken zuzulassen?
Das ist keine Frage des Schwerfallens, sonst hätte ich diese Position nicht selbst über Jahre plausibel gefunden und gegen Angriffe verteidigt. Was ich problematisch finde, habe ich in den Argumenten vorgetragen. Darauf kann man eingehen und dann wird man sehen, ob die Argumente tragen.




Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Mo 27. Nov 2023, 15:23

Burkart hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 15:03
AufDerSonne hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 14:47
Burkart hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 13:02

Aus meiner Sicht sind sie es bzw. ich sehe es auch so.
Ein Mensch ist so lange eine Black Box für einen anderen Menschen, bis er etwas von sich erzählt.
Wenn ich jemanden Fremden in der Stadt sehe, ist er weitgehend eine Black Box für mich. Das heisst, erste Informationen habe ich schon dann, nämlich über sein Aussehen. Wenn ich mit jemandem spreche, bekomme ich mehr Informationen. In gewissen Fällen kann ich einen Menschen sehr gut kennen lernen. Dann ist er natürlich keine Black Box mehr für mich.
Aussehen, Verhalten oder auch Erzählen macht eine Black Box nicht zur White Box, dazu müsstest du die inneren Strukturen des Menschen kennen.
Black Box heißt nicht, dass man gar nichts über ein System (hier Mensch) herausfinden kann.
sehe ich auch so ähnlich. Ein Mensch ist aber theoretisch keine Blackbox, dafür sind wir alle uns zu ähnlich, als dass wir uns so unterscheiden können, dass die menschlichen Verhaltensweisen und Reaktionen nicht irgendwie sich ähneln können. Eher wäre ein Ausserirdischer eine Blackbox, da wir hier weder wissen, wie er die Nachricht auffasst, noch wie er darauf reagiert.



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 27. Nov 2023, 15:48

Ja, wir sind uns ähnlich, aber das ist meiner Meinung nach nicht alles.

Im Laufe der Evolution haben wir einerseits ein ausgeklügeltes Sensorium entwickelt, um den Geist des anderen lesen zu können. Andererseits sind unser Verhalten und unser Äußeres darauf ausgerichtet, von unseren Mitmenschen gelesen zu werden. Das spielt zusammen. Am auffälligsten ist das vielleicht bei der Mimik. Unsere Gefühle sind so nach außen gekehrt, dass sie bis zu den anderen durchdringen, Lachen steckt an, der Schmerz der anderen schmerzt, wenn jemand vor Ekel das Gesicht verzieht, wissen wir sofort, was mit uns los ist. Die Augen sind so gebaut, dass man die Blickrichtung sehen kann. Wir können mit dem Finger auf etwas zeigen, was im Tierreich äußerst selten ist, und vieles mehr.

Das hat evolutionäre Vorteile. Gesellschaft ist unter anderem ein verkörpertes Phänomen.




Benutzeravatar
AufDerSonne
Beiträge: 1294
Registriert: Do 1. Sep 2022, 19:44

Mo 27. Nov 2023, 16:06

Albert Einstein: "Eine gesunde Gesellschaft ist also ebenso an Selbständigkeit der Individuen geknüpft wie an deren innige soziale Verbundenheit."

"...Man empfindet scharf, aber ohne Bedauern die Grenze der Verständigung und Konsonanz mit anderen Menschen..."

Das Thema scheint komplex zu sein. Nauplios hat irgendwo geschrieben, dass der Mensch in Luhmanns Theorie nicht mehr vorkommt. Wenn das so ist, dann ist das so.
Eine andere Sache ist, was wir unter Kommunikation verstehen wollen. Offenbar reduziert Luhmann den Begriff auf die Informationstheorie. Die kenne ich zu wenig.

Aber wie soll eine "innige soziale Verbundenheit" zustande kommen, wenn nicht durch Kommunikation? Und in der Kommunikation vor allem durch das Sprechen?
Andererseits sei die "Verständigung und Konsonanz mit anderen Menschen begrenzt". Mit dieser Äußerung Einsteins habe ich Mühe. Es kann sich hier höchstens um ein Gefühl handeln. Man kann die Grenze der Verständigung mit anderen Menschen wohl fühlen, aber eben auch nicht.



Ohne Gehirn kein Geist!

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 27. Nov 2023, 17:42

Zu sagen, dass Kommunikation bei uns unwahrscheinlich ist, finde ich ungefähr so plausibel wie zu sagen, dass es unwahrscheinlich ist, dass Pferde laufen. Wir sind ganz und gar in unserer "Bauart" auf Kommunikation hin angelegt.




Burkart
Beiträge: 2801
Registriert: Sa 11. Jul 2020, 09:59

Mo 27. Nov 2023, 22:46

infinitum hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 15:23
Burkart hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 15:03
AufDerSonne hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 14:47

Ein Mensch ist so lange eine Black Box für einen anderen Menschen, bis er etwas von sich erzählt.
Wenn ich jemanden Fremden in der Stadt sehe, ist er weitgehend eine Black Box für mich. Das heisst, erste Informationen habe ich schon dann, nämlich über sein Aussehen. Wenn ich mit jemandem spreche, bekomme ich mehr Informationen. In gewissen Fällen kann ich einen Menschen sehr gut kennen lernen. Dann ist er natürlich keine Black Box mehr für mich.
Aussehen, Verhalten oder auch Erzählen macht eine Black Box nicht zur White Box, dazu müsstest du die inneren Strukturen des Menschen kennen.
Black Box heißt nicht, dass man gar nichts über ein System (hier Mensch) herausfinden kann.
sehe ich auch so ähnlich. Ein Mensch ist aber theoretisch keine Blackbox, dafür sind wir alle uns zu ähnlich, als dass wir uns so unterscheiden können, dass die menschlichen Verhaltensweisen und Reaktionen nicht irgendwie sich ähneln können. Eher wäre ein Ausserirdischer eine Blackbox, da wir hier weder wissen, wie er die Nachricht auffasst, noch wie er darauf reagiert.
Ja, ok, ist schon richtig, die Blackbox-Sicht auf Menschen macht nur bedingt Sinn... Blackbox-Sicht: "Die innere Struktur mag bekannt sein; solche Kenntnis darf aber nicht benutzt werden"... also es wirklich nur eine Sichtweise, sagt nicht, dass der Mensch eine Blackbox ist. Da sein Gegenteil, die Whitebox-Sicht, wohl noch weniger Sinn macht, ist es sicherlich sinnvoll, von Intentionen, Bedürfnissen u.ä. von Menschen u.ä. auszugehen und diese im Denken über ihn i.a. mit einzubeziehen.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Burkart
Beiträge: 2801
Registriert: Sa 11. Jul 2020, 09:59

Mo 27. Nov 2023, 22:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Nov 2023, 17:42
Zu sagen, dass Kommunikation bei uns unwahrscheinlich ist, finde ich ungefähr so plausibel wie zu sagen, dass es unwahrscheinlich ist, dass Pferde laufen. Wir sind ganz und gar in unserer "Bauart" auf Kommunikation hin angelegt.
Ja, Kommunikation als unwahrscheinlich zu bezeichnen kann nur Sinn machen, wenn man Kommunikation (zu?) sehr idealisiert bzw. als perfekt ansieht, was nicht unserer üblichen Kommunikation entspricht mit ihren Problemen von Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten u.ä., mit denen wir umzugehen haben.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 28. Nov 2023, 18:42

In dem Aufsatz "Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation" nennt Luhmann drei Probleme, die zur Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation führen sollen, von denen ich im folgenden eins und eine weitere erstaunliche Textpassage zitiere.
Niklas Luhmann, in "die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation" hat geschrieben : Als erstes ist unwahrscheinlich, daß einer überhaupt versteht, was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewußtseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden, und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal das, was sein eigenes Gedächtnis bereitstellt.
Niklas Luhmann, in "die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation" hat geschrieben : Das Medium, das das Verstehen von Kommunikationen über das vorausliegende Wahrnehmen hinaus steigert, ist die Sprache. Sie benutzt symbolische Generalisierungen, um Wahrnehmungen zu ersetzen, zu vertreten, zu aggregieren und die damit anfallenden Probleme des übereinstimmenden Verstehens zu lösen. Die Sprache ist, mit anderen Worten, darauf spezialisiert, den Eindruck des übereinstimmenden Verstehens als Basis weiteren Kommunizierens verfügbar zu machen - wie brüchig immer diese Eindruck zustande gekommen sein mag.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 28. Nov 2023, 19:30

Ich vermute, aber ich wette nicht darauf, wenn etwas von dem, was Luhmann in diesen beiden Zitaten sagt, wahr wäre, dann wäre Kommunikation nicht unwahrscheinlich, sondern unmöglich. In Zitat 2 schreibt er, dass Sprache Symbole benutzt, um Wahrnehmungen zu ersetzen usw. Und etwas Ähnliches scheint er auch in Zitat 1 zu glauben. Sprache bezieht sich aber nicht generell auf unsere Wahrnehmungen, denn dann wäre sie unmöglich, denn wir können ja nicht die Wahrnehmungen anderer wahrnehmen. Sprache bezieht sich normalerweise auf Objekte und Tatsachen der gemeinsamen Wirklichkeit.

Ich habe vor einiger Zeit ein Buch über den Spracherwerb von Kindern gelesen. Für solche Sprachforscher ist die Grundsituation der Triangulation genauso wichtig wie zum Beispiel für den Philosophen Donald Davidson und viele andere. Dieses Dreieck besteht im einfachsten Fall aus zwei Sprechern und dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen. Wenn ein Elternteil dem Kind ein Wort beibringt, sagen wir Katze, dann überprüft es in Anwesenheit der Katze nicht den Geisteszustand des Kindes, seine Wahrnehmungen, sein Bewusstsein oder ähnliches, sondern die sprachliche Produktion. Wenn das Kind in Gegenwart der Katze "Katze" sagt, dann haben wir eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es das Wort richtig verwendet. Bedeutungen sind etwas "Äußerliches", sie befinden sich nicht in den Köpfen der Beteiligten. Dass Bedeutungen sich auf geistige Entitäten beziehen - und nicht, wie wir heute wissen, auf die Gegenstände selbst -, das hat man in der Tradition geglaubt, die Luhmann gerne die alteuropäische nennt.

Das Spannende in diesem Fall ist, dass dieser Akt der Triangulation vielleicht auch einer der Grundbausteine der Gesellschaft ist. Denn dass zwei Wesen eine unterschiedliche Perspektive auf dasselbe haben und sich in dieser Situation koordinieren können, z.B. durch Sprache oder auch durch andere Möglichkeiten, z.B. koordinierte Handlungen, das scheint mir eine Keimzelle der Gesellschaft zu sein.




Burkart
Beiträge: 2801
Registriert: Sa 11. Jul 2020, 09:59

Di 28. Nov 2023, 21:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 28. Nov 2023, 18:42
Niklas Luhmann, in "die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation" hat geschrieben : Als erstes ist unwahrscheinlich, daß einer überhaupt versteht, was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewußtseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden, und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal das, was sein eigenes Gedächtnis bereitstellt.
Scheint mir eine typische Schwarz-Weiß-These zu sein - als ob man nicht auch oft genug hinreichend gut verstehen kann, es muss nicht perfekt zu 100% sein.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 29. Nov 2023, 08:02

Ich finde insbesondere die Begründung hanebüchend, verstehen ist laut Luhmann unwahrscheinlich, weil unsere Bewusstseine getrennt und individuell sind.




sybok
Beiträge: 374
Registriert: Mi 7. Sep 2022, 17:36

Mi 29. Nov 2023, 08:46

Ich für meinen Teil finde gerade die "unwahrscheinliche Kommunikation" etwas vom Einfacheren in Luhmanns Theoriengebäude.
Gerade in diesen Philosophie-Foren erhält man doch ein Verständnis dafür, aller spätestens hier habe ich gelernt, dass man eigentlich alles dekonstruieren kann. Wenn ich an die KI-Threads denke, sobald mal ein Wort wie "Intelligenz" wirklich unter die Lupe genommen wird, sieht man, dass eigentlich absolut Niemand weiss, was es damit genau auf sich hat, was wir damit eigentlich wirklich ganz genau meinen. Und dann, wenn man es mit einem Wort mal genau nimmt, gibt es über Wochen und hunderte Posts eine Diskussion über nur ein einziges Wort und man kommt trotzdem nicht zu einer Verständigung. Mit "Zufall", "Bewusstsein", "Leben", "Wahrheit", "Beweis", "Wissen" etc. könnte man weiter machen, aber ziemlich sicher auch mit gewöhnliche Alltagsbegriffe wie etwa "Küche", "haben" oder "Tag", sind ja eigentlich nicht sauber definiert. Überhaupt läuft man letzten Endes sowieso überall - zum Beispiel mit "Was ist die Definition von 'Definition'?" - wieder, wie üblich bei diesen fundamentalen Geschichten, in diese "Rekursionsproblematiken" hinein.
Und das mal ganz abgesehen von Fehlern in der Interpunktion und Kasus, bei Wahl von zweideutigen Wörtern, der 4-Ohren Geschichte etc. Ich erkläre mir das halbwegs so, dass wir irgendwie extrem gut darin sind, zu extrapolieren, "kaputte" Muster wieder herzustellen und unwichtige Details auszublenden. Das Wunder ist, dass die Kommunikation trotzdem irgendwie doch meistens halbwegs funktioniert.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 29. Nov 2023, 09:11

In einem philosophischen Forum ist die Wahrscheinlichkeit, einen allgemeinen Konsens zu finden, nahe Null. Das ist aber kein Hinweis auf die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation schlechthin. Und zudem zeigt es auch nicht, dass die zitierte Begründung von Luhmann irgendeine Form von Plausibilität aufweist.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 29. Nov 2023, 09:32

Niklas Luhmann in "die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation" hat geschrieben :
  • Als erstes ist unwahrscheinlich, daß einer überhaupt versteht, was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewußtseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden, und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal das, was sein eigenes Gedächtnis bereitstellt.
  • Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen von Empfängern. Es ist unwahrscheinlich, daß eine Kommunikation mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind. Das Problem liegt in der räumlichen und zeitlichen Extension. Das Interaktionssystem der jeweils Anwesenden garantiert in praktisch ausreichendem Maße Aufmerksamkeit für Kommunikation, und es zerbricht, wenn man erkennbar kommuniziert, daß man nicht kommunizieren will. Über die Grenzen dieses Interaktionssystems hinaus können die hier geltenden Regeln jedoch nicht erzwungen werden. Selbst wenn die Kommunikation bewegliche und zeitbeständige Träger findet, wird es daher unwahrscheinlich, daß sie Aufmerksamkeit voraussetzen kann. In anderen Situationen haben die Leute etwas anderes zu tun.
  • Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs. Selbst wenn eine Kommunikation verstanden wird, ist damit noch nicht gesichert, daß sie auch angenommen wird. Mit kommunikativem »Erfolg<< meine ich, daß der Empfänger den selektiven Inhalt der Kommunikation (die Information) als Prämisse des eigenen Verhaltens übernimmt, also an die Selektion weitere Selektionen anschließt und sie dadurch in ihrer Selektivität verstärkt. Annehmen als Prämisse eigenen Verhaltens kann dabei bedeuten: Handeln nach entsprechenden Direktiven, aber auch Erleben, Denken und weitere Kognitionen Verarbeiten unter der Voraussetzung, daß bestimmte Information zutrifft.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 29. Nov 2023, 09:52

Menschen, sagt Michael Tomasello, zeichnen sich durch eine „geteilte oder kollektive Intentionalität“ aus: Sie streben danach, Erfahrungen, Absichten, Interessen und Regeln gemeinsam zu teilen. Diese Fähigkeit entstand im Zug gemeinschaftlicher Tätigkeiten wie der Jagd oder der Kinderaufzucht. Die menschliche Kommunikation war immer schon in solche gemeinschaftliche Tätigkeiten eingebettet und entwickelte sich in Wechselwirkung mit ihnen. Anfangs halfen Gesten dabei, diese Tätigkeiten besser zu koordinieren. Schließlich wurden sie immer komplexer und in die akustische Sprache übersetzt. Aus den Zeige-Gesten entstanden so nach Tomasello die Demonstrativpronomen: „der“ oder „dieser“ ...
Die drei zentralen Aspekte menschlicher Kommunikation sind nach diesem Forscher: Helfen, Teilen, Informieren. Das ist, wie man schnell sieht nicht unbedingt "luhmann-like".

Manches sieht Luhmann einfach verkehrt herum. Bei Bedeutungen z.B. geht es nicht zuerst darum, ob sie verstanden werden, sondern weil sie verstanden wurden und werden, entstehen sie. Aus dem Verstehen entsteht erst die Bedeutung. Das ist ein Ergebnis der philosophischen Forschung z.B. von Donald Davidson, was ich völlig plausibel finde.

Da komplexes "Meinen" wie es bei uns Menschen üblich ist, zu gewissen Teilen an der Sprache hängt, ist der Umstand, dass die Kommunikation verstanden wurde, sowieso längst vorausgesetzt, wenn von "meinen" die Rede ist. Klar, kann sich jemand Sorgen machen, dass er nicht verstanden wird, aber genau das zeigt, dass Kommunikation sehr wahrscheinlich und auch sehr erfolgreich war.

Ähnlich verhält es sich mit der evolutionären Geschichte der Kommunikation: Weil sie erfolgreich war, hat sie sich immer weiter ausdifferenziert. Was die Kommunikation begründet, nämlich ihr Erfolg, kann sie nicht zugleich unwahrscheinlich machen.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 29. Nov 2023, 11:03

Nauplios hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 12:43
"Der Mensch ist draußen." (Luhmann) ...


Wir können den Menschen und seinen Körper, z.B seinem Gesichtsausdruck, den Ausdruck seiner Augen nicht draußen lassen, weil das zur Kommunikation dazu gehört, Geiste sind miteinander verbunden unter anderem durch körperlichen Ausdruck. Geist ist verkörperter Geist und Kommunikation dementsprechend verkörperte Kommunikation.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23557
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 29. Nov 2023, 11:10

Nauplios hat geschrieben :
So 26. Nov 2023, 12:43
Warum tun - ich sag' jetzt mal - wir uns so schwer damit, diesen Gedanken zuzulassen?
Warum tun - ich sag' jetzt mal - wir uns so schwer damit, diese und andere Gedanken zu kritisieren? Das ist doch nicht im Sinne Luhmanns. Zumal ich meine Kritik in aller Regel auch begründet habe.




Antworten