Vertrauen, Verzeihen, Versprechen und Freiheit

Hannah Arendt war eine jüdische deutsch-amerikanische politische Philosophin, Theoretikerin und Publizistin.
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Jörn Budesheim
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So 19. Mai 2024, 19:56

„Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen die chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen – liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten. Diese beiden Fähigkeiten gehören zusammen, insofern die eine sich auf die Vergangenheit bezieht und ein Geschehenes rückgängig macht, dessen „Sünde“ sonst, dem Schwert des Damokles gleich, über jeder neuen Generation hängen und sie schließlich unter sich begraben müßte; während die andere ein Bevorstehendes wie einen Wegweiser in die Zukunft aufrichtet, in der ohne die bindenden Versprechen, welche wie Inseln der Sicherheit von den Menschen in das drohende Meer des Ungewissen geworfen werden, noch nicht einmal irgendeine Kontinuität menschlicher Beziehungen möglich wäre, von Beständigkeit und Treue ganz zu schweigen.“

(Hannah Arendt, Vita Activa – oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, 231 f.)

„Beide Fähigkeiten (Versprechen und Verzeihen) können sich (…) überhaupt nur unter der Bedingung der Pluralität betätigen, der Anwesenheit von Anderen die mit-sind und mit-handeln. Denn niemand kann sich selbst verzeihen, und niemand kann sich durch ein Versprechen gebunden fühlen, das er nur sich selbst gegeben hat. Versprechen, die ich mir selbst gebe, und ein Verzeihen, das ich mir selbst gewähre, sind unverbindlich wie Gebärden vor dem Spiegel.“

(Ebenda, 232)

„Was das Verzeihen innerhalb des Bereiches menschlicher Angelegenheiten vermag, hat wohl Jesus von Nazareth zuerst gesehen und entdeckt. Daß diese Entdeckung in einem religiösen Zusammenhang gemacht und ausgesprochen ist, ist noch kein Grund, sie nicht auch in einem durchaus diesseitigen Sinne so ernst zu nehmen, wie sie es verdient.“

(Ebenda, 234)

„Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird.“

(Ebenda, 235 f.)

„Daß aber das Vergeben eine dem Handeln selbst innewohnende Fähigkeit zur Korrektur des Mißratenen ist, wie das Zerstören ein dem Herstellen inhärentes Korrektiv ist, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der merkwürdigen Tatsache, daß das Verzeihen, also das Rückgängigmachen eines Gehandelten, die gleichen Personenthüllenden und Bezugstiftenden Charaktere aufweist, wie das Handeln selbst. Das Vergeben und die Beziehung, die der Akt des Verzeihens etabliert, sind stets eminent persönlicher Art, was keineswegs heißt, daß sie notwendigerweise individueller oder privater Natur sind.“

(Ebenda, 236)




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Mai 2024, 09:55

Dominik Weyl hat geschrieben : Trotz seiner Bedingtheit ist das Handeln der Menschen ein Tätigsein aus Freiheit. Anders als das Arbeiten, das für die Absicherung des Überlebens zwingend notwendig ist, gibt es für Arendt zum Handeln gerade keine Notwendigkeit. Denn Natalität bedeute auch, wie sie meint, »daß die Erschaffung des Menschen […] mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt« (VA 216).

Fundiert Arendt die anthropologische Dimension ihres Konzepts von Natalität mit Augustin, bezieht sie sich für dessen handlungstheoretische Weiterführung auf die Philosophie der Aufklärung. Freiheit in Bezug auf (politisches) Handeln meine, so schreibt Arendt in Zwischen Vergangenheit und Zukunft, jedoch nicht allein »die Willens- oder Wahlfreiheit, das ›liberum arbitrium‹, das zwischen Vorgegebenem, dem Guten und Bösen, eine Entscheidung trifft«. Freiheit ereigne sich vielmehr im Miteinander-Handeln der Menschen, sodass nicht das Wollen, sondern die Möglichkeit des Könnens die Voraussetzung der Freiheit sei. Arendt misst persönliche Freiheit also daran, ob Menschen etwas tun können, und nicht allein an dem, was sie tun wollen.

Sie schreibt: »[D]as Freisein beginnt überhaupt erst mit dem Handeln, so daß Nicht-handeln-Können und Nicht-Freisein auch dann ein und dasselbe bedeuten, wenn die (philosophische) Willensfreiheit intakt fortbesteht.« Diesen Gedanken verknüpft Arendt mit Kants Auffassung von Freiheit und Spontaneität. Denn dessen Bestimmung von Freiheit reduziert sich nicht auf das Postulat menschlicher Willens- und Entscheidungsfreiheit – als negative Bestimmung gegen Unfreiheit und Zwang –; Freiheit ist bei ihm auch das positive Vermögen, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen«. Dazu braucht es Spontaneität als das die Menschen aktivierende Vermögen, »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen«.

Anders als Kant sieht Arendt moralisches Handeln allerdings nicht durch ein Prinzip bestimmt, welches das Resultat dieses Handelns eigentlich schon vorwegnimmt, um gleichsam ein bestimmtes ethisches Programm zur Verwirklichung zu treiben. Handeln realisiere sich nicht in seinen Ergebnissen, schreibt sie, sondern in seinen Vollzügen. Eine Gesinnungsethik lässt sich aus Arendts Handlungstheorie also kaum ableiten. Aber sie übernimmt aus der Philosophie der Aufklärung einen betont positiven, die Menschen aktivierenden Freiheitsbegriff.

So schlägt Arendt vor, Freiheit (besser: Freisein) als Möglichkeitsgrund zum Handeln zu begreifen, auf dem die Menschen die »Fähigkeit des Neubeginnens« erfahren. Damit diese positive Fähigkeit sich entfalten und ausgeübt werden kann, benötige sie den öffentlich-politischen Raum, denn »die politische Freiheit ist nicht ›innere Freiheit‹, sie kann in kein Innen ausweichen; sie hängt daran, ob eine freie Nation den Raum gewährt, in welchem das Handeln sich auswirken und sichtbar werden kann.« Frei sind nach Arendt also die Menschen, die spontan und ungehindert in den öffentlichen Raum eintreten können, um durch ihr Handeln ihre Fähigkeit des Neubeginns voreinander zu realisieren.

[Absätze von mir]




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Mai 2024, 09:59

Dominik Weyl hat geschrieben : Dass man als Person sich auf die anderen Personen verlassen und sie in Betracht ziehen kann, ist in den Fähigkeiten begründet, zu verzeihen und zu versprechen. Sie verhelfen dazu, »die von uns entfesselten Prozesse wenigstens teilweise zu regulieren und zu kontrollieren«, und nicht zu »sicheren Opfer[n] einer automatischen Notwendigkeit« zu werden. Verzeihen und Versprechen garantieren die Möglichkeit zur Realisierung eines weiteren Neuanfangs, zu dem die Menschen durch »das Faktum der Natalität« berufen sind und ohne das sie »für immer dazu verdammt wären, im Kreise der ewigen Wiederkehr eines in sich geschlossenen Werdens zu schwingen«. Das Wagnis der Öffentlichkeit kann und muss immer wieder neu eingegangen werden. Aber gerade, weil man nicht wissen kann, was daraus wird, sind die Handelnden angewiesen auf Vergebung und Versprechen. Aus diesem Angewiesensein entspringt für Arendt das Vertrauen in die Menschen, ohne das ihr Handeln nicht möglich wäre. Mit Hannah Arendt sei darum beschlossen:

»Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz aus Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. […] Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen in das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht.«




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Stefanie
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Mo 20. Mai 2024, 20:13

Die oben beschriebene Natalität ist ein Charakteristikum des Menschen. Wenn es nicht mehr möglich ist, einen Anfang zu setzen und Prozesse in Gang zu setzen, Neues geschehen zu lassen, ist kein Handeln mehr möglich. Ohne Anfang keine Freiheit. Ohne Freiheit kein Handeln. Laut Arendt ist die Zukunft offen. Dass die Zukunft offen ist und die Menschen frei sind, verantwortlich zu handeln, ist eine spezifische Freiheit im jederzeitigen Anfangen-Können. Denn die Bedingung der Natalität ermöglicht es den Menschen, in der Welt Initiativen zu ergreifen und gleichsam »selbst immer einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.
Sehr wichtig ist für Arendt die Pluralität. Die Pluralität bedeutet, man ist als Mensch unter Menschen und dies bedeutet, man ist in Beziehungen zu anderen. Diese Beziehungen setzen Freiheit voraus.
Das Handeln bedarf mit Hannah Arendt zweier Grundorientierungen: verzeihen und versprechen. Warum wird in den vorherigen Beiträgen beschrieben.
Arendt hat einen handlungsorientierten Freiheitsbegriff. Dazu einen positiven, d.h, sie definiert Freiheit nicht als "von etwas frei zu sein", also nicht um Rechte zu erkämpfen, um Frei zu sein und nicht mehr unterdrückt zu werden, ist für sie Befreiung. Freiheit hier ist hier das, was durch die Gebürtlichkeit einem mitgegeben wird. Mitgift nennt sie das.


Aus Vita activa, Piper Verlag, Taschenbuch Auflage 2007, Seite 306, 307
"Aber Verfehlungen sind alltägliche Vorkommnisse, die sich aus der Natur des Handelns selbst ergeben, das ständig neue Bezüge in ein schon bestehendes Bezugsgewebe schlägt; sie bedürfen der Verzeihung, des Vergebens und Vergessens, denn das menschliche Leben könnte gar nicht weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun. Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbin- den können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben, und nur in dem Maße, in dem sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheueres und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermaßen zu handhaben.
Der Akt des Verzeihens stellt in seiner Weise einen neuen Anfang dar.



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Jörn Budesheim
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Mi 22. Mai 2024, 06:46

Ich finde, diese Gedanken von Hannah Arendt sehr faszinierend. Ich weiß nicht mehr in welchem Faden es war, aber über die große Bedeutung des Vertrauens für gesellschaftliche Zusammenhänge haben wir hier im Forum schon mal gesprochen. Auch wenn sie die Begriffe teilweise etwas speziell verwendet, finde ich diese "Erweiterungen" wichtig.

„Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen..."

Mit "speziell" meine ich z.B. Folgendes: Verzeihen setzt ja begrifflich voraus, dass jemand Schuld auf sich geladen hat. Aber wenn jemand Böses tut, ohne zu wissen, was er tut, dann ist das doch eigentlich keine Schuld, oder?




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Stefanie
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Mi 22. Mai 2024, 20:14

Es geht nicht unbedingt um das Böse. Das wirklich Böse ist nicht verzeihbar. Sie verwendet nach Kant den Begriff das radikale Böse.

Ich hole mal etwas weiter aus.

Aus Vita Aktiva:

Denn Menschen sind immer fähig zu zerstören, was sie selbst gemacht haben, und ihre Zerstörungskapazität hat heute sogar den Punkt erreicht, wo sie zerstören können, was sie nie machten-die Erde und das Leben auf ihr; aber Menschen sind offenbar schlechterdings unfähig, die Prozesse, die sie durch Handeln in die Welt loslassen, wieder rückgängig zu machen oder auch nur eine verläßliche Kontrolle über sie zu gewinnen. Nicht einmal die großen Mächte des Vergessens und Verwir- rens, die so wirksam den Ursprung jeder einzelnen Tat und die Verantwortlichkeit für sie zu verdecken imstande sind, bringen es fertig, sie rückgängig zu machen und zu verhindern, daß sie Folgen hat. Und dieser Unfähigkeit, Getanes ungeschehen zu machen, entspricht einer fast ebenso große Unfähigkeit, seine Folgen vorauszusehen oder seine Motive verlässlich zu ergründen. (..)

Während Herstellungsprozesse ihre Kraft in der Herstellung verausgaben und in ihren jeweiligen Endprodukten erlöschen, erlischt die Kraft, durch die ein Handlungsvorgang entfesselt wurde, überhaupt nicht; keine einzelne Tat ist gewaltig genug. sie zu erschöpfen, und sie kann sogar nach vollendeter Tat, als sei nichts geschehen, noch anwachsen und die Folgen des Geta- nen anreichern. Was im Bereich der menschlichen Angelegen-heiten überdauert, sind diese einmal entfesselten Prozesse des Getanen, und ihr Andauern in den Folgen ist unbegrenzbar, begrenzt höchstens von dem Bestand der Menschheit auf der Erde, aber weder von der Sterblichkeit der Menschen noch von der Vergänglichkeit irdischer Materie. Der Grund, warum wir unfähig sind, das Resultat und das Ende einer Handlung mit Sicherheit im voraus zu bestimmen, ist einfach der, daß ein Ge- tanes kein Ende hat. Der durch eine einzige Tat entfesselte Prozeß kann buchstäblich in seinen Folgen durch die Jahrhunderte und Jahrtausende dauern, bis die Menschheit selbst ein Ende gefunden hat.

(...)
Diese ungeheure Zähigkeit des Getanen, das an Dauerhaftigkeit alle anderen Erzeugnisse von Menschenhand übertrifft, könnte eine Quelle menschlichen Stolzes sein, wenn Menschen imstande wären, diese Last von Unwiderruflichkeit und Un- vorhersehbarkeit, die gerade die eigentliche Kraft des Han-delns ausmachen, auf sich zu nehmen. Daß dies nicht möglich ist, hat man immer gewußt. Gewußt, daß kein Mensch, wenn er handelt, wirklich weiß, was er tut; daß der Handelnde immer schuldig wird; daß er eine Schuld an Folgen auf sich nimmt, die er niemals beabsichtigte oder auch nur absehen konnte; daß, wie verhängnisvoll und unerwartet sich das, was er tat, auch auswirken mag, er niemals imstande sein wird, es wieder rück- rängig zu machen: daß das, was doch nur er und niemand sonst begann, doch niemals unzweideutig sein eigen ist, un sich in keiner einzelenen Tat und schießlich, dass sogar der eigentlich Sinn dessen en selbst tut, sich nicht ihm dem Täter, (...)sondern nur dem rückwärts gerichteten Blick dessen, der sich die schließlich die Geschichte erzählt, offenbaren wird, also dem der gerade nich handelt.

S. 296 bis 298



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Stefanie
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So 26. Mai 2024, 21:22

Jörn
Mit "speziell" meine ich z.B. Folgendes: Verzeihen setzt ja begrifflich voraus, dass jemand Schuld auf sich geladen hat. Aber wenn jemand Böses tut, ohne zu wissen, was er tut, dann ist das doch eigentlich keine Schuld, oder?
Also, zumindest in meinen Büchern von und über Arendt habe ich im Zusammenhang mit Verzeihen nichts zur Schuld gefunden., also zu Deinem Beispiel. Kann es auch nicht. Es geht um das Verhältnis Handeln und Freiheit, und die sich daraus ergebenen Folgen. Auch um nicht beabsichtige Folgen.


Folgende aus Hauke Brunkhorst Hannah Arendt, c.h.beck Taschenbuch 1999
"Die Freiheit kommt aus dem Nichts und ist deshalb kausal weder durch Ursachen noch durch Gründe erklärbar. Arendt glaubt, anders als die meisten, zumeist analytischen Philosophen, die heute über das Problem der Handlungsfreiheit und Handlungs- erklärung diskutieren, daß sich der Hiatus zwischen Rationalität und Freiheit ebensowenig überbrücken läßt, wie der zwischen Kausalität und Freiheit. Für sie ist das „Ereignis" freier Aktivitäten deshalb stets unerwartet und võllig unerrechenbar". Handlungen sind unvorhersehbar" und „brechen" mit „unendlicher Unwahrscheinlichkeit" in die Welt".. Arendt spricht denn auch ganz bewußt theologisch von einem Wunder. Sie beruft sich in diesem Zusammenhang auf Jesus von Nazareth, dem sie ein ganz außerordentliches Verständnis für Freiheit und die Macht, die menschlicher Freiheit innewohnt", bescheinigt. In Jesus sieht sie den „Entdecker" der „Unvorhersehbarkeit menschlichen Handelns", der zum ersten Mal in der Geschichte Freiheit mit radikaler Kontingenz verbunden habe, und als Beleg zitiert sie das bekannte Jesuswort: „Denn sie wissen nicht, was sie tun"
Daraus erklärt sich auch die herausragende Rolle des Verzeihens in Arendts Handlungstheorie. Wenn es wahr ist, daß wir nicht wissen, was wir tun, dann können wir, um die Permanenz verletzender Folgen und Nebenfolgen unseres vergangenen Tuns zu korrigieren, gar nichts anderes machen, als uns ständig gegenseitig zu verzeihen, und genau diese Konsequenz hatte Jesus von Nazareth dann ja auch gezogen. Arendt interpretiert das Verzei-hen als spontane kommunikative Leistung, die die Last vergange ner Gewalt aus unserem Leben nimmt."

Ein noch ziemlich aktuelles Beispiel. Aufgrund der bisher hier gemachten Erfahrungen zu dem Thema habe ich gezögert, aber ich finde es passt.
Zitat Jens Spahn am Beginn der Corona Krise : "Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen"
Es geht um staatliches Handeln, aber nicht nur. Also auch im individuelles Handeln. Es geht um mögliches kollektives Verzeihen, aber auch um individuelles Verzeihen. Man kann bei allen Handlungen nicht sagen, es wurde vorsätzlich und bewusst jemand geschädigt. " Böses" handeln auch nicht. Und doch gab es auch schwere negative Folgen.

Wir tun uns schwer mit Verzeihen, dafür sind wir offenbar schnell im Vergessen. Letzteres ist ja keine Lösung, und kein Neuanfang im Sinne von Arendt.



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Jörn Budesheim
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So 26. Mai 2024, 21:26

Stefanie hat geschrieben :
So 26. Mai 2024, 21:22
Also, zumindest in meinen Büchern von und über Arendt habe ich im Zusammenhang mit Verzeihen nichts zur Schuld gefunden...
Ich sage ja auch nicht, dass sich das bei Hannah Arendt finden wird, sondern dass sich das im normalen Sprachgebrauch findet, wenn man von Verzeihen spricht. Deswegen sage ich, dass ihre Begriffsverwendung speziell ist. Das ist für mich aber kein Einwand gegen ihren Grundgedanken, sondern einfach eine beiläufige Bemerkung gewesen.




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Stefanie
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So 26. Mai 2024, 21:36

Alles gut... Mein Gedächtnis ist nicht unendlich, und so kam ich mal wieder zum Lesen..
Natürlich kam mir erstes als das Strafrecht ein, schuldunfähig. Die Frage, ob eine solche Tat eines Schuldunfähigen verziehen werden kann, stellt sich aber trotzdem. Als Opfer oder als Angehörige eines Opfers, muss man mit der Tat, die Handlung, leben. Es gibt Folgen, Nebenfolgen, für das Opfer und für den Täter, wenn dieser oder diese realisiert, was passiert ist. Sie leben mit den Folgen. Es stellt sich durchaus die Frage, ob Verzeihen nicht die Möglichkeit ist, im Sinne von Arendt als Neuanfang zu verzeihen.
Verzeihen ist kein Muß.
Nach Arendt ist das Gegenteil von Verzeihen die Rache.



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Stefanie
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Mi 5. Jun 2024, 15:03

Zum Versprechen.




Herr Scobel ist in dem Video zum Thema Moral auch auf das Versprechen nach Hannah Arendt eingegangen.
Es ist sehr interessant. Ich habe das Gesagte umwandeln lassen, und hier ist ein Teil zum Thema Versprechen. Das mit dem Text umwandeln läuft nicht reibungslos. Ich denke, es lässt sich aber gut lesen.

In ihren (Arendt) Augen ist das Versprechen also unsere Fähigkeit, einander etwas zu versprechen und uns auch daran zu halten. Der Grundstein von Moral ist, dass ein Versprechen zu geben bedeutet, dass man der Zukunft die Gegenwart und die Vergangenheit im Modus des nicht vergessen wollen garantiert. Also angenommen man gibt einander ein Versprechen. Dann bedeutet dieses Versprechen, dass man der Zukunft dem, was noch kommt eine Gegenwart geben will.
Man will ja, dass das, was man jetzt verspricht auch den Zukunft geschieht und damit (man) weiterhin, nämlich in der Zukunft eine Gegenwart hat. Räumt man dem was man verspricht, nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft, tatsächlich Gegenwart ein und das will sagen die Wirklichkeit. Das Versprechen bleibt also keine bloße Fiktion, nicht etwas nur Gesagtes oder dahin gesagtes sondern wird umgesetzt. Man will sich daran halten es verwirklichen.
Zweitens bedeutet einander etwas zu versprechen, aber auch dem was heute ist, eine Vergangenheit zu geben, denn wenn ich jetzt handle setze ich jetzt gerade also in der Gegenwart das um, was ich in der Vergangenheit, wie fern oder nah die auch immer ist, bereits versprochen habe.
Ich handle also im Modus in der Art und Weise des nicht vergessen Wollens weder was die Vergangenheit noch was die Zukunft betrifft und damit garantiere ich dem Versprechen seine Wirklichkeit.
Noch mal ein Versprechen zu geben bedeutet, dass man der Zukunft die Gegenwart und die Vergangenheit im Modus des nicht vergessen Wollens garantiert, also wir garantieren uns und anderen etwas, und genau das aufrechtzuerhalten. Ist der Kern moralischen Handelns.

Dahinter steht eine, wie ich finde sehr realistische Überlegung, dass wir ein Versprechen über die Zeit hinweg überhaupt als etwas Besonderes wahrnehmen, liegt daran begründet, dass wir in Wahrheit die Wirklichkeit als etwas Unberechenbares brüchiges, unregelmäßiges und chaotisches empfinden.
Das was jetzt ist und dann morgen sein wird, erleben wir philosophisch gesprochen als Kontingent. Das heißt als nicht notwendig. Es könnte eben auch anders sein oder anders kommen.
Das Versprechen ist der Grundpfeiler der Moral, weil es einerseits mit unserem Gewissen vereinbar ist, (…) anderseits ist es auch mit dem praktischen Handeln verbunden.
Mit dem Willen selber verlässlich zu sein und verlässlich zu bleiben, dass heißt inmitten dieser unplanbaren und unberechenbaren Wirklichkeit selbst freiwillig berechenbar zu sein für andere, in dem was man tut. Ein Versprechen ist eine entschiedende Selbstfestlegung. Aber in Freiheit und nur dann ist es auch ein echtes Versprechen, denn ohne Freiheit wäre eine solche Festlegung ja nichts anderes als Zwang oder Notwendigkeit.

Und was ist nun wenn ich ein solches Versprechen breche. Dann muss ich vor der Stimme des Gewissens und im Angesicht anderer Menschen buchstäblich sagen, dass ich mich damals, also als ich das Versprechen gegeben habe, irgendwie versprochen habe, ich habe etwas anderes versprochen, ich habe mich vertan, ich wollte dem was ich da damals gesagt habe in der Vergangenheit nicht wirklich eine Garantie für die Zukunft geben. Das kann arglistige Täuschung gewesen sein oder auch einfach ein folgenreicher Irrtum man hat sich z.B selber überschätzt. Sich versprechen bedeutet gerade dann einander nicht treu zu bleiben mit dem Blick auf das was man versprochen hat. Es bedeutet dann so viel wie ja hier habe ich mich vertan ich will daran jetzt überhaupt nicht mehr erinnert werden was ich gestern gesagt habe oder was geht mich mein Geschwätz von gestern an. Genau darin liegt die Doppeldeutigkeit des Wortes versprechen. sich versprechen kann das eine wie das andere bedeuten.
(…) Dass wir einander Dinge versprechen, ist daher nur dann berechtigt und auch gut, insofern wir es nicht leicht hin tun. Jemand der oder die etwas verspricht ohne die Möglichkeit zu haben dieses Versprechen überhaupt umzusetzen kann es auch nicht wirklich versprechen, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten und nämlich dann hinzufügen okay ich würde es dir gerne versprechen aber ich kann es nicht halten.



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Stefanie
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Do 6. Jun 2024, 19:13

Das ist die Stelle, auf die sich Herr Scobel beruft:

Hannah Arendt, Denktagebuch, Seite 135/136 :
(...) Wie muß der Mensch, um dermaßen über die Zukunft voraus zu verfügen, ... selbst vorerst berechenbar, regelmäßig, notwendig geworden sein,... um ... für sich als Zukunft gut sagen zu können.
Hier, und nicht in der Umwertung der Werte und nicht im verkehrten Platonismus, liegt die Stiftung einer neuen "Moral". Das Versprechen ist so zentral das moralische Phänomen par excellence, wie der aus dem Vermögen zum Versprechen hervor gehende Kontrakt das zentrale politische Phänomen ist. (Wie merkwürdig, dass Nietzsche, nachdem er die Genealogie der Monal ausdrücklich mit dem Versprechen als einem positiven Phänomen begonnen hatte, sich so nachlässig verächtlich über die Vertragstheorie äussern konnte.) Hier liegt auch der echte, nicht weltgeschichtliches, Zusammenhang zwischen Geschichte und Politik; insofern das Versprechen das Gedächtnis des Willens ist, stiftet es Geschichte. Das Gedächtnis auf die Zukunft, das der Zukunft und die Vergangenheit im Modus des Nicht-vergessen-Wollens garantiert.
Dabei ist wesentlich, dass man - im Gegensatz zu Nietzsche, weder sich selbst noch die Umstände als berechenbar vorstellt; das Grossartige am Versprechen ist, dass es gerade im Meterial des Unberechenbaren, zu dem man selbst noch gehört, etwas Verlässliches aufstellt. Das Wesentliche aller Moral sollte sein, dass nur Versprechen gelten innerhalb einer Welt, die man prinzipiell unberechenbar, unregelmässig, un-notwendige belässt; innerhalb der Menschenwelt heisst das, dass es ausserhalb des Versprechens keine Moralisiererei geben darf, dass das Spontane nur an dem Versprechen seine Grenze finden darf, dass andererseits diese Grenze absolut sein muss. In die sem Sinne ist auch das Folgende allein zu verstehen: Dieser Freigewordne, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens, dieser Souverän - wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nicht... für sich selbst gutsagen darf.... Der freie Mensch, der Inhaber eines langen, unzerbrechlichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein Wertmass. Der Stolz (die Ehre des Menschen) ist gerade, im Unberechenbaren Verantwortung zu übernehmen, das stolze Wissen... dieser Macht über sich und das Geschick.
September 1951



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