Wir Flüchtlinge

Hannah Arendt war eine jüdische deutsch-amerikanische politische Philosophin, Theoretikerin und Publizistin.
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Stefanie
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Sa 16. Dez 2023, 19:05

Das Essay "Wir Flüchtlinge" von Arendt stammt aus dem Jahr 1943. Es wurde erst 1986 ins Deutsche übersetzt.
Die folgenden, kurzen Auszüge aus diesem Essay sind folgender Ausgabe entnommen: Hannah Arendt "Wir Flüchtlinge" mit einem Essay von Thomas Meyer Reclam 2016

Auszüge Text Hannah Arendt
"Seite 9
Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs Flüchtling gewandelt. Flüchtlingee sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.
Seite 10
Unsere Zuversicht ist in der Tat bewundernswert auch wenn diese Feststellung von uns selbst kommt. Denn schließlich ist die Geschichte unseres Kampfes jetzt bekannt geworden. Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ung-ezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen,unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unser privaten Welt.
Seite 22ff
Unsere neuen Freunde, die von so vielen Berühmteiten ziemlich überwältigt sind, verstehen kaum, dass sich hinter allen unseren Schilderungen vergangener Glanzzeiten eine menschliche Wahrheit verbirgt: dass wir nămlich einst Menschen gewesen sind, um die sich andere gekümmert haben, dass unsere Freunde uns gern hatten und dass wir sogar bei den Hausbesitzern dafür bekannt waren, dass wir unsere Miete pünklich zahlten. Es gab eine Zeit, da konnten wir einkaufen und U-Bahn fahren, ohne dass uns jemand sagte, wir seien unerwünscht. Wir sind ein wenig hysterisch geworden, seit Zeitungsleute damit angefangen haben, uns zu entdecken und uns offentlich u erklären, wir sollten aufhören, unangenehm aufzufallen, wenn wir Milch und Brot einkaufen. Wir fragen uns, wie das zu bewerkstelligen sei; wir sind schon so verdammt vorsichtig bei jedem Schritt in unserem Allag, um ja zu vermeiden, dass jemand errät, wer wir sind, welche Sorte von Pass wir haben, wo unsere Geburtsurkunden ausgestellt worden sind (...). Wir tun unser Bestes, um in eine Welt zu passen, in der man zum Einkaufen von Lebensmitteln eigentlich eine politische Gesinnung braucht. (...) lch werde nie jenen jungen Mann vergessen, von de man die Annahme einer bestinmten Arbeit erwartete und der daraufhin aufseufzte: Sie wissen nicht, mit wen Sie sprechen; ich war Ateilungsleiter bei Karstadt in Berlin. Aber es gibt auch jene tiefe Verzweiflung eines Mannes im mittleren Alter, der das endlose Hin und Her verschiedener Komitees über sich ergeben ließ, um gerettet zu werden, und schließlich ausrief: Und niemand weiß hier, wer ich bin. Da ihn keiner als ein menschen-wúrdiges Wesen behandelte, fing er an, Telegramme an große Persönlichkeiten und an seine bedeutenden Verwandten zu schicken. Er lernte schnell, dass es in dieser verrückten Welt viel leichter ist, als großer Mann akzeptiert zu werden denn als menschliches Wesen. Je weniger wir frei sind zu entscheiden, wer wir sind oder wie wir leben wollen, desto mehr versuchen wir, eine Fassade zu errichten, die Tatsachen zu verbergen und in Rollen zu schlüpfen. (...)
Seite 25
Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind. "



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Stefanie
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Sa 16. Dez 2023, 19:15

Das Essay von Thomas Meyer gibt glücklicherweise komplett hier:
Meyer bringt darin auch noch Ausssagen von Arendt aus ihrem Werk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" .

Laut Meyer plädiert Arendt gegen die Anstrengung der Assimilation und für ein neues, ein politisches Selbstbewusstsein der Flüchtlinge, für ihre Sache einzutreten.
Zitat:
Es waren zumeist Einzelne, kleinere Gruppen allenfalls. Erst seit dem ersten Weltkrieg sind es ganze Völkerschaften, die sich im Niemandsland der Rechtlosigkeit befinden. Und auch für sie spricht Ahrendt, wenn sie schreibt,
„Unsere Identität wechselt so häufig, daß keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind.“
Einige Jahre später wird Arendt ihre Überlegungen in ihrer Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ so zusammenfassen.
Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.
Dem Flüchtling steht nichts mehr zur Verfügung: weder Beruf noch Sprache, weder Emotionalität noch Handlungsoptionen. Er hat keine Teilhabe mehr an dem, was man Kultur nennt. „Weltlosigkeit“, „stumme Individualität“, „lebender Leichnam“ – er ist der Andere, der Outlaw, ausgeschlossen aus der Gesellschaft – und zugleich vollständig von ihr abhängig.
Meyer zitiert Arendt:
„Der Verlust der Menschenrechte findet also nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verloren geht, sondern nur, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.“

Zitat meyer
Dass das Ende des Nationalstaats ein dramatisches Machtvakuum hinterlassen hat, wird jedem klar, der die Entwicklungen in Afghanistan, Libyen und vielen afrikanischen Staaten beobachtet. Die sogenannte internationale Gemeinschaft ist bis heute offensichtlich nicht in der Lage, die Verantwortung für zerbrochene Staaten und entrechtete Völker zu übernehmen. Insofern stimmt Arendts Analyse noch immer. Und dass dies sich in der Figur des Flüchtlings konzentriert, diese Einsicht verdanken wir ausschließlich Hannah Arendt.



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Stefanie
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Do 21. Dez 2023, 12:41

Viele Beschreibungen von Hannah Arendt zur Situation von Flüchtlingen passen durchaus auch heutzutage auf die Situation von Flüchtlingen.
https://www.zeit.de/kultur/2018-12/fluc ... il-10nach8

Fluchterfahrungen

Mein Name ist Flüchtling
In einem Essay beschrieb Hannah Arendt 1943, wie Geflüchtete mit dem Verlust der Heimat umgehen und sich eine neue aufbauen. Ich erkenne darin viele Parallelen zu heute.
Von Rosa Yassin Hassan

(...)
Mir ging es genauso, wie du (Anm. von mir: Hannah Arendt ist gemeint) es beschriebst: Wenn wir gerettet werden, beleidigt man uns, wenn uns geholfen wird, sind wir enttäuscht und fürchten uns davor, zu Bettlern zu werden. Das wurde bei mir zu einer fixen Idee, und alles in meiner Umgebung bestätigte dieses Gefühl noch: vom wütenden Gebrummel des Busfahrers bis hin zu meiner deutschen Nachbarin, die mich stets anstarrt, als sei ich ein Wesen von einem anderen Stern. Oder wenn ich gefragt werde, ob es bei uns in Syrien Kühlschränke gebe oder Flughäfen und ob die Mädchen in die Schule gingen. Oder wenn mir von einer Jobcenter-Angestellten gesagt wird, Schreiben sei kein Beruf. Wie kann man dieser Frau erklären, dass die moderne westliche Kultur zu einem großen Teil das Werk von Migranten, Neuankömmlingen, Flüchtlingen und Exilierten ist?
(...)
Denn immer wieder bekräftigten die Vorurteile der Deutschen mein Gefühl, sie hätten ein kollektives Bild von uns und stempelten uns als Araber ab, die alle aus demselben rückständigen, verschlossenen Landstrich in der Wüste kommen. Einmal forderte mich sogar jemand auf, ihm nicht zu nahe zu kommen, weil er unter Kamelhaarallergie leide. Kamelhaar?! Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Kamel gesehen! Hier kennt mich niemand, niemand begreift hier, wer und was ich bin, denn ich bin Teil einer großen Herde. Genau wie der kleine Dackel in deinem Brief, liebe Hannah, der im Exil durch die Straßen läuft und behauptet, in seiner Heimat ein Bernhardiner gewesen zu sein.
(...)
Wir können Suizid begehen und gleichzeitig am Leben bleiben, etwa durch Alkohol- und Drogenkonsum, durch Defätismus. Selbstmord auf stille, zurückhaltende Art und Weise ..., das ist es, was wir Flüchtlinge heute durchmachen. Wir haben unser Leben und unsere Umwelt nicht aus freien Stücken erschaffen, und es steht uns frei, unser Leben fortzuwerfen und die Welt auf die von uns gewählte Art zu verlassen. Es ist gleichsam ein Aufstand gegen das Leben und eine Rebellion gegen die Unterdrückung.

(...)
Doch obwohl der Tod seinen Schrecken für uns verloren hat, wollen und können wir unser Leben nicht mehr aufs Spiel setzen für ein beliebiges Anliegen. Wir sind müde, genau wie ihr damals müde wart, verzweifelt, und wollen nur noch überleben. Wir haben keine Kraft mehr, unsere Rechte zu verteidigen, und die meisten von uns suchen nur noch nach der eigenen Erlösung. Wir sind diese neue Art menschlicher Wesen, über die du geschrieben hast, Menschen, die vom Feind ins Gefängnis gesteckt werden und vom Freund in gefängnisähnliche Lager. Genauso geschieht es mit uns. Wir sind Wesen anderer Art, doch für die anderen sind wir alle gleich. Wir tragen den Schrecken mit uns, wohin wir auch gehen, und rivalisieren mit den anderen um ein Stück Brot und ihre Sicherheit. Vielen ist nicht bewusst, dass wir Menschen sind wie sie, ohne biologische Andersartigkeit, und dass die Zeitläufte sich weder beherrschen noch vorhersehen lassen. Wer hätte geglaubt, dass uns eines Tages dieses Schicksal zuteilwürde?



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Timberlake
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Do 21. Dez 2023, 14:34

Stefanie hat geschrieben :
Sa 16. Dez 2023, 19:15

Zitat meyer
Dass das Ende des Nationalstaats ein dramatisches Machtvakuum hinterlassen hat, wird jedem klar, der die Entwicklungen in Afghanistan ....
Dazu nur mal zur Info ...
ipg-journal.de hat geschrieben :
Ende mit Schrecken

Allein die Kosten des Afghanistankrieges für die USA werden zwischen 2001 und 2017 auf 2,4 Billionen US-Dollar geschätzt. Es gibt keine vergleichbaren Angaben für die anderen 38 NATO-Verbündeten. Aber es wäre wohl nicht allzu vermessen anzunehmen, dass die Gesamtkosten des Krieges bis zu einem endgültigen Abzug vier Billionen US-Dollar erreichen könnten. Das würde dem Doppelten des jährlichen BSP des gesamten afrikanischen Kontinents entsprechen. Was hätte man mit solchen Beträgen alternativ machen können; gerade mit Blick auf die Flüchtlingsströme?

Es ist doch immer wieder erstaunlich , wie leicht man es sich mit den Kriegskosten tut. Kosten , die mitunter zu eben jenen Flüchtlingsströme führen, bei denen man sich tatsächlich fragen könnte , was hätte man mit solchen Beträgen bezüglich dessen alternativ machen können.

ipg-journal.de hat geschrieben :
Ende mit Schrecken

Durchführung des deutschen Militäreinsatzes. Auch müssen wir uns die Frage stellen, warum Afghanen eine Kollektivschuld für die Terrorangriffe vom 11. September 2001 bezahlen mussten. Es war doch kein einziger Afghane an den 9/11-Terrorangriffen beteiligt. Sie sind auch nicht in Kabul oder Kandahar, sondern in Hamburg geplant worden. Und doch haben Afghanen mit mindestens 160 000 Kriegstoten, unzähligen Kriegsversehrten, 2,5 Millionen Binnenvertriebenen und 2,7 Millionen Flüchtlingen einen sehr hohen Preis dafür gezahlt – und sie werden diesen auch in Zukunft noch zahlen müssen. Nach UNHCR-Angaben sind Afghanen – und nicht Syrer – heute die größte Gruppe, die in Europa um Asyl ersucht.
Ganz abgesehen von den mindestens 160 000 afghanischen Kriegstoten, unzähligen Kriegsversehrten, 2,5 Millionen Binnenvertriebenen und 2,7 Millionen Flüchtlingen. und das obgleich kein einziger Afghane an den 9/11-Terrorangriffen beteiligt war. Der einzige und alleinige Grund war , dass sich die Taliban weigerten , den Strippenzieher dieser Anschläge an die USA aus zu liefern.




"1000 akut bedrohte Menschen pro Monat sollte das Programm ab Oktober 22 in Sicherheit bringen . ...Aus dem Bundesinnenministerium hieß es auf Anfrage: "Mit Stand 04.10.23 sind bisher 13 Personen nach Deutschland eingereist"




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Jörn Budesheim
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Fr 22. Dez 2023, 13:46





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