"Morgen früh, wenn Gott will, ...

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
Nauplios
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... wirst du wieder geweckt."

Ich singe den Text immer etwas ungewandelt,
weil ich es auch makaber finde.
Singe stattdessen einfach "w a n n Gott will"

(Ein BabyCenter Mitglied)
https://www.babycenter.de/p25267/guten-abend-gute-nacht

Daß hier das Ungewandelte ursprünglich umgewandelt werden sollte, liegt auf der Hand, doch selbst als Umgewandeltes bliebe es ungewandelt, sofern der göttliche Weckdienst sich im Wann Zeit lassen könnte, viel Zeit, ist doch nach dem Wort des Petrus ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre. Da kann "morgen früh" lange dauern. "Gott kommt nicht zu spät", tröstet das Bibelcenter die Befürchtungen des Babycenters. (http://www.bibelcenter.de/bibel/studien ... std115.php)

Vertrauen in das Wann zu haben ist das eine, es auch ins Wenn zu haben, erfordert Zuversicht. "Makaber" nennt das der Zeitgenosse. Das Makabere am Makaberen ist, daß im arabischen maqbara ein Bezug zum Friedhof steckt. "Morgen früh" heißt auf dem Friedhof: am jüngsten Tag. Immerhin.

Es gibt das Brahm´sche Wiegenlied auch in einer niederdeutschen, diskurstheoretischen Variante:

"Morgen frö wills God, wöl wi uns wedder spreeken." (Johann Friedrich Schütze)

Darüber wird zu spreeken sein - wie auch über die Ablösung des voluntaristischen Gottes des Spätmittelalters durch die humane Selbstbehauptung. Insofern kann dieser Thread ein Ausläufer des ordo planetarum-Threads sein.




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Jörn Budesheim
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"Morgen früh, wenn Gott will, ...
Ich kann mich daran noch erinnern. Das "wenn" ist mir niemals unangenehm aufgefallen - als Drohung etwa oder was auch immer. Seltsam kamen mir eher die Näglein oder Nelken (ich habe es nie richtig verstanden) vor, doch auch das hat mich nie weiter beschäftigt ... denn das alles trat zurück hinter das lange ühh und die Stimme meiner Großmutter :-) es ist schließlich ein Lied!




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Friederike
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Nauplios hat geschrieben :
So 18. Aug 2019, 20:16
"Morgen frö wills God, wöl wi uns wedder spreeken." (Johann Friedrich Schütze)

Darüber wird zu spreeken sein - wie auch über die Ablösung des voluntaristischen Gottes des Spätmittelalters durch die humane Selbstbehauptung. Insofern kann dieser Thread ein Ausläufer des ordo planetarum-Threads sein.
Gottes Wille gegen den Willen eines oder des Menschen? Gott wird jedenfalls als Person gedacht, denn nur Personen kommt es zu, einen Willen zu haben; sich, ihre Identität, ihre Interessen zu behaupten und durchzusetzen zu suchen.

VU: Dein Wille geschehe. Das ist aber nur dann ein Akt der Unterwerfung, wenn Gott und der menschliche Wille einander bekämpfen. Wenn Gottes Wille nun als ein guter Wille gedacht wird? Ein Willen zum Guten.

Das würde bedeuten, daß Gott in keiner Weise eingreift, weder Tod/Sterben noch Leben, und natürlich schon gar nicht in Peanuts-Alltagsangelegenheiten. Der gute Wille zeigt sich alleine darin, zur Verfügung zu stehen - als die Möglichkeit für den Menschen, das Allerbeste für sich zu wünschen.




Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 05:35
"Morgen früh, wenn Gott will, ...
Ich kann mich daran noch erinnern. Das "wenn" ist mir niemals unangenehm aufgefallen - als Drohung etwa oder was auch immer. Seltsam kamen mir eher die Näglein oder Nelken (ich habe es nie richtig verstanden) vor, doch auch das hat mich nie weiter beschäftigt ... denn das alles trat zurück hinter das lange ühh und die Stimme meiner Großmutter :-) es ist schließlich ein Lied!
Der Anlauf im Oktavintervall zum langen "ü" ist die gleichsam der Sprung in die Zuversicht der Transzendenz, daß ein pastor bonus, ein guter Hirte, mich aus dem Kontrollverlust des Schlafs zurück in die Wachheit der Welthabe führt. Schlaf und Schaf, Hirte und Wächter - das ist das Quadrivium, in dem sich diese vier Wege kreuzen. Als guter Hirte wacht Gott über den Schlaf seiner Schafe. Im Gut-sein dieses Hirten verbirgt sich ein verspäteter Cartesianismus, der Gott nicht anders als Inbegriff des Guten denken kann. In der Existenz Gottes liegt seine Vollkommenheit und seine Wahrhaftigkeit beschlossen. Gott erhält mich. Und Gott erhält auch die Welt. Und damit ist er der Garant für das Sosein der Wirklichkeit. Das Bewußtsein wird davon getragen, daß Gott nicht kann, was er könnte - eine Paradoxie für theologische Facharbeiter. Genau diese Garantieleistung für den Erhalt der Welt durch eine göttliche Instanz, welche Descartes als Nexus zwischen res cogitans und res extensa einsetzt, läßt ihn zum letzten "mittelalterlichen" Denker werden und nicht zum Inaugurator der Neuzeit. Die Neuzeit setzt an die Stelle der transitiven Erhaltung (Gott erhält die Welt) die intransitive: Die Welt erhält sich ohne göttliche Stützung.

Die "Näglein" entpuppen sich überraschend als "Gewürznelken", welche die Form von Nägeln haben und für die Nägel stehen, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde - also eine Symbolleistung für ruhigen und erholsamen Schlaf.




Nauplios
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Friederike hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 15:35
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Aug 2019, 20:16
"Morgen frö wills God, wöl wi uns wedder spreeken." (Johann Friedrich Schütze)

Darüber wird zu spreeken sein - wie auch über die Ablösung des voluntaristischen Gottes des Spätmittelalters durch die humane Selbstbehauptung. Insofern kann dieser Thread ein Ausläufer des ordo planetarum-Threads sein.
Gottes Wille gegen den Willen eines oder des Menschen? Gott wird jedenfalls als Person gedacht, denn nur Personen kommt es zu, einen Willen zu haben; sich, ihre Identität, ihre Interessen zu behaupten und durchzusetzen zu suchen.

VU: Dein Wille geschehe. Das ist aber nur dann ein Akt der Unterwerfung, wenn Gott und der menschliche Wille einander bekämpfen. Wenn Gottes Wille nun als ein guter Wille gedacht wird? Ein Willen zum Guten.

Das würde bedeuten, daß Gott in keiner Weise eingreift, weder Tod/Sterben noch Leben, und natürlich schon gar nicht in Peanuts-Alltagsangelegenheiten. Der gute Wille zeigt sich alleine darin, zur Verfügung zu stehen - als die Möglichkeit für den Menschen, das Allerbeste für sich zu wünschen.
Gottes Willen gegen den menschlichen Willen - das ist ein Gedanke, der im Übergang vom Spätmittelalter in die Neuzeit noch nicht reif ist. Bei Nietzsche wird der Mensch zum Titan; da kann sich dieser Gedanke entfalten; aber das Ende des Mittelalters kommt nicht durch eine Selbstermächtigung, sondern wird gleichsam aus der Zuspitzung einer Gottesvorstellung eingeleitet, welche Gott alles zutraut, sogar die Möglichkeit der Täuschung. Die Welt kann in jedem Augenblick zusammenstürzen; es ist in die absolute Willkür Gottes gestellt, ob sie im nächsten Moment noch existiert oder nicht. In ihrem Erhalt bleibt die Welt dann immer auf externe Unterhaltsleistungen angewiesen; auch noch bei Descartes. Erst mit Newton und Leibniz wird die Welt ein kontinuierlicher Zusammenhang von Dingen, die untereinander verknüpft sind, deren Existenz aber nicht von göttlichen Verknüpfungsleistungen zwischen (seinem) Geist und der Materie abhängig sind. Die Welt in ihrer Wirklichkeit kann nun als bestimmt von in ihr lebenden Subjekten gedacht werden, die sich auf die Welt als Wirklichkeit beziehen können. War die Welt bis dahin von einer Außenperspektive bestimmt und im Erhalt auf dieses Außen angewiesen, tritt nun die Innenperspektive auf den Plan in Gestalt einer rationalen Selbstbehauptung. Damit ist kein Machtkampf gegen Gott eröffnet. Das Welt- und Wirklichkeitsverständnis ändert sich. Die Perspektivenänderung von Außen nach Innen führt zu einem Verständnis der Wirklichkeit als eines wissenschaftlich erforschbaren Zusammenhangs, der die Augustinische curiositas aus dem Lasterkatalog streicht und als Agenten der Selbstbehauptung rehabilitiert. Das Buch der Natur war mit Galilei in der Sprache der Mathematik geschrieben. Die kopernikanische Welt ist die Welt, in der alsbald mit Fernrohr und anderen Hilfsmitteln sich ein neuer Blick auf die Ordnung der Planeten und Dinge etabliert. -

Die neuzeitliche Selbstbehauptung entsteht aus einer Not zur Selbstbegründung. Als Selbstermächtigung gegen Gott wäre sie letztlich in mittelalterlicher Denkbewegung verhaftet geblieben. Gott oder der Mensch. -




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Jörn Budesheim
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Mo 19. Aug 2019, 18:54

Nauplios hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 17:40
... mich aus dem Kontrollverlust des Schlafs zurück in die Wachheit der Welthabe führt.
Es ist ein Kontrollverlust, denn man kann sich im Schlaf ja in aller Regel nicht dazu entschließen, aufzuwachen. Ich weiß nicht, ob ich als Kind jemals darüber nachgedacht habe. Ich denke auch, dass Kinder (und nicht nur die) irgendeine Form von Vertrauen oder Gelassenheit gegenüber der Welt haben müssen, also eine grundlegende Bereitschaft, manche Kontrollverluste hinzunehmen. Es wäre schrecklich, wenn man aus Angst vor dem "Nicht-wieder-aufwachen", "nicht-wieder-einschlafen" könnte. (ich habe eine sehr, sehr vage Erinnerung, dazu mal eine Kurzgeschichte gelesen zu haben, vielleicht von Bichsel?) Das könnte man (auch ich als Atheist) durchaus Gottvertrauen nennen, vielleicht auch Weltvertrauen, vielleicht auch Welthinnahme.

Und wenn die Oma das Lied zum hundertsten Mal gesungen hat, werden irgendwann auch die Nägel zur Selbstverständlichkeit :-)

[Offtopic] Sind Kinder, die zur Welt kommen, nicht genau wie der Höhlenbewohner Platons, der zur Welt/zur Sonne kommt? Und wiederholt sich das nicht jede Nacht? Die Idee ist so naheliegend - merke ich gerade- dass es darüber sicher viel Lesestoff geben dürfte :-) [/Offtopic]

Wie auch immer: Ich glaube, am wichtigsten waren mir der "Ritus", die Stimme und meine Oma :) Falls mich nicht alles täuscht, saß sie am Bett und sang, ungefähr in Kopfhöhe, so dass im Wesentlichen ihre schöne Stimme wirkte. Ich weiß noch, dass ich das wirklich sehr mochte. Deswegen dürfte der Unterschied zwischen "wenn" und "wann" kaum ins Gewicht fallen. Zudem ist doch klar, dass über das "wann" in der Regel ziemlich weltliche Ordnungen bestimmen: Arbeit/Kindergarten/Frühstück/Schule etc. und nicht Gott. "Wenn" ist also das eindeutig größere Wunder - was vermutlich wissenschaftlich gut erforscht sein dürfte.




Nauplios
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Mo 19. Aug 2019, 19:26

Descartes wird in den modernen Geschichtsschreibungen gerne an den Anfang der Neuzeit gestellt. Das bietet sich für den Urvater des Rationalismus auch an; man darf aber nicht außer Acht lassen, daß der Rationalismus Descartes im wesentlichen ein methodenstrenger Rationalismus war, ausgerichtet auf die kognitive Bewältigung der Welt. Das unerschütterliche fundamentum inconcussum ist dort, wo Vernunft waltet, wo es um ein methodisches klares und deutliches Wissen und Erkenntnis geht. - Aber wie ist das im Handeln des Menschen in ethischen Belangen? - Descartes hat hier bekanntlich eine morale par provision entwickelt, die dem Ideal des honnete homme verpflichtet ist. "Par provision", das heißt aber eben gerade, daß hier nichts endgültig, nichts sicher, nichts inconcussum ist, sondern daß dieser Moral etwas Vorläufiges anhaftet, etwas, das auf Widerruf gilt, ein Provisorium. Daß der Rationalismus seinerseits ein Akt der Problembewältigung philosophiehistorischer Altlasten ist und als solcher eine Notlösung, macht ihn selbst zu einem Provisorium, freilich zu einem, das sich im Gefolge und Erfolge des späteren Gangs der Geschichte und Wissenschaft zu einem robusten Provisorium entwickelt hat. Es bleibt, daß auch die Vernunft und der vernünftige Umgang mit ihrer Vorläufigkeit ein Provisorium ist, eingelassen ins Fundament der Moderne.

Johann Heinrich Lambert schreibt im 18. seiner Cosmologischen Briefe über die Einrichtung des Weltbaues, 1761, die Astronomie sei unerschöpflich, "daß wir uns nothwendig mit Hypothesen begnügen müssen, und nun nur so viel einsehen wie diese Hypothesen nach und nach weiter ausgebreitet und zusammengesetzter gemacht werden müssen. Sie gehen durch unzählige Stuffen näher zum Wahren und mit jeder Stuffe fängt ein neuer Maaßstab von Raum und Zeit an." (Cosmologische Briefe; 264) - Sein Fazit ist, "daß wir noch lange nicht genug Copernicanisch denken". (134) - Weltmodellen haftet das Vorläufige an; sie stehen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Damit wird aber auch - unter Verzicht auf theologisch Definitives - das Sinnverlangen an eine metaphysisch vorversicherte Wirklichkeit nur mit provisorischen Auskünften bedient. "Weltbilder sind ihrem Selbstverständnis nach endgültig, Weltmodelle sind Wirklichkeitskonstruktionen auf Abruf. Mögen sie sich als noch so leistungs- und erklärungsfähig erweisen: Sie sind prinzipiell entwicklungs- und korrekturfähig. In diesem Sinne ist jedes Weltmodell ein Provisorium, das seine Aufgabe erfüllt, einen humanen Orientierungsrahmen zu bieten, ohne dafür von Dauer sein zu müssen." (Jürgen Goldstein; Rationale Provisorien. Die cartesische Selbstbehauptung und die Funktion von Weltmodellen, in: Permanentes Provisorium, Hg. v. Michael Heidgen, Matthias Koch, Christian Köhler; 47) -




Nauplios
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Mo 19. Aug 2019, 19:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 18:54
Nauplios hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 17:40
... mich aus dem Kontrollverlust des Schlafs zurück in die Wachheit der Welthabe führt.
Es wäre schrecklich, wenn man aus Angst vor dem "Nicht-wieder-aufwachen", "nicht-wieder-einschlafen" könnte. (ich habe eine sehr, sehr vage Erinnerung, dazu mal eine Kurzgeschichte gelesen zu haben, vielleicht von Bichsel?) Das könnte man (auch ich als Atheist) durchaus Gottvertrauen nennen, vielleicht auch Weltvertrauen, vielleicht auch Welthinnahme.

Und wenn die Oma das Lied zum hundertsten Mal gesungen hat, werden irgendwann auch die Nägel zur Selbstverständlichkeit :-)
Den Inbegriff alles Selbstverständlichen nennt die Phänomenologie Lebenswelt. - Damit ist kein spezifischer Sozialtyp von Welt gemeint, sondern etwas, was von innen nicht beschreibbar ist, sondern nur durch "konstruktive Beschreibung": "Wer in ihr [der Lebenswelt] lebte, wüßte von ihr nichts; wer von ihr weiß, kann in ihr nicht mehr und nicht einmal wieder leben." (Hans Blumenberg; Lebenszeit und Weltzeit; S. 60). - Blumenberg spricht auch von der "erschlossenen Anschauung" und "störungsfreier Passivität" (Theorie der Lebenswelt; S. 72) - Die Lebenswelt ist die Welt, in der es keinen Anlaß für den Gedanken gibt, daß sie anders sein könnte als sie ist. -

Die Lebenswelt als die Welt dessen, was sich von selbst versteht, besteht gleichsam aus Weltvertrauen, jedoch aus einem, das keine Enttäuschungen kennt, eine Welt, in der Großmütter zu Baumeisterinnen werden. -




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Jörn Budesheim
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Mo 19. Aug 2019, 19:52

Ich glaube, das hässlichste Wort, was ich dazu mal gelesen habe, stammt von Habermas. Wenn mich nicht alles täuscht, hat er von einem vorkonsensualisierten Bereich gesprochen.




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TsukiHana
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Nauplios hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 19:50
...eine Welt, in der Großmütter zu Baumeisterinnen werden. -
Ja, das hast Du wunderbar ausgedrückt Nauplios.
Und manchmal klingt diese Welt immer noch etwas nach, wenn man die eigene Großmutter glaubt ein Wiegenlied singen zu hören...



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epitox
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Friederike hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 15:35
Wenn Gottes Wille nun als ein guter Wille gedacht wird? Ein Willen zum Guten.
Ja, dann trifft dieser gute Wille Gottes auf die gute Schöpfung, in der das Geschöpf Mensch den Namen Gottes verherrlicht. D.h. der Mensch wird durch den Willen Gottes als gleichberechtigter und aktiver Partner angesehen, der an der Vollendung der Welt (des Reich Gottes) tatkräftig mitarbeitet. Das Handeln Gottes und das Handeln des Menschen sind dann einander gleichgestaltet, wenn der Wille Gottes geschieht.




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Jörn Budesheim
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Di 20. Aug 2019, 05:43

Nauplios hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 17:40
Die "Näglein" entpuppen sich überraschend als "Gewürznelken", welche die Form von Nägeln haben und für die Nägel stehen, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde - also eine Symbolleistung für ruhigen und erholsamen Schlaf.
bei Wikipedia findet sich noch weiteres, die Nelken sollen Schutz bieten, sie sind eine Art Medizin! Besonders interessant ist, dass es sich bei dem Gedicht vielleicht gar nicht speziell um ein Kinderlied, sondern um ein Liebeslied im ganz allgemeinen handelt.
Im Zusammenhang der spätmittelalterlichen Textfassung erschließt sich die heute nicht mehr unmittelbar verständliche Pflanzenmetaphorik besser: die Rosen sollen ein schützendes Dach bilden, und die Näglein – eine veraltete, regional aber auch heute noch gebräuchliche Bezeichnung für Gewürznelken– sollen einen Schutz darstellen, da sie wegen ihrer ätherischen Öle gegen Ungeziefer und Krankheitserreger eingesetzt wurden.

Der Schutzwunsch bezieht sich dabei allgemein auf einen geliebten Menschen. Der Wunderhorn-Forscher Heinz Rölleke befindet, Arnim und Brentano hätten das Lied „fälschlich“ in den Anhang Kinderlieder einsortiert, „obwohl es sich, wie die Blumensymbole zeigen, tatsächlich um ein Liebeslied handelt“. „Zum Kinderlied wurde es erst durch Überschrift und Zusammenstellung mit anderen Kinderliedern.“

Eine Textstelle, die sich für heutige Hörer ebenfalls nicht unmittelbar erschließt, ist die Wendung „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“. Nicht wenige Hörer, besonders Kinder, haben die Assoziation, dass das Aufwachen am folgenden Morgen diesem Text zufolge von einer Willkürentscheidung Gottes abhängen könnte. Tatsächlich bringt diese Formulierung einfach eine Demutshaltung der Tatsache gegenüber zum Ausdruck, dass die Zukunft in Gottes Hand liegt. Sie ist in der früher verbreiteten Wendung sub conditione Jacobi formuliert: „So Gott will und wir leben“ (nach Jak 4,15 LUT; vgl. auch das arabische In schā'a llāh).




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Jörn Budesheim
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Di 20. Aug 2019, 06:07



Guten Abend, gut' Nacht!
Mit Rosen bedacht,
Mit Näglein besteckt
Schlupf unter die Deck.
Morgen früh, wenn Gott will,
Wirst du wieder geweckt,
Morgen früh, wenn Gott will,
Wirst du wieder geweckt.

Guten Abend, gut' Nacht!
Von Englein bewacht,
Sie zeigen im Traum
Dir Christkindleins Baum.
Schlaf nun selig und süß,
Schau im Traum 's Paradies.
Schlaf nun selig und süß,
Schau im Traum 's Paradies.




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Jörn Budesheim
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Di 20. Aug 2019, 06:12

Alles wichtige in diesem Lied geht auf Ü :) Ist das Aufwach(s)en die Vertreibung aus dem Paradies? Zurück in die Realität?




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Di 20. Aug 2019, 06:38

Friederike hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 15:35
Wenn Gottes Wille nun als ein guter Wille gedacht wird? Ein Willen zum Guten.
Yepp! Kommt es hier nicht auch ein wenig darauf an, wie man die Betonung setzt? Schließlich macht der Ton die Musik :) setzen wir die Betonung auf den "Akteur": Es ist an Gott und nicht etwa am Teufel, wie und dass es weitergeht. Das ist ja ein Versprechen für das Gute! Oder?




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TsukiHana
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Di 20. Aug 2019, 06:47

Wie aus dem Liebeslied ein Kinderlied wurde

Bereits im 15. Jahrhundert war der erste Vers als Gutenachtwunsch, den ein Mann seiner Liebsten sagte, bekannt. Einige Vorläufer wurden aus spätmittelalterlichen Liebesbriefen überliefert; hier ein Beispiel (vgl. Mang, S. 142):

Ich wünsche dir eine gute nacht
von rosen ein dach
von liligen (Lilien) ein bett
von feyal (Veilchen) ein deck (eine Decke)
von muschgat (Muskatnussbaum) ein duer (eine Tür)
von negellein (Nelken) ein rigel darfür (ein Riegel dafür).

In einer anderen Version lautet die erste Zeile: "Got geb euch eine gute nacht".
Heißt es hier "von rosen ein dach", so lautet der hochdeutsche Text "mit Rosen bedacht", wobei bedacht bedeckt bedeutet (Rölleke, S. 139). In beiden Fällen wird metaphorisch die Zuneigung ausgedrückt. Im Mittelalter galt die Rose als bewährtes Liebesmittel. In späteren Jahrhunderten und noch heute betrachtet man die Rose, vor allem rote Rosen, als Zeichen der Liebe, die als Werbung oder als Bestätigung einem geliebten Menschen überreicht werden.
Auch heute noch sind vor allem weiße Lilien Symbole der Hochachtung und Zuneigung. Weniger bekannt ist, dass rote Nelken für Erotik und rosa Nelken für innige Liebe stehen. Veilchen symbolisieren meistens Hoffnung; sie können aber auch Treue und Liebe ausdrücken. So zeigen die Blumensymbole Rose, Lilien, Nelken und Veilchen eindeutig, dass es hier um ein Liebesgedicht geht.
Bei der Übertragung der niederdeutschen Fassung "Godn Abend gode Nacht" ins Hochdeutsche und der Übernahme in die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn unterlief den Herausgebern ein Fehler, indem sie das Lied unter "Kinderlieder" in den Anhang zum dritten Band (1808) einordneten.
Seit der angebliche Verfasser der zweiten Strophe Scherer 1849 das Lied in seine Sammlung Alte und neue Kinderlieder aufnahm, gilt es endgültig und noch heute als Schlaf- bzw. als Wiegenlied (vgl. auch Brahms Lullaby). Verständlich wird diese Einordnung durch die Verwendung der kleinkindlichen Sprache, z.B. "Englein", "Christkindlein". Wieso der weihnachtliche Bezug - "Christkindleins Baum" – in die zweite Strophe kam, ist nicht bekannt.

Quelle: https://www.lieder-archiv.de/guten_aben ... 00030.html



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Jörn Budesheim
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Di 20. Aug 2019, 07:29

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Aug 2019, 20:16
(Ein BabyCenter Mitglied) hat geschrieben : Ich singe den Text immer etwas ungewandelt,
weil ich es auch makaber finde.
Singe stattdessen einfach "w a n n Gott will"
In einem anderen Forum bietet eine Mutter eine ganz andere Lösung an. Das Kind fragt: und wenn Gott mich nicht weckt? Und die Mutter antwortet: dann wecke ich dich! Damit war das Problem gelöst. Denn das Kind schenkt der Mutter natürlich Vertrauen.

Das heißt aber, es ist eigentlich gar kein Problem, dass das Geweckt-werden von irgendjemand abhängen mag, im Gegenteil es ist sogar ein Versprechen und eine Beruhigung! Ob Beunruhigung oder Beunruhigung aus der Zeile spricht, hängt also an der Zeit in der sie und an dem Glauben aus der sie gesprochen wird. Das ist eigentlich selbstverständlich, aber dann doch nicht so selbstverständlich, als dass es Eingang in solche Erziehungsforem gefunden hätte :)




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Di 20. Aug 2019, 07:41

An die Musiker und Dichter: An anderer Stelle sprach TsukiHana von Atem. Atmet ein Gedicht nicht wesentlich aus den Vokalen? Atmen heißt leben. Das Gedicht fängt mit sehr "offenen" und langen Vokalen an. Für das "ü" braucht es jedoch fast schon einen Kussmund ...

:-)




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Friederike
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Di 20. Aug 2019, 10:45

Nauplios hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 18:21
[...] Erst mit Newton und Leibniz wird die Welt ein kontinuierlicher Zusammenhang von Dingen, die untereinander verknüpft sind, deren Existenz aber nicht von göttlichen Verknüpfungsleistungen zwischen (seinem) Geist und der Materie abhängig sind. Die Welt in ihrer Wirklichkeit kann nun als bestimmt von in ihr lebenden Subjekten gedacht werden, die sich auf die Welt als Wirklichkeit beziehen können. War die Welt bis dahin von einer Außenperspektive bestimmt und im Erhalt auf dieses Außen angewiesen, tritt nun die Innenperspektive auf den Plan in Gestalt einer rationalen Selbstbehauptung. Damit ist kein Machtkampf gegen Gott eröffnet. Das Welt- und Wirklichkeitsverständnis ändert sich. [...] Die neuzeitliche Selbstbehauptung entsteht aus einer Not zur Selbstbegründung. Als Selbstermächtigung gegen Gott wäre sie letztlich in mittelalterlicher Denkbewegung verhaftet geblieben. Gott oder der Mensch. -
Der von mir unterstrichene Satz, ich nenne ihn "These", weil man sicher auch eine gegenteilige oder andere Auffassungen vertreten kann, worum es mir aber nicht geht.

Ich würde gerne verstehen, wie es zum Wechsel von der Außen- zur Innenperspektive kommt, präziser: welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sind es, die zwangsläufig oder konsequenterweise zum Blickwechsel von außen nach innen führen. Mir fehlt das Hintergrundwissen und deswegen denke ich mir, daß ja schon vor Newton und Leibniz unablässig geforscht worden ist. @Nauplios, falls Du Zeit und Lust hast, kannst Du mit einigen kurzen Hinweisen aushelfen?


"Gott oder der Mensch" - in dieser Diktion wäre Nietzsche der "mittelalterlichen Denkbewegung verhaftet" geblieben, denn hat er nicht den Eigenwillen dem Willen Gottes entgegengesetzt, ist Nietzsche nicht von einem "natürlichen Lebenswillen" ausgegangen, der in jedem Menschen nur sich selbst will und das heißt, sich in Gestalt des "Willens zur Macht" zu zeigen?

NS: Entschuldige @Nauplios, Du hattest eingangs Deines Beitrages, aus dem ich oben zitiere, auf Nietzsche aufmerksam gemacht. Selbstverständlich bleibt er nicht dem spätmittelalterlichen Denken verhaftet, weil dazwischen eine Menge Zeitwasser den Berg heruntergeflossen ist.




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epitox
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Di 20. Aug 2019, 13:54

Friederike hat geschrieben :
Di 20. Aug 2019, 10:45
welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sind es..
Da gibt es eine Reihe. Man nennt sie übrigens allg. "Konzepte"

Folgende Voraussetzungen für das naturwissenschaftliche Denken sind nötig:

- Möglichkeit der Sinnes-Erfahrungen: (es ist neues Konzept von den menschlichen Sinneseindrücken nötig)
- Messbarkeit der Welt und das Konzept von Naturgesetzen (nötig ist der Einsatz von Messinstrumenten)
- neues Konzept des "Wissens"
- Etablierung eines Innen-Raumes (bei Descartes das individuelle eigene Ich, das zu Erkenntnis fähig ist)
- Bei Descartes: Welt zerfällt in 2 Substanzen + Gott: Res cogitans (die denkende Substanz - nicht messbar), die res extensa (die ausgedehnte Substanz - messbar: Koordinatensystem
- man benötigt ein Konzept von "Einzeldingen"

usw...




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