"Morgen früh, wenn Gott will, ...

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Nauplios
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Mo 16. Sep 2019, 17:06

Jörn, vielleicht kannst Du dieses Ansprechen, das Dir ja wichtig ist, mal beschreiben. Was hat es damit auf sich?

Ich höre bei keinem Text den Autor so "als wenn man `direkt´ mit ihm reden würde" - nicht mal bei Blumenberg, den ich über Jahre in seinen Vorlesungen gehört habe.

Kurze Mitschnitte aus diesen Vorlesungen sind übrigens im Netz zu hören; das ist Dir ja bekannt. - "Zwiesprache"? - Hm ...




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Jörn Budesheim
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Mo 16. Sep 2019, 18:35

Ich habe für die Antwort einen neuen Thread eröffnet: https://www.dialogos-philosophie.de/viewtopic.php?t=723




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Alethos
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Mo 16. Sep 2019, 19:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 16. Sep 2019, 16:21
Mich interessiert hier aber diese Frage: "Ich kann mich natürlich irren, aber ich glaube, es gibt es in diesem Thread keinen Dissens darüber, dass Bilder, Kunst, Metaphern, Musik und vieles andere mehr für philosophische Fragestellung fruchtbar sein können." Ist das so?
Ja, das ist so. Bilder, Kunst, Metaphern usw. können für Fragestellungen fruchtbar gemacht werden. Sofern alle in diesem Thread dieser Meinung sind, besteht einhelliger Konsens. Falls nicht alle, dann nur teilweiser Konsens.

Ob man einen Autor mag oder nicht, das ist wohl eine Frage des Zugangs zu ihm oder zum Thema. Manchmal mag man das Thema, den Autor und seinen Stil nicht, manchmal den Stil, aber das Thema nicht. Was einem ein Text bedeutet, ist wohl weitgehend eine persönliche Sache.



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Jörn Budesheim
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Mo 16. Sep 2019, 20:01

Friederike hat geschrieben :
Mo 16. Sep 2019, 11:46
Jörn hat geschrieben : Und der Frage, um die es ja eigentlich ging und die ausgeblendet wurde, nämlich ob es angemessen ist, uns selbst als Mängelwesen zu betrachten [...]
Blumenberg schreibt gleich im ersten Abschnitt der "Anthropologischen Annäherungen": "Die Spielarten dessen, was man heute Philosophische Anthropologie nennt, lassen sich auf eine Alternative reduzieren: der Mensch als armes oder als reiches Wesen. Daß der Mensch biologisch nicht auf eine bestimmte Umwelt fixiert ist, kann als fundamentaler Mangel einer ordentlichen Ausstattung zur Selbsterhaltung oder als Offenheit für die Fülle einer nicht mehr nur vital akzentuierten Welt verstanden werden."
Danke für das Zitat! Es ist wichtig, dass wir das nicht aus den Augen verlieren. Wieso sollte der Umstand, dass der Mensch nicht auf eine bestimmte Umwelt fixiert ist, ein Mangel sein? Gibt Blumenberg dafür irgendein Argument?




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Friederike
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Di 17. Sep 2019, 11:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 16. Sep 2019, 20:01
[...] Wieso sollte der Umstand, dass der Mensch nicht auf eine bestimmte Umwelt fixiert ist, ein Mangel sein? Gibt Blumenberg dafür irgendein Argument?
Die Bewertung als Mangel erfolgt im Hinblick auf die Überlebenschance des Menschen, so verstehe ich Blumenberg. Weil ich mich in seinem umfangreichen Werk nicht auskenne, kann ich nicht sagen, ob er das näher begründet. Mir hat es eingeleuchtet, daß ein Defizit an instinktgeleitetem reflexhaftem Reagieren zunächst einmal, falls es nicht kompensiert wird, die Chance dauerhaft zu überleben, verringert. Was zu meiden, was zu suchen ist, wer Freund und wer Feind ist, wenn das nicht zur biologischen Grundausstattung gehört, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit "unter die Räder" zu kommen.




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Friederike
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Di 17. Sep 2019, 11:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 16. Sep 2019, 16:21
Mich interessiert hier aber diese Frage: "Ich kann mich natürlich irren, aber ich glaube, es gibt es in diesem Thread keinen Dissens darüber, dass Bilder, Kunst, Metaphern, Musik und vieles andere mehr für philosophische Fragestellung fruchtbar sein können." Ist das so?
Obwohl ich den Hintergrund der Frage nicht verstehe ... ja sicher.




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Jörn Budesheim
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Di 17. Sep 2019, 12:00

Ich hatte mich das gefragt, weil ich das Gefühl hatte, das sei nicht klar. Es gibt also in diesem Punkt gar keinen Dissens.




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Friederike
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Di 17. Sep 2019, 16:18

Lieber @Alethos, ich habe Deinen langen Sonntagsbeitrag nicht vergessen. Nur, daß Du nicht denkst, Deine Antwortmühe sei für die Katz' gewesen.




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Friederike
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Di 17. Sep 2019, 17:16

@Jörn, es hat 3 Exegese-Versuche hinsichtlich des von Dir notierten "Anliegens" (was die Metaphorologie betrifft) gegeben. Du hast, falls es mir nicht entgangen ist, darauf nicht geantwortet. Nein, es besteht natürlich keine Verpflichtung zu einer Antwort. Vielleicht hat es sich inzwischen ja auch erledigt ... aber da ich gerade am Sortieren bin, den Gesprächsverlauf, die Nicht-Dissense oder Dissense, möchte ich wenigstens nachgehakt haben.




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Nauplios
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Di 17. Sep 2019, 18:10

Dissens oder Konsens - das ist hier die Frage. Mein Eindruck ist, daß wir überhaupt keinen Dissens haben im Hinblick auf die Relevanz der Kunst, der Literatur, der Musik, der Metapher und anderer rhetorischen Figuren. - Gegen die Metapher erhebt Jörn ja auch keine Einwände. Wenn wir aber die Metapher als eine Leistung der Unbegrifflichkeit sehen, wenn wir die Metapher in die Registratur tradierter anthropologischer Konnotationen (Stichwort: Mängelwesen) einsetzen, dann - so scheint es mir zumindest - deutet sich die Möglichkeit eines Dissens´ an, der sich dann in dem Maße "realisieren" läßt, in dem der Blumenberg´sche Zoom auf die "Wirklichkeit", auf den "Absolutismus der Wirklichkeit" u.ä. erweitert wird. - Denn dann lichten sich zunehmend die Nebel und es kommen zwei Theoriehorizonte zum Vorschein: der phänomenologisch-hermeneutische Rahmen, in dem sich Blumenbergs Denken bewegt und der Rahmen eines an Davidson, Searle u.a. (zwei Philosophen, die Jörn jüngst erwähnte) orientierten Denkens. - Dann handelt es sich bei der Metapher nur noch um eine Äquivokation, die aber bei Davidson beispielsweise ganz anders behandelt wird als bei Blumenberg. - Die hermeneutische Denkungsart versteht das Wirkliche dann aus geschichtlichen Sinnhorizonten, zeichnet Entwicklungslinien nach, nimmt Anleihen bei der Begriffsgeschichte auf, webt anthropologische Komponenten in ihre Verstehensprozesse ein, während eine analytische Betrachtung sich auf eine eher sprachlogische Zerlegung konzentriert. -

So ergibt sich ein etwas seltsamer Widerspruch: Jörn möchte als Künstler die Kunst als gleichberechtigt mit Theorien ins philosophische Denken einbeziehen, vertritt aber einen "Realismus", der kaum Zugänge für Literatur und Kunst anbietet. Von Schelling über Nietzsche bis Heidegger, Gadamer und Blumenberg liegt uns ein wirkungsgeschichtlich mächtiges philosophisches Denken vor, für das der "Realismus" im Grunde gar keine Verwendung hat. - Ich glaube, daß sich aus diesen recht unterschiedlichen Traditionen heraus der Dissens offenbart, obwohl im Hinblick auf die Metapher, auf die Kunst usw. vorgängig Konsens besteht. Schon die kunstvolle Rhetorik der Hermeneutik löst ja den Reflex "gestelzt" aus. Das ist ein erster Hinweis auf den "inneren Kampf" - wenn ich das mal so ausdrücken darf. Damit will ich niemandem zu nahe treten. Aber mir scheint die Ursache für den Dissens wesentlich dort begründet, daß Jörn in einem anderen Theorierahmen operiert. -




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Jörn Budesheim
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Di 17. Sep 2019, 18:24

Friederike hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 17:16
@Jörn, es hat 3 Exegese-Versuche hinsichtlich des von Dir notierten "Anliegens" (was die Metaphorologie betrifft) gegeben.
Welche meinst du?




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Di 17. Sep 2019, 20:27

Nauplios hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 18:10
... zwei Theoriehorizonte zum Vorschein: der phänomenologisch-hermeneutische Rahmen, in dem sich Blumenbergs Denken bewegt und der Rahmen eines an Davidson, Searle u.a. (zwei Philosophen, die Jörn jüngst erwähnte) orientierten Denkens. ...
Udo Tietz hat geschrieben : ... auch in Deutschland ist Davidson seit Mitte der 80er Jahre zu einem der meistdiskutierten analytischen Philosophen der Gegenwart avanviert. Hierfür gibt es sicherlich mehrere Gründe. Ein Grund liegt jedoch mit Sicherheit darin, dass Davidson Arbeiten zur Sprach- und Bedeutungstheorie eine Reihe frapanter Gemeinsamkeiten mit Denkern wie Husserl, Heidegger und Gadamer aufweisen ...




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Jörn Budesheim
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Di 17. Sep 2019, 20:29

Nauplios hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 18:10
[Jörn] vertritt aber einen "Realismus", der kaum Zugänge für Literatur und Kunst anbietet.
Was meinst du damit?




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Alethos
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Di 17. Sep 2019, 21:02

Nauplios hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 18:10
Wenn wir aber die Metapher als eine Leistung der Unbegrifflichkeit sehen, wenn wir die Metapher in die Registratur tradierter anthropologischer Konnotationen (Stichwort: Mängelwesen) einsetzen, dann - so scheint es mir zumindest - deutet sich die Möglichkeit eines Dissens´ an, der sich dann in dem Maße "realisieren" läßt, in dem der Blumenberg´sche Zoom auf die "Wirklichkeit", auf den "Absolutismus der Wirklichkeit" u.ä. erweitert wird. - Denn dann lichten sich zunehmend die Nebel und es kommen zwei Theoriehorizonte zum Vorschein: der phänomenologisch-hermeneutische Rahmen, in dem sich Blumenbergs Denken bewegt und der Rahmen eines an Davidson, Searle u.a. (zwei Philosophen, die Jörn jüngst erwähnte) orientierten Denkens. - Dann handelt es sich bei der Metapher nur noch um eine Äquivokation, die aber bei Davidson beispielsweise ganz anders behandelt wird als bei Blumenberg.
Wenn die Wenigkeit meiner Meinung in diesem Thread zählen sollte, dann haben wir sicherlich einen Dissens in der Beurteilung von Metaphern als "Äquivokationen". Sie sind nicht Ausdruck eines Irrtums oder eines Fehlgehens, wenigstens sind sie es nicht unfreiwillig, sondern sie sind doch vielmehr ein ausdrücklicher Wunsch zur verzerrender Darstellung des Realen, damit es in der Verzerrung neue Wahrheitsgehalte zeige, die zuvor verdeckt blieben. Sie erfüllen für mich auch nicht die Funktion, das "Mängelwesen" Mensch 'überlebensfähig' zu machen, vielmehr drückt sich in seiner Fähigkeit zur Metaphorologisierung die Kunst aus, aus den Fesseln des engen Begriffs auszubrechen in das noch Fernere: Sei es die Fernperspektive der historisierenden Schau, welche den Wechsel der Weltbilder zum Motiv nimmt, um den Menschen in dieser anthropo-historischen Entwicklung zu lokalisieren, sei es in der abstrahierenden Schau auf das Heutige aus der Warte der Metapher als ein Schauplatz der nicht direkten Involviertheit. Denn die Metapher ist ein Reflexionsgegenstand zur Einordnung des Wirklichen in einem Gedachten, das nicht unwirklicher ist als das wirklich Wirkliche. Darum ist die Metaphorologie zu keinem dieser Zeitpunkte Ausdruck eines Mangels, sondern vielmehr eines gekünstelten auf die Welt Schauens. Sie ist eine Technik, wie das Skulpturieren von Figuren oder das Malen von Bildern: Immer Ausdruck eines Überflusses. Und wenn sie auch Überforderungsmomente bringt, eigentlich in der Überforderung konstituiert ist, so ist es doch eine sie reflektierende, mir ihr sich auseinandersetzende, eine mutige Kunst der Überforderung. Sie ist ein Zeichen des Bedeutungsüberschusses und nicht eines Mangels als solchen.

Vielleicht habe ich auch alles falsch verstanden, nur sehe ich keine unüberbrückbaren Differenzen zwischen einer pragmatischen, konkretisierenden 'Weltschau' und einer Weltschau aus der 'Panoptik' des Horizonts der Horizonte. Sie bedingen sich wechselseitig. Ist die Wirklichkeit gesetzt, sind alle Metaphern gesetzt, in der sie sie deuten kann. Sie ist aber keine Deutungskunst, sondern eine Kunst der vielfältigen Darstellung von Bedeutungen.



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Nauplios
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Mi 18. Sep 2019, 03:16

Nauplios hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 18:10
... zwei Theoriehorizonte zum Vorschein: der phänomenologisch-hermeneutische Rahmen, in dem sich Blumenbergs Denken bewegt und der Rahmen eines an Davidson, Searle u.a. (zwei Philosophen, die Jörn jüngst erwähnte) orientierten Denkens.
Udo Tietz schreibt:

"Auch in Deutschland ist Davidson seit Mitte der Achtziger Jahre zu einem der meist diskutierten analytischen Philosophen der Gegenwart avanciert. Hierfür gibt es sicher mehrere Gründe. Ein Grund liegt jedoch mit Sicherheit darin, daß Davidsons Arbeiten zur Sprach- und Bedeutungstheorie eine Reihe frappanter Gemeinsamkeiten mit Denkern wie Husserl, Heidegger und Gadamer aufweisen - Denker, die die traditionelle Sprachphilosophie nur mit Verachtung strafte. [...] Nur ein Jahr später hat Davidson in Stuttgart aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises in seiner Festrede darauf aufmerksam gemacht, daß er diesen Preis als ˋEhrung eines fruchtbaren Dialogs zwischen zwei philosophischen Methoden und Einstellungen´ ansieht, die zwar ˋeine Zeitlang getrennt, ja sogar feindselig erschienen´, die aber ˋein gemeinsames Erbe teilen´". (Udo Tietz; Sprache und Verstehen in analytischer und hermeneutischer Sicht; S. 134; Hervorhebungen von mir) -

"Befragt nach den Einflüssen kontinentaler Philosophen auf sein Denken, etwa von Gadamer oder Habermas, gibt Davidson in einem Interview zwar zu verstehen, daß die kontinentale Tradition nach Hegel so gut wie keinen Einfluß auf sein Denken ausübte. Philosophen wie Dilthey, Husserl und Heidegger oder Apel und Habermas spielen bei Davidson nahezu keine Rolle. Erst in den letzten Jahren hat Davidson versucht, ˋetwas Hegel, etwas Heidegger und auch Kommentare dazu´ zu lesen. Das gleiche gilt auch für Gadamer." (Udo Tietz; Sprache und Verstehen in analytischer und hermeneutischer Sicht; S. 134); Hervorhebungen von mir) -

"In analytischer und hermeneutischer Sicht" - Das heißt zunächst mal, daß es zwei Sichten gibt. Die eine ist die "analytische Sicht", die andere die "hermeneutische Sicht." - Tietz schreibt in geradezu kriegerischer Diktion, daß die "traditionelle Sprachphilosophie" Denker wie Husserl, Heidegger und Gadamer "nur mit Verachtung strafte". Damit meint er nicht Davidson, bei dem er "frappante Gemeinsamkeiten" gerade mit diesen Denkern sieht. Davidson selbst sagt, daß die kontinentale Tradition nach Hegel so gut wie keinen Einfluß auf sein Denken ausübte. Husserl und Heidegger spielen bei Davidson nahezu keine Rolle. Das gilt ebenso für Gadamer. Gleichwohl sieht Tietz "frappante Gemeinsamkeiten", die er im Verlauf der weiteren Ausführungen dann auch herauszupräparieren sucht - etwa hier:

"Für Heidegger wie für Davidson scheint klar: Will man das Verstehen verstehen, dann müssen wir Wahrheit qua Erschlossenheit immer schon voraussetzen. Das heißt, wir müssen ˋimmer schon´ verstanden haben, um überhaupt verstehen zu können. Was Heidegger in diesem Zusammenhang von Davidson unterscheidet, ist die Tatsache, daß er Wahrheit qua Erschlossenheit präsupponiert, um Raum zu gewinnen für eine hermeneutische und zugleich pragmatische Erschlossenheitsanalyse, die das Problem von Sprache und Verstehen aus einem ontologischen Vorverständnis aufzuklären sucht, das den Interpreten und seinen Gegenstand als Moment desselben historischen Zusammenhangs begreift, während Davidson Wahrheit als undefinierten Begriff voraussetzt, um eine W-Theorie als interpretative Bedeutungstheorie zu gewinnen, ohne dabei jedoch diesen Zusammenhang als Tradition oder Wirkungsgeschichte noch einer Analyse unterziehen zu können. Das verbindet Davidson eher mit Carnap und Quine als mit Heidegger und Gadamer." (Udo Tietz; Sprache und Verstehen in analytischer und hermeneutischer Sicht; S. 162; Hervorhebungen von mir) - ("W-Theorie" meint Wahrheitstheorie unter Bezug auf Tarski) -

Was "für Heidegger wie für Davidson" klar scheint, "unterscheidet" Heidegger von Davidson. Beim Herausarbeiten der "frappanten Gemeinsamkeiten" werden nicht weniger frappante Unterschiede deutlich, nämlich daß das Verstehen für Heidegger sich in einem "historischen Zusammenhang" ereignet, dem der Interpret und sein Gegenstand gleichermaßen angehören, während bei Davidson exakt dieser historische Zusammenhang als "Wirkungsgeschichte" ausgeblendet wird.

Es ist just dieser Unterschied, der auch in unserer Diskussion über die Metapher eine entscheidende Rolle spielt. "Die hermeneutische Denkungsart versteht das Wirkliche dann aus geschichtlichen Sinnhorizonten ... während eine analytische Betrachtung sich auf eine eher sprachlogische Zerlegung konzentriert" (Nauplios), "ohne dabei jedoch diesen [historischen] Zusammenhang als Tradition oder Wirkungsgeschichte noch einer Analyse unterziehen zu können" (Tietz). -

Es versteht sich, daß es weitere Sichten gibt jenseits von analytischer und hermeneutischer Sicht. Beide Sichten haben nuancierte Denkschulen und Denktraditionen ausgebildet und mit Donald Davidson ist "Die analytische Philosophie auf dem Weg zur Hermeneutik" (Tietz). Dennoch liegen hier außer "frappanten Gemeinsamkeiten" frappante Unterschiede vor. Der Hintergrund der analytischen Philosophie ist nicht zuletzt die "Verachtung" der Vertreter der Phänomenologie und Hermeneutik (Husserl, Heidegger, Gadamer) durch die traditionelle Sprachphilosophie. Diese "Verachtung" ist in ihrer Geburtsurkunde verbrieft, denn sie ist ja aus der radikalen Kritik an diesen Denkern entstanden. Ich würde mir das Wort von der "Verachtung" nicht zu eigen machen, aber ich denke, daß wir - wie Tietz es ja auch macht - die analytische und die hermeneutische Sicht der Dinge unterscheiden sollten - ob nun die analytische Philosophie "auf dem Weg zur Hermeneutik" ist oder nicht. Überhaupt scheint mir hier wiederum eine Äquivokation von "Verstehen" und auch "Hermeneutik" vorzuliegen (s. Tietz´ Ausführungen zu Heidegger/Davidson oben). - Auf das Konto der von Tietz beschriebenen zwei "Sichten" scheint mir jedenfalls der Dissens in Bezug auf die Theorie der Unbegrifflichkeit, auf die anthropologischen Hintergrundannahmen, auf die Metapher, auf die Philosophie Blumenbergs überhaupt zu gehen. Dieser Dissens muß uns nicht bekümmern, aber er darf benannt werden. -




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Nauplios
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Mi 18. Sep 2019, 04:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 20:29
Nauplios hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 18:10
[Jörn] vertritt aber einen "Realismus", der kaum Zugänge für Literatur und Kunst anbietet.
Was meinst du damit?
Nur ganz kurz, da die Nacht schon fortgeschritten ist: - Der Neue Realismus (in Deutschland bekanntlich verbunden mit dem Namen Markus Gabriel) versteht sich als Opposition gegen den Konstruktivismus und gegen den Naturalismus.

"Ich hingegen glaube, daß es unendlich viele Behälter gibt, in denen ganz verschiedene Dinge drin sind. Diese Behälter nenne ich Sinnfelder." (Markus Gabriel in der ZEIT) https://www.zeit.de/campus/2014/06/mark ... -realismus

In einem dieser "Behälter" ist dann die Literatur, in einem anderen die Musik, in einem weiteren ist die EU, in einem anderen die Kunst, im nächsten sind die Lottozahlen ... - Der Zugang zur Kunst erfolgt durch Öffnung des Behälters, auf dem KUNST steht. - Nietzsche spricht von der Kunst als der "eigentlich metaphysischen Tätigkeit", bei Gadamer nimmt die Philosophische Hermeneutik ihren Ausgang von der Kunsterfahrung ... Für den Neuen Realismus hat die Kunst diesen prominenten Stellenwert verloren. Kunst ist real. Das ist alles. Und das ist mir zu wenig. -




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Mi 18. Sep 2019, 05:36

Bei Titz und bei vielen anderen steht allerdings das Gegenteil von dem, was du daraus zu machen versuchst. So mag vielleicht für die traditionelle Form der Sprachphilosophie gegolten haben, was du heute noch denkst, aber die Dinge haben sich halt mittlerweile völlig anders entwickelt. Daher zählen z.b. Denker wie Davidson auch gar nicht mehr zu analytischen, sondern eben zur postanalytischen Tradition. Dass es neben den frapanten Ähnlichkeiten auch Unterschiede gibt, ist nicht besonders erstaunlich, die gibt es nämlich zwischen allen Philosophen.

Solche Ähnlichkeiten und Verwandtschaften müssen auch nicht durch gegenseitige Lektüre entstehen, sie können z.b. durch indirekte Einflüsse oder sogar durch Einsicht in die Natur der Dinge entstehen, oh lala! Du schreibst: "Husserl und Heidegger spielen bei Davidson nahezu keine Rolle. Das gilt ebenso für Gadamer." Tatsache ist jedoch, dass Davidson Gadamer gelesen hat (wenn mich nicht alles täuscht, steht das sogar in demselben Interview, aus dem du zitierst) und die Ähnlichkeiten und natürlich auch die Unterschiede selbst sieht - das gilt z.b. für das "principle of charity" und den "Vorgriff auf Vollkommenheit". Eine weitere frappierende Ähnlichkeit zwischen beiden besteht z.b. darin, dass sie (ganz unabhängig voneinander) einflussreiche Platoninterpretation vorgelegt haben.

Den Graben zwischen der analytischen und der kontinentalen Philosophie (oder wie immer man die Etiketten benennen möchte) gibt es heute schlicht nicht mehr, ob es ihn denn je gegeben hat, kann man dabei offen lassen.




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Mi 18. Sep 2019, 06:15

Nauplios hat geschrieben : Für den Neuen Realismus hat die Kunst diesen prominenten Stellenwert verloren. Kunst ist real. Das ist alles. Und das ist mir zu wenig.
Was zeigt das? Nun ist es zeigt, dass du die Arbeit von Markus Gabriel nicht kennst, aber dennoch darüber urteilst.

Wie du selbst schreibst, versteht Gabriel seine Philosophie (neben anderem) als Opposition zum Naturalismus. Für ihn ist der Mensch ein freies, geistiges Wesen. Er ist, um eine Formulierung von Nietzsche zu verwenden, "nicht festgestellt". Ohne diese Freiheit sich selbst bestimmen zu können, aber auch bestimmen zu müssen und den sich stets wandelnden historischen Horizont, vor dem das immer geschieht, kann man nicht verstehen, was der Mensch ist. Der Mensch ist für Gabriel (wenn natürlich auch nicht nur) aus der Geistesgeschichte heraus zu begreifen. Gabriel bezieht sich hier direkt auf Hegel, der dies so ausdrückt: »Der Geist ist nur, wozu er sich macht; er ist Tätigkeit, sich zu produzieren, sich zu erfassen.« Hegel, Kant, Fichte, und Schelling sind für Gabriel ohnehin wichtige Bezugspunkte.

Teil dieser Freiheitserfahrungen und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung (z.b. als Mängelwesen) sind natürlich auch die verschiedensten Künste. Markus Gabriel ist ein sehr produktiver Philosoph. In kaum einem seiner Bücher spielt die Kunst nicht eine bedeutende Rolle. Im Moment ist beim Merve Verlag ein eigenes Buch von Gabriel zur Kunst angekündigt, ich bin sehr gespannt darauf. Es ist an dieser Stelle natürlich nicht möglich, die komplexe Position Gabriels zum Thema Kunst in 500 Zeichen zu packen, dennoch vielleicht ein kurzes Zitat: "Wir gehen ins Museum, weil wir dort die Freiheit erfahren, alles ganz anders zu sehen. Im Umgang mit der Kunst lernen wir, uns von der Annahme zu befreien, es gebe eine festgelegte Weltordnung, in der wir lediglich passive Zuschauer sind." *

Du schreibst: "Für den Neuen Realismus hat die Kunst diesen prominenten Stellenwert verloren. Kunst ist real. Das ist alles. Und das ist mir zu wenig." Das ist sehr, sehr weit davon entfernt, die Ansicht von Gabriel zu treffen.




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* das Zitat von Gabriel zur Kunst ist nicht ganz zufällig ausgewählt, wenn mich nicht alles täuscht, gibt es eine gewisse Nähe zu dem, was Alethos weiter oben zur Metapher gesagt hat, oder?
Alethos hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 21:02
Sie erfüllen für mich auch nicht die Funktion, das "Mängelwesen" Mensch 'überlebensfähig' zu machen, vielmehr drückt sich in seiner Fähigkeit zur Metaphorologisierung die Kunst aus, aus den Fesseln des engen Begriffs auszubrechen in das noch Fernere: Sei es die Fernperspektive der historisierenden Schau, welche den Wechsel der Weltbilder zum Motiv nimmt, um den Menschen in dieser anthropo-historischen Entwicklung zu lokalisieren, sei es in der abstrahierenden Schau auf das Heutige aus der Warte der Metapher als ein Schauplatz der nicht direkten Involviertheit.




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Nauplios
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"Du schreibst" (Jörn)

Ich vervollständige vor allem Dein Zitat aus der Arbeit von Tietz. Da heißt es nämlich: "Husserl und Heidegger oder Apel und Habermas spielen bei Davidson nahezu keine Rolle. [...] Das gilt auch für Gadamer." (S. 134)

Tietz schreibt ja sogar, daß die traditionelle Sprachphilosophie Denker wie Husserl, Heidegger und Gadamer "nur mit Verachtung strafte" (S. 134). Davidson selbst spricht in seiner Rede zur Hegelpreisverleihung von zwei philosophischen Methoden und Einstellungen, die "sogar feindselig erschienen". So kann man es bei Tietz auf Seite 134 nachlesen. -

Daß es einen Graben zwischen der analytischen und kontinentalen Philosophie je gegeben hat, "kann man offen lassen"? - "Verachtung" (Tietz), "feindselig" (Davidson). - Ich denke, daß man diese Frage nicht offen lassen kann. :-)

Natürlich haben sich die "zwei philosophischen Methoden und Einstellungen" weiterentwickelt. Die analytische Philosophie in ihrer sehr jungen Geschichte ist ihren Anfängen entwachsen und läßt sich in Phasen und Ansätzen unterteilen. Blumenberg hat das Programm einer "phänomenologischen Anthropologie" im Sinn, entgegen einem Anthropologie-Verbot des Gründervaters Husserl. - Die Kontakte zwischen den "zwei Methoden und Einstellungen", von denen Davidson spricht, sind heute nicht mehr "feindselig"; man beobachtet sich nicht mehr mit "Verachtung". - Das ändert nichts daran, daß es diese zwei Traditionen in der Philosophie noch gibt. Ansonsten wäre die Arbeit von Tietz auch überflüssig.

Nach meinem Eindruck spielen diese "zwei Methoden und Einstellungen", die Davidson erwähnt, in diesen Thread hinein und der Dissens, den Du erwähnt hast, hängt damit zusammen. - Nehmen wir an, dieser Eindruck täuscht: Was ist denn Dein Eindruck, Jörn? - Worin liegt der Dissens? Oder gibt es ihn womöglich überhaupt gar nicht? ;-)




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