Über einige Aspekte der Philosophie Hans Blumenbergs

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Nauplios
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Do 3. Okt 2019, 05:05

Hans Blumenberg hat die Philosophie einmal in ironischer Distanz als "Erinnerungsposten" im bilanztechnischen Sinn bezeichnet. Ein Erinnerungsposten ist in der Bilanz ein durch Abschreibung entstandener Merkposten im symbolischen Wert von 1 Euro, der nach den "Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung" erforderlich ist, weil das völlige Weglassen von noch vorhandenen Aktivposten aus der Bilanz nicht zulässig ist. Mit anderen Worten: da ist noch etwas, zwar von keiner nennenswerten Erheblichkeit für die Bilanzierung des Wissens, aber auch nicht gänzlich abzuschreiben. Dabei steht der angesetzte Restwert von einem Euro - zu Blumenbergs Lebzeiten gab es noch die Deutsche Mark, was den Restwert aus währungstechnischen Gründen noch weiter verringert - in auffälligem Gegensatz zum Gesamtwerk Blumenbergs, das sich über Dutzende Untersuchungen, Abhandlungen und Aufsätze erstreckt. Wert und Werk geben einander nicht wieder.

Sucht man nach einem Charakteristikum für das Werk Blumenbergs, so könnte man sagen: Maßlosigkeit in jeder Hinsicht. Das betrifft viele seiner monumentalen Studien schon in äußerer Hinsicht. Dem Leser wird zugemutet, sich über nahezu tausend Seiten und unter Orientierung von Kapitelüberschriften, die sich erst nach der Lektüre erschließen, auf verschlungenen Pfaden in eine Denkwelt zu begeben, die den Zeitgenossen Blumenbergs mit ihren Vorlieben für Prägnanz und Präzision unfaßlich erschien. Maßlos erscheinen die ausufernden Touren durch zweieinhalbtausend Jahren Geistesgeschichte. Wie Monolithe aus einer anderen Welt stehen dem Leser die großen Werken Blumenbergs gegenüber. Maßlos ist aber auch der barocke Überschwang einer Darstellungs- und Formulierungskunst, für die es in früherer Zeit den Begriff Gelehrsamkeit gab. Die Folge ist eine Widerständigkeit der Terminologie, die sich schnellen Zugriffen entzieht. Alles an diesem Denker ist unzeitgemäß.

Dennoch hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine Rezeption der Philosophie Blumenbergs in Gang gesetzt, die darum bemüht ist, Zugänge zu legen in die Spiel- und Sprachräume einer Philosophie, die sich kaum auf handliche Thesen reduzieren läßt. Blumenbergs Werke sind Text gewordene Zettelkästen; man muß oft mitlesen, was nicht notwendig explizit mitgeschrieben wird. Die Terminologie dieser Werke läßt sich nur durch Ortstermine erschließen. Unterdessen fällt aus dem inzwischen veröffentlichten Nachlaß ein neues Licht auf die großen Publikationen der 70er und 80er Jahre. -

Läßt sich unter diesen Umständen in einem Forum überhaupt über Blumenberg diskutieren - angesichts begrenzter Ressourcen der Darstellbarkeit in "Beiträgen" und der Aufnahmekapazität der Beteiligten? - Es kann sich dabei nur um ein Provisorium handeln. Vielleicht gelingt es uns, die Physiognomie des Blumenberg´schen Denkens ein wenig herauszumodellieren. Kleinere Schriften wie die Paradigmen zur Metaphorologie lassen sich behandeln oder Aufsätze wie die Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik; die großen Arbeiten wie Arbeit am Mythos oder Höhlenausgänge dürften zu umfangreich sein. Aus ihnen ließen sich allenfalls Ausschnitte besprechen.

Blumenbergs Philosophie ist auf historische Kontexte konzipiert. Es wird sich nicht vermeiden lassen, solche Kontexte anzusprechen, wo sie für das Verständnis unverzichtbar sind. Vermieden werden sollten dagegen Besuche bei philosophischen Dauerbaustellen, die eh an kein Ende gelangen. Aus den Gesprächen der letzten Tage im "Kaffeestübchen" dürfte klar sein, was damit gemeint ist. -

Alles weitere möchte ich gar nicht vorab bestimmen. Wie können wir die Sache angehen? - Sollen wir mit ganz allgemeinen Überlegungen zu Blumenbergs Arbeitsgegenständen beginnen (Metapher, Mythos, Absolutismus der Wirklichkeit u.ä.)? - Oder sollen wir uns konkreten Textpassagen zuwenden (etwa den Paradigmen)? - Wir können ja zunächst mal eine Art Strategie entwickeln, wie wir vorgehen wollen. Von mir aus kann auch ein zweiter Thread eröffnet werden, eine Art "offtopic"-Thread, in den bei Bedarf Nebenstränge der Diskussion verlegt werden können. Also ich möchte dieses Projekt keineswegs diktieren. - Deshalb laßt uns in den nächsten ein, zwei Tagen sammeln, was es an Vorschlägen gibt, wie wir verfahren können.

Das eine oder andere kann übrigens auch ausgelagert werden, z.B. Hinweise, Worterklärungen, Übersetzungen u.ä. Wie so etwas aussehen könnte:

https://poetikundhermeneutik.blogspot.com/

Also dann ... wie sind Eure Vorstellungen? ... auf geht´s.




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Friederike
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Do 3. Okt 2019, 12:09

Gibt es eine einzige Schrift, einen Text, @Nauplios, den Du noch nicht gelesen und den Du noch nicht jahrelang hin- und her bedacht hast? Das würde unsere unterschiedlichen Ausgangspunkte zumindest ein gaaanz klein wenig aneinander angleichen. Diesen Text zumindest läsen wir alle das erste Mal.

"Die nackte Wahrheit" ( 2019 zuerst erschienen, Du hattest das Buch im "Kaffeestübchen" verlinkt) vielleicht? Ca. 170 Seiten; die Leseprobe, die der Suhrkamp-Verlag beigegeben hat, habe ich vorhin angefangen zu lesen. Das Buch scheint mir auch geeignet, nur einzelne Kapitel, die hauptsächlich mit Namen betitelt sind (Schopenhauer, Kant, Nietzsche, Rousseau, Freud, "nach Adorno", Theodor Fontane, Lichtenberg uws.), herauszunehmen und gemeinsam zu besprechen.

Die Methode der erzählenden Philosophie wird deutlich und überrascht stelle ich fest, daß die Erzählung nicht flott herunterzulesen ist, sondern ziemlich widerborstig daherkommt. Das heißt, ich bleibe recht häufig mit Fragen an Blumenberg hängen. "Was meint er denn damit, was ist die Aussage" o.ä. Möglicherweise sind die Nachlaßtexte sprunghafter, fragmenthafter (dem Schein nach oder wirklich?) als die zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher, weil weniger durchgearbeitet und "nachgestylt", was mE aber keinen Mangel darstellt.




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Alethos
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Do 3. Okt 2019, 17:59

Ich für meinen Teil wünsche nicht einmal so sehr einen "jungfräulichen Text", den wir alle zum ersten Mal lesen. Mir wäre wichtig, dass wir (vielleicht in Nebensträngen) Raum lassen für Fragen. Denn die Texte, egal welche, sind so kompakt geschrieben und die Themen so komplex und verflochten, dass es ohne Nebengeräusche nicht gehen wird. D.h. ich würde gerne einen Offtopic-, Begriffserklärungs- oder Entlastungsthread eingerichtet wissen.

Betreffend das eigentlich zu bearbeitende Textstück: Ich halte es privat immer so, dass ich in der Chronologie der Erscheinungen vorgehe, also beim Erstwerk beginne und, darauf aufbauend, mich durch die Folgewerke lese. Das ist bei Blumenberg vielleicht kein so sinnvolles Vorgehen, vielleicht ist ein Sprung ins volle Glas ergiebiger. Da bin ich offen. In jedem Fall würde ich einen Originaltext lesen wollen und nicht etwa eine Interpretation. Ich würde dir zustimmen, Friederike, dass wir uns vielleicht ein Kapitel vornehmen und von dort dann weitersehen, wohin es uns treibt. Jeder und jede wird wahrscheinlich seine persönlichen Studien im Hintergrund betreiben, so dass sich unweigerlich Querverweise zu anderen Werken / Themen / Begriffszusammenhängen ergeben. Diese legen die Pfade für weitere Ausritte.

Ich bin da sehr offen, was die Methode angeht, würde dafür aber streng für eine offene Kultur und ein fröhliches Gespräch plädieren.



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Jörn Budesheim
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Do 3. Okt 2019, 19:20

Ich werde am Montag in dem Bereichen Philosoph*innen einen Blumenberg Ordner anlegen. Dort kann man dann Haupt- und Neben- und Smalltalk-Threads anlegen, wie es einem beliebt :)

Bis dahin muss jedoch keiner warten, man kann einfach hier in "Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie" neue Fäden anlegen. Ich werde sie dann alle in den neuen Bereich verschieben.




Nauplios
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Do 3. Okt 2019, 19:26

Friederike hat geschrieben :
Do 3. Okt 2019, 12:09
Gibt es eine einzige Schrift, einen Text, @Nauplios, den Du noch nicht gelesen und den Du noch nicht jahrelang hin- und her bedacht hast? Das würde unsere unterschiedlichen Ausgangspunkte zumindest ein gaaanz klein wenig aneinander angleichen. Diesen Text zumindest läsen wir alle das erste Mal.

"Die nackte Wahrheit" ( 2019 zuerst erschienen, Du hattest das Buch im "Kaffeestübchen" verlinkt) vielleicht? Ca. 170 Seiten; die Leseprobe, die der Suhrkamp-Verlag beigegeben hat, habe ich vorhin angefangen zu lesen. Das Buch scheint mir auch geeignet, nur einzelne Kapitel, die hauptsächlich mit Namen betitelt sind (Schopenhauer, Kant, Nietzsche, Rousseau, Freud, "nach Adorno", Theodor Fontane, Lichtenberg uws.), herauszunehmen und gemeinsam zu besprechen.

Die Methode der erzählenden Philosophie wird deutlich und überrascht stelle ich fest, daß die Erzählung nicht flott herunterzulesen ist, sondern ziemlich widerborstig daherkommt. Das heißt, ich bleibe recht häufig mit Fragen an Blumenberg hängen. "Was meint er denn damit, was ist die Aussage" o.ä. Möglicherweise sind die Nachlaßtexte sprunghafter, fragmenthafter (dem Schein nach oder wirklich?) als die zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher, weil weniger durchgearbeitet und "nachgestylt", was mE aber keinen Mangel darstellt.
Um der nackten Wahrheit die ihr zustehende Ehre zu geben: Deinem Optimismus hinsichtlich meines Lesepensums, Friederike, fehlt es an Realismus. :-) Ich habe einiges von Blumenberg gelesen, doch Tempo und Umfang der Nachlaßbände haben in den letzten Jahren daraus wieder Bruchstücke gemacht. Somit ist die Angleichung an unsere unterschiedlichen Ausgangspunkte nur noch eine graduelle. Ich kenne nicht mal die Leseprobe der "nackten Wahrheit". Ich habe das Buch gestern bestellt, wobei die Buchhändlerin meines Vertrauens mir mitteilte, daß das Buch "nicht auf Lager" sei. Das könne vielerlei bedeuten, etwa daß zu diesem frühen Zeitpunkt bereits "Lieferengpässe" die Ursache dafür sein könnten (das ist recht unwahrscheinlich) oder daß die Auslieferung vom Verlag zum Grossisten noch nicht vollzogen sei. Wie auch immer, erst Mitte nächster Woche wissen wir mehr. - Dann fahre ich mit meiner Lebensgefährtin in Kürze zum Urlaub in ein kleines verschlafenes Städtchen an der holländischen Nordseeküste; dort gibt es zwar Internet, aber es könnte sein, daß Blumenbergs Spätling mir erst nach unserer Rückkehr vorliegt. Von daher bietet sich die "nackte Wahrheit" jetzt nicht unbedingt an. -

Was die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß betrifft, so schreibt der Autor - mehr noch als in den publizierten Werken - für sich selbst. Hier ist oft noch mehr "Widerborstigkeit" anzutreffen.




Nauplios
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Do 3. Okt 2019, 19:37

Alethos hat geschrieben :
Do 3. Okt 2019, 17:59
Ich für meinen Teil wünsche nicht einmal so sehr einen "jungfräulichen Text", den wir alle zum ersten Mal lesen. Mir wäre wichtig, dass wir (vielleicht in Nebensträngen) Raum lassen für Fragen. Denn die Texte, egal welche, sind so kompakt geschrieben und die Themen so komplex und verflochten, dass es ohne Nebengeräusche nicht gehen wird. D.h. ich würde gerne einen Offtopic-, Begriffserklärungs- oder Entlastungsthread eingerichtet wissen.

Betreffend das eigentlich zu bearbeitende Textstück: Ich halte es privat immer so, dass ich in der Chronologie der Erscheinungen vorgehe, also beim Erstwerk beginne und, darauf aufbauend, mich durch die Folgewerke lese. Das ist bei Blumenberg vielleicht kein so sinnvolles Vorgehen, vielleicht ist ein Sprung ins volle Glas ergiebiger. Da bin ich offen. In jedem Fall würde ich einen Originaltext lesen wollen und nicht etwa eine Interpretation. Ich würde dir zustimmen, Friederike, dass wir uns vielleicht ein Kapitel vornehmen und von dort dann weitersehen, wohin es uns treibt. Jeder und jede wird wahrscheinlich seine persönlichen Studien im Hintergrund betreiben, so dass sich unweigerlich Querverweise zu anderen Werken / Themen / Begriffszusammenhängen ergeben. Diese legen die Pfade für weitere Ausritte.

Ich bin da sehr offen, was die Methode angeht, würde dafür aber streng für eine offene Kultur und ein fröhliches Gespräch plädieren.
Welche Ausgabe der Paradigmen liegt Dir vor, Alethos, die von Anselm Haverkamp kommentierte Ausgabe in der Reihe "Studienbibliothek" oder die stw-Ausgabe?

Die Fröhlichkeit des Gesprächs hängt etwas mit dem Mut zusammen, weitere "Erinnerungsposten" zu bilden, insofern ein erstes Lesen selten das volle "Entlastungspotential" zur Wirkung bringen kann. Offene Fragen werden auch nach der Lektüre offen sein können. Und es ist gleichermaßen zu hoffen wie zu befürchten, daß neue offene Fragen entstehen.




Nauplios
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Do 3. Okt 2019, 20:49

Ich muß doch noch mal eine Lanze brechen für die Sekundärliteratur. Den Sammelband Permanentes Provisorium hatte ich schon erwähnt. Darin befinden sich sehr erhellende Aufsätze, u.a. Manfred Sommer: "Wirklichkeit auf Widerruf?". Manfred Sommer war in Münster Assistent bei Blumenberg und hat aus dem Nachlaß bereits Blumenberg-Bände herausgegeben. Jürgen Goldstein, Philipp Stoellger und Rüdiger Zill beschäftigen sich bereits seit Jahren mit Blumenberg und lesenswert ist auch der Aufsatz von Sebastian Tränkle in Permanentes Provisorium. - Eine wie ich finde unrühmliche Ausnahme - sorry Epitox - macht darin der Aufsatz von Peter Schallenberg ("Säkularisierter Schiffbruch und provisorische Moral. Anmerkungen zu Hans Blumenberg aus Sicht der Theologie"). Hier handelt es sich um eine Predigt. Was die Aufnahme dieser Erbaulichkeit in die ansonsten lehrreiche Aufsatzsammlung bewirkt hat, bleibt mir ein Rätsel. -

Eine Schülerin aus Blumenbergs Münsteraner Zeiten ist Barbara Merker. Sie hat in Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel "Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit", der sehr zum Verständnis dieses Topos "Absolutismus der Wirklichkeit" beiträgt.

Nicola Zambon "Das Nachleuchten der Sterne" - Aus dieser hervorragenden Arbeit habe ich viel gelernt über die Fragestellungen der beiden großen Werke Blumenbergs aus den 60er und 70erJahren: Die Genesis der kopernikanischen Welt und Die Legitimität der Neuzeit.

Kurt Flasch beschäftigt sich in Blumenberg. Philosoph in Deutschland. Die Jahre 1945 bis 1966 mit der Frühzeit und den Aufsätzen Blumenbergs vor der Legitimität der Neuzeit. Dieses Buch wird sehr gelobt; der Preis ist allerdings alles andere als lobenswert.

Die Einführung von Franz Josef Wetz in der kleinen Junius-Reihe ist meines Erachtens nur bedingt empfehlenswert. Sie ist inzwischen in der dritten Auflage (2011) überarbeitet, gibt auch einen recht passablen Einstieg, behandelt aber die einzelnen Themen ein wenig oberflächlich, was wohl dem Format der Reihe geschuldet ist. Lesenswert dagegen: Lebenswelt und Weltall. Hermeneutik der unabweislichen Fragen. Wetz ist Schüler von Odo Marquard, der Blumenberg zeitlebens treu war und zuletzt wohl einziger Kontakt Blumenbergs in die akademische Welt war; allerdings vereinnahmt Marquard Blumenberg sehr für die eigene Philosophie.

Von Franz Josef Wetz stammt auch der Film "Zwischen Himmel und Höhle" über Hans Blumenberg aus den 90er Jahren:

https://m.youtube.com/watch?v=DbaNmbOG-2k&t=294s




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Alethos
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Fr 4. Okt 2019, 12:38

Nauplios hat geschrieben :
Do 3. Okt 2019, 19:37

Welche Ausgabe der Paradigmen liegt Dir vor, Alethos, die von Anselm Haverkamp kommentierte Ausgabe in der Reihe "Studienbibliothek" oder die stw-Ausgabe?
Mir liegt die stw-Ausgabe vor.

Gibt es nach deinem Dafürhalten ein Buch, das sich als Leseprojekt eignen würde oder würdest du eher ein 'Thema' wählen, das wir mit Blick auf Blumenbergs Deutungsart durchleuchten wollen?



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Nauplios
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Fr 4. Okt 2019, 13:21

Man muß ja nicht gleich mit einem vollständigen Buch anfangen. Und vielleicht lassen sich beide Wege kombinieren: ein kleines Stück "Arbeit am Text" und danach ein "Thema", ein Blick aus größerer Distanz; das Ganze im Wechsel ...

Da ja nun die Paradigmen zu einer Metaphorologie schon mehrfach erwähnt wurden und der Text auch online vorliegt und das Buch eine der wenigen programmatischen Schriften Blumenbergs ist, mache ich mal einen konkreten Vorschlag: Wir gehen die ersten beiden Kapitel gemeinsam durch, also die "Einleitung" und "Die Metaphorik der ˋmächtigen´ Wahrheit". - Der Umfang beider Kapitel zusammen beträgt 15 Seiten. Dann hätten wir mit der "Einleitung" ein Stück programmatische Metaphorologie und mit dem ersten Kapitel ein Stück angewandte Metaphorologie. -

Danach können wir neu entscheiden, ob wir (ein) weitere(s) Kapitel lesen wollen oder erst mal den Zoom zurückfahren und einen größeren Ausschnitt betrachten wollen. Man sollte die Philosophie Blumenbergs auch nicht einzig und allein auf Metaphern reduzieren.

Als programmatische Schrift ließe sich auch die Theorie der Unbegrifflichkeit bezeichnen; hier würde ich irgendwann gerne Blumenbergs genetische Theorie des Begriffs erörtern (Begriff als Falle).

Dann weiß ich, daß Dir, Friederike auch der Rhetorik-Aufsatz vorliegt; Du hattest ja kürzlich schon daraus zitiert; der wäre ganz gut geeignet für die anthropologischen Aspekte.

Blumenberg fühlt sich sehr stark der Phänomenologie Husserls verpflichtet. Auch das wäre ein möglicher Gesichtspunkt, den man entfalten könnte.

Das Buch Matthäuspassion zeigt Blumenberg von einer ganz anderen Seite. Das wäre womöglich ein guter Schlußpunkt für unsere Diskussion.

Die großen Studien wie Arbeit am Mythos oder Höhlenausgänge oder auch die Genesis der kopernikanischen Welt werden wir als Leseprojekte kaum bewältigen können. Hier kann es sich nur um Ausschnitte handeln oder um sekundärgestützte Quellen, die man besprechen könnte.

Bevor das aber jetzt eine Agenda für die nächsten Jahre wird: was haltet Ihr davon, mit der Einleitung und dem ersten Kapitel der Paradigmen zu beginnen?




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Friederike
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Fr 4. Okt 2019, 15:22

Nauplios hat geschrieben :
Do 3. Okt 2019, 19:26
[...[ Von daher bietet sich die "nackte Wahrheit" jetzt nicht unbedingt an. -
Gut, dann halte ich fest, daß wir uns dieses Buch als Einstiegstext nicht vornehmen - alldieweil Dir, @Jörn, der Leseprobe Text nicht sonderlich zusagte.

Da nun die "Paradigmen" sogar online zugänglich sind (ich habe mich bisher nicht getraut, mich dafür registrieren zu lassen, wer weiß, was die Folgen sind :mrgreen:) und Ihr @Alethos und @Nauplios das Buch im Druck vorliegen habt, wäre es eine Option ...

NS: Eben erst lese ich, daß Du bereits die Paradigmen vorgeschlagen hast @Nauplios. Sorry.




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Alethos
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Friederike hat geschrieben :
Fr 4. Okt 2019, 15:22
"Paradigmen".. wäre .. eine Option
Ja, sehe ich auch so, aber ich kenne auch nur das.



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Jörn Budesheim
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Sa 5. Okt 2019, 07:41

Ich finde die Idee, dass wir daraus (zunächst nur einen Teil) gemeinsam lesen, wenn ich mich recht entsinne waren es 15 Seiten, sehr gut.




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Jörn Budesheim
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Friederike hat geschrieben :
Fr 4. Okt 2019, 15:22
wer weiß, was die Folgen sind :mrgreen:)
Na, das ist doch klar! Blumenberg steigt aus seiner Höhle und erscheint dir des Nachts.




Nauplios
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Sa 5. Okt 2019, 15:27

Erschienen sind die Paradigmen zu einer Metaphorologie 1960, in Erich Rothackers Archiv für Begriffsgeschichte. Rothacker gehörte zu den 51 Hochschullehrern, die 1932 einen Wahlaufruf für Adolf Hitler unterzeichnet hatten. Im März 1933 trat er der NSDAP bei und wurde kurz darauf Abteilungsleiter in Goebbels Propagandaministerium. Von dort aus organisierte er die "Aktion wider den undeutschen Geist" (Bücherverbrennung) mit. Im April 1933 hielt sich Rothacker zwei Wochen in Goebbels Privatresidenz auf, um hier seinen Plan zur "Erziehung im Nationalsozialismus" auszuarbeiten. -

Nach dem Krieg nahm er seine Lehrtätigkeit wieder auf, wurde Professor in Bonn. Zu seinen Schülern zählten u.a. Jürgen Habermas, Hermann Schmitz, Karl-Otto Apel. 1955 gründete Rothacker das Archiv für Begriffsgeschichte. - Für Rothackers Archiv steuerte der "Halbjude" Blumenberg, der 15 Jahre zuvor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus durch Flucht aus einem Konzentrations- und Arbeitslager entkommen war, seine "Paradigmen" bei. - Aus unserem heutigen Blick klingt das verstörend, insbesondere dann, wenn man den herzlichen Ton der Korrespondenz zwischen Rothacker und Blumenberg liest. (vgl. Anselm Haverkamp; Metapher - Mythos - Halbzeug) - 1960 erscheint auch Gadamers Wahrheit und Methode. Das Verhältnis von Gadamer und Blumenberg war nicht frei von Spannungen. Gadamer war Schüler von Martin Heidegger und dem berühmten Altphilologen Paul Friedländer. (Heidegger starb erst 1976) Blumenberg war Schüler des Husserl Assistenten Ludwig Landgrebe und des ebenfalls berühmten Altphilologen Bruno Snell (Die Entdeckung des Geistes).

Zu dieser Gemengelage gehört noch Walter Bröcker, der sich mit seiner Aristoteles-Arbeit bei Heidegger habilitiert hatte und Joachim Ritter, für dessen Historisches Wörterbuch der Philosophie Rothackers Archiv vorarbeitete.

Dies ist - ganz grob umrissen - die akademische Gesprächssituation, an der die Paradigmen teilnehmen. Und aus dieser Situation ergibt sich, daß die Paradigmen sich an ein akademisches Publikum richten, das selbstverständlich über Voraussetzungen verfügt, die auf den Internet-Leser der Paradigmen nicht mehr übertragbar sind. Dazu zählen beispielsweise gründliche Kenntnis der alten Sprachen. Blumenberg schreibt für ein altphilologisch gelehrtes Publikum. Daß heute die Paradigmen im Internet zugänglich sind, heißt nicht, daß sie für ein Internetpublikum des Jahres 2019 geschrieben sind. Ihren "natürlichen" Ort haben sie im Archiv für Begriffsgeschichte des Jahres 1960, nicht in der Sonntagsbeilage einer überregionalen Zeitung. -

Griechisch und Latein sind heute nicht mehr obligatorisch. Aus diesem Grund ist auch ein "Kommentar" für heute Studierende notwendig geworden, der das Selbstverständliche, inzwischen aber Unverständliche verständlich macht. Diesem Kommentar von Anselm Haverkamp sind die Übersetzungen entnommen, die ich in dem Blumenberg-Blog zusammengestellt habe. Der Link dazu steht in meiner Signatur. So kann die Lektüre ein wenig "flüssiger" gestaltet werden. -




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Sa 5. Okt 2019, 17:58

Dann haben wir also einen Plan und mit deinem Blog auch das nötige 'Rüstzeug'.



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Sa 5. Okt 2019, 19:15

Nauplios hat geschrieben : [...] Aus unserem heutigen Blick klingt das verstörend, insbesondere dann, wenn man den herzlichen Ton der Korrespondenz zwischen Rothacker und Blumenberg liest. (vgl. Anselm Haverkamp; Metapher - Mythos - Halbzeug) - [...]
In diesem Kontext erhellte Blumenbergs "Rigorismus der Wahrheit" evtl. die Verstörung, insofern als wir vielleicht besser "verstehen" würden. Ich weiß es nicht, und möglicherweise ist es auch ganz unbotmäßig, überhaupt verstehen zu wollen.

@Nauplios, nebenbei, Du sagst Bescheid, wenn Du Beiträge als offtopics ansiehst?! Siehe meinen obigen Einwurf.




Nauplios
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Sa 5. Okt 2019, 20:11

Ich hoffe, Friederike, daß über offtopics ein ausreichender Konsens besteht und Platzverweise für solche Beiträge nicht erforderlich werden. :-) Die Grenze zum off liegt ja meistens im Graubereich; erst wenn das topic Wanderungsbewegungen zeigt und ein Paradigmenwechsel vollzogen ist, weiß man ex post, jetzt ist es geschehen. - Danke für das Angebot. :-)




Nauplios
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Sa 5. Okt 2019, 21:09

"Versuchen wir uns einmal vorzustellen ... " - Mit einem Gedankenexperiment beginnen die Paradigmen, indem ein "hypothetischer ˋEndzustand´ der Philosophie" entworfen wird als Folge und Abschluß des methodischen Programms, das Descartes im Discours de la Methode (1637) vorlegt. "Die erste (Vorschrift) besagt, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist: d.h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln." (Descartes; Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs; S. 31) -

Klar und deutlich - das bedeutet für die philosophische Terminologie, daß sie die "Präsenz und Präzision der Gegebenheit in definierten Begriffen auffängt". (S. 11) - Die philosophischen Begriffe müßten in diesem "Endzustand" der Philosophie also allesamt klar und deutlich definiert sein. "Alle Formen und Elemente übertragener Redeweise im weitesten Sinne erwiesen sich von hier aus als vorläufig und logisch überholbar; sie hätten nur funktionale Übergangsbedeutung ... " (S. 11) - Die Metapher als Form der übertragenen Redeweise fällt von Haus aus in die Zuständigkeit der Rhetorik. Das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie galt jedoch seit Platons Rhetorik-Kritik als zerrüttet. Sie war zulässig als Lehre der ornamentalen Verschönerung der Rede, aber als eine "authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen", wie es später bei Blumenberg heißt, galt die Metapher als unpräzise und mehrdeutig. Der "Endzustand der Philosophie" im Sinne Descartes war also mit dem Verzicht auf sämtliche bildliche Ausdrucksweise verbunden. "Klar und deutlich" konnte nur sein, was in präziser Begrifflichkeit wiederzugeben möglich war. So lange konnte die Metapher allenfalls als "Übergangsbedeutung" geduldet werden, aber immer mit dem Charakter des Vorläufigen und Defizienten. -

Konsequenterweise müßte die Philosophie im "Endzustand" dann auch das Interesse an einer Begriffsgeschichte (Rothackers und später Ritters Anliegen) verlieren. Im "Endzustand" wäre ja alles gesagt, sogar klar und deutlich, und "Endzustand" bedeutet, daß nach Erreichung dieses Zustands ein Weiterphilosophieren obsolet sein müßte. "Geschichte" wäre dann allenfalls noch das Vorauseilen (precipitation) und Vorwegnehmen (prevention), das aber für das klare und deutliche Wissen selbst ohne Belang wäre. -

"Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen ... " heißt es in Wittgensteins Tractatus.

Was Descartes nicht wissen konnte: fast vierhundert Jahre später ist ein "ˋEndzustand´ der Philosophie", verbunden mit einer rein begrifflichen Terminologie immer noch nicht erreicht. -




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Jörn Budesheim
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So 6. Okt 2019, 08:58

Hier sind die vier Regeln, von denen Blumenberg in dem Text spricht, so wie das Zitat von Vico.
Rene Descartes hat geschrieben : Die erste besagte, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidenter-maßen erkenne, daß sie wahr ist: d.h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln.

Die zweite, jedes Problem, das ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen.

Die dritte, in der gehörigen Ordnung zu denken, d.h. mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetzesten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung zu bringen, die natürlicherweise nicht aufeinander folgen.

Die letzte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, daß ich versichert wäre, nichts zu vergessen.“
Giambattista Vico hat geschrieben : Als wahr erkennbar ist nur das, was wir selbst gemacht haben




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Jörn Budesheim
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So 6. Okt 2019, 09:14

Nauplios hat geschrieben :
Do 3. Okt 2019, 05:05
Hans Blumenberg hat die Philosophie einmal in ironischer Distanz als "Erinnerungsposten" im bilanztechnischen Sinn bezeichnet. Ein Erinnerungsposten ist in der Bilanz ein durch Abschreibung entstandener Merkposten im symbolischen Wert von 1 Euro, der nach den "Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung" erforderlich ist, weil das völlige Weglassen von noch vorhandenen Aktivposten aus der Bilanz nicht zulässig ist. Mit anderen Worten: da ist noch etwas, zwar von keiner nennenswerten Erheblichkeit für die Bilanzierung des Wissens, aber auch nicht gänzlich abzuschreiben.
Ich denke auch, es ist wichtig sich vor Augen zu halten, dass Descartes sicherlich einen anderen Begriff von Philosophie hatte als wir heute. In einem Lehrbuch zu Descartes finde ich folgendes: Im Vorwort zur französischen Ausgabe der Prinzipien vergleicht Descartes die Philosophie mit einem Baum: seine Wurzeln sind die Metaphysik, der Stamm ist die Physik, und die Äste, die aus diesem Stamm hervor wachsen, sind alle anderen Wissenschaften, die sich auf die drei hauptsächlichen, nämlich Medizin, Mechanik und Moral zurückführen lassen.

Der Endzustand der Philosophie wäre dann für Descartes, wenn ich das richtig verstehe, der Endzustand der Wissenschaften bzw des Wissens überhaupt.




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