Über einige Aspekte der Philosophie Hans Blumenbergs

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Stefanie
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So 13. Okt 2019, 19:26

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Alethos
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So 13. Okt 2019, 21:00

Das war der Grund, habe ein wenig bereinigt.



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Nauplios
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Di 15. Okt 2019, 22:54

Die Metaphorik der ˋmächtigen´ Wahrheit

Nach der Einleitung präpariert Blumenberg das Verhältnis von Wahrheitsbegriff und Wahrheitsmetaphorik heraus, also Terminologie und Metaphorik der Wahrheit. Eine Geschichte des Wahrheitsbegriffs im streng terminologischen Sinne, d.h. die Geschichte möglicher Definitionen der Wahrheit würde nur eine "karge Ausbeute" erzielen. Genannt wird die "meistgenutzte Definition" mit ihren beiden Varianten:

Veritas est adaequatio rei et intellectus (Wahrheit ist die Angleichung von Intellekt und Sache) - Dabei ergibt sich der "Spielraum" für die terminologische Fixierung aus den beiden Lesarten, daß sich hier sowohl der Intellekt an die Sache angleichen kann (adaequatio intellectus ad rem) als auch die Sache an den Intellekt (adaequatio rei ad intellectum).

Von der "kargen Ausbeute" geht es dann zur Lichtmetaphorik der Wahrheit, welche insofern "nicht rückübertragbar" ist, weil der "Spielraum" an Imaginationen, den die Metapher des Lichts öffnet, in einer bloßen Definition der Wahrheit keinen ausreichenden Platz finden würde. Der metaphorische "Spielraum" ist natürlich weiter gefaßt als eine strenge Definition (bei der die Abgrenzung ja bereits im Verfahren der Definition selbst liegt). - Die "fundierenden Fragen", die bei der Metaphorik des Lichts mitschwingen sind z.B.:

"Welchen Anteil hat der Mensch am Ganzen der Wahrheit? In welcher Situation befindet sich der Wahrheit Suchende: darf er vertrauen, daß das Seiende sich ihm öffnet, oder ist Erkenntnis wesentlich Gewalttat, Überlistung, Abpressung, hochnotpeinliches Verhör des Gegenstandes? Ist der Wahrheitsanteil des Menschen sinnhaft reguliert, z.B. durch die Ökonomie seiner Bedürfnisse oder durch seine Begabung zum Glück des Überflusses nach der Idee einer visio beatifica?" (Paradigmen S. 19) -

In einer "untergründigen Schicht des Denkens" gab es "immer schon" Antworten auf und Vermutungen (s. "Mut zur Vermutung") zu diesen Fragen. Diese untergründige Schicht steht in einem implikativen Verhältnis zum terminologisch gefaßten, definierten Begriff der Wahrheit. Die Metaphorologie hält sich hier an "Indizien" für die Untergrundaktivitäten der Metapher. Blumenberg spricht auch von "Vorzeichnungen", von "Modellvorstellungen" im Hinblick auf die Voraborientierungen der Wahrheitsmetaphorik, welche dem "kargen" Begriff zugrundeliegen.

Unter Bezugnahme auf Milton und Goethe wirft Blumenberg die Frage auf, ob der Mensch überhaupt (etwa von Gott) befähigt ist, die Wahrheit zu erkennen. Ist die "Weltstruktur" so "durchsichtig", der "Schöpfungswille" so einsichtig, teilt sich das "Seiende" vorbehaltlos genug mit, daß das menschliche Erkenntnisvermögen auch in der Lage ist, sich der Wahrheit anzugleichen? - Und ist die Wahrheit dabei eine verborgene, die mit Aufwand und nur unter Mühen entdeckt werden kann? - Oder drängt sich die Wahrheit ihrerseits als eine mächtige Wahrheit dem Menschen auf und erzwingt ihre Erkenntnis damit durch ihn? -

Die in der Einleitung angesprochene "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen" wird nun im Vierschritt Aristoteles/Stoa/Patristik/Neuzeit am Paradigma der Wahrheitsmetaphorik entfaltet. Die Richtung dieser Metakinetik geht von der mächtigen Wahrheit und ihrer partiellen Entmächtigung hin zur Ermächtigung des Menschen gegenüber der Wahrheit. - Bei Aristoteles ist es das Drängen der Wahrheit selbst, das zur Einsicht in sie zwingt. - In der Stoa erfährt dieser Gedanke eine Zuspitzung in Form der katalepsis, der ergreifenden Vorstellung, deren Doppeldeutigkeit eine Entwicklung ermöglicht, die aus der Ergreifung des Menschen durch die Wahrheit zur Ergreifung der Wahrheit durch den Menschen - kataleptike phantasia - überleitet. Die Umkehrung der Aktionsrichtung wird dadurch begünstigt, daß die etymologische Herleitung von phantasia aus phos (Licht) erlaubt, den Menschen als Lichtbringer zu denken, der das Dunkel ausleuchtet, etwas ans Licht bringt, Aufklärung betreibt; die katalepsis ist mithin eine, die die Wahrheit zum Gegenstand des Ergreifens macht. In der Stoa ist diese Möglichkeit der Umkehrung der katalepsis also angelegt, aber die Metakinetik bewegt sich im spätantiken Denken des Hellenismus (worunter ja nicht nur die Stoa fällt) in Richtung einer Verschärfung des Zwangscharakters der Wahrheit, indem von der Lichtmetaphorik auf die Prägemetaphorik umgestellt wird. Die katalepsis drückt der Erkenntnis ihren Stempel auf: typosis en psyche bedeutet nun, daß der erkennenden Psyche ein Siegel aufgedrückt wird. Die Wahrheit hinterläßt Eindrücke. -

Die Mächtigkeit der Wahrheit hat aus Sicht der Patristik in der Antike damit Spuren hinterlassen, so daß das Studium vorchristlicher Autoren daraus seine Legitimität gewinnt. Die mächtige Wahrheit wird zu einem Topos, der sich noch bei Kepler findet, allerdings ändert sich das Bild nun zunehmend in Richtung auf eine Beteiligung menschlicher Erkenntnisvermögen am Aufspüren der Wahrheit. Die Metakinetik läuft auf eine Selbstbeteiligung der Erkenntnis hinaus. "Nicht mehr die Wahrheit hat hier eine Macht, sondern, was Macht über uns hat, legitimieren wir theoretisch als das Wahre." (Paradigmen S. 26) -

Mit diesem ersten Kapitel haben wir ein Stück angewandte Metaphorologie. Am Beispiel der "mächtigen Wahrheit" wird "archäologisch" ein Untergrund an metaphorischen Orientierungen freigelegt, der - im Gegensatz zur terminologischen Definition der Wahrheit - einen "Spielraum" eröffnet, aus dem heraus die "Substruktur des Denkens" erkennbar und verständlich wird, welche die "systematischen Kristallisationen" anleiten. Was in diesem "Spielraum" gespielt wird und sich abspielt, ist Gegenstand der Metaphorologie. -




Nauplios
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Fr 18. Okt 2019, 19:23

Der Gedanke der Archäologie - Die „Verborgenheit“ der Metapher legt ein Bild nahe, das sich später bei Foucault findet und das recht gut das metaphorologische Verfahren skizziert. Archäologisch eine „Verborgenheit“ aufdecken: eine Gegenbewegung zu Heideggers „Seinsgeschichte“.

„Karge Ausbeute“ - Terminologische Erfassungen, zugespitzt als Definitionen haben sich in vielen Debatten tatsächlich als „karge Ausbeute“ dargestellt, insbesondere dort, wo es um die allseits beliebte Frage „Was ist Wahrheit?“ ging.

Terminus - dazu merkt Haverkamp in seinem Stellenkommentar an: „Ein Terminus ist ein in der Bedeutung exakt definierter Ausdruck“ (S. 280) Und damit wäre Terminologie ein „Spezialfall von Begrifflichkeit“. Begriffsgeschichte war das Programm von Rothacker und später Ritter. Blumenberg setzt ihr eine Metaphorologie zur Seite, 1960 in den Paradigmen noch in einem „Verhältnis der Dienstbarkeit“.

„Verborgene Fülle“ - Im Gegensatz zur unergiebigen, „kargen Ausbeute“ einer rein terminologisch orientierten Begriffsgeschichte kann die Metaphorologie in ihrer „Archäologie“ Bedeutungsschichten freilegen, welche die „Fülle“ am vorauseilenden „Mut zur Vermutung“ erkennen lassen. Im Grunde hat man hier eine erste Andeutung des Anthropologischen. Später wird Blumenberg eine anthropologisch inspirierte Genesis des Begriffs (Theorie der Unbegrifflichkeit) vorlegen.

Veritas est adaequatio rei et intellectus - irrtümlich Isaak ben Salomon Israeli zugeschrieben. - Haverkamp nennt die Angleichung des Geistes an die Dinge ein „eher plattes referentialistisches Wahrheitsverständnis“ (281) - Die zweite Lesart, die Angleichung der Dinge an den Geist, ist eine „schöpfungstheologische Interpretation“, weil dabei der Gedanke leitend ist, der sich bei Vico findet: die Dinge hören gleichsam auf den, der sie erschaffen hat.

Das analytische „Material“ der Lichtmetapher - Hier ist zu verweisen auf den frühen Aufsatz von Blumenberg „Licht als Metapher der Wahrheit“. Die Reichhaltigkeit dieses Materials bezeugen frühe Funde, eine Epoche, welche die Lichtmetapher bereits in ihrem Namen trägt (Aufklärung) bis hin zum Scheinwerferlicht, in das die Dinge gerückt werden, um auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden zu können.

Fundierende Fragen - im Fundus, im Fundament klingt das archäologische Motiv erneut an.

„Absolute Metaphern sind Antworten, die das begrifflich nicht zu bewältigende Erfragte stellvertretend zugänglich machen, aporetische Antworten auf begrifflich unbeantwortbare Fragen.“ (Haverkamp-Stellenkommentar, S. 283)

Untergründige Schicht - immer wieder taucht das Bild dieses Untergrunds auf, in dem vor allen Prozessen der Begriffsbildung eine Orientierung durch Bilder am Werk ist. Der Metaphorologe klopft mit kriminalistischem Spürsinn die Prozesse der philosophischen Begriffsbildung nach „Indizien“ ab für solche Orientierungsleistung.

visio beatifica - ein Gedanke der Eschatologie: die seligmachende Schau Gottes

Die energetische Qualität der Wahrheit - Theologie ist hier nur eine mögliche Form der Einkleidung der „fundierenden Fragen“. Wird nach der Wahrheit gefragt, so wird in der metaphorologischen Schicht dieser Frage immer nach mehr gefragt als nur nach der Wahrheit. Ein Bedeutungsfeld öffnet sich damit, in dem gleichsam weitere „Player“ mitspielen, in theologischer Einkleidung eben auch Gott.

Publizität des Seins - Haverkamp sieht hier einen Seitenhieb auf die Aletheia-Struktur der Wahrheit bei Heidegger.

Um den Vierschritt Aristoteles/Stoa/Patristik/Neuzeit in einer Art Slowmotion zu vertiefen, wären hier die Quellen nachzulesen: Die aristotelische „Metaphysik“, dazu die unter Altphilologen hochgehandelte Studie von Karl Reinhardt über Parmenides, Walter Bröckers Aristoteles-Buch, Heinimann, „Nomos und Physis“, Wolfgang Wieland, „Die aristotelische Physik“, Platons „Timaios“, die Schriften von Laktanz, als Vertreter der Stoa: Chrysipp in den „Stoicorum veterum fragmenta“ (hrsg. v. Hans von Arnim), Sextus Empiricus, „Adversus mathematicos“, das „Apologeticum“ Tertullians, das „Proslogion“ des Anselmus, Plotins „Enneades“ II, Johannes Kepler, „Die Zusammenhänge der Welten“ ...

Die Lektüre dieser Quellen dürfte sich angesichts der zum Teil entlegenen Publikationslage als aufwendig erweisen. Aktivitäten in diese Richtung sind gern gesehen. :-)




Nauplios
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So 20. Okt 2019, 18:24

Wahrheitsmetaphorik und Erkenntnispragmatik (1)

Und wohin bestehet das Wesen derselben? - Darin, daß sie nie bei der strengen Wahrheit bleiben; daß sie bald zu viel, und bald zu wenig sagen -- (Lessing über die "Figuren", wozu die Rhetorik auch die Metapher zählt)

Mit Lessing (Pope ein Metaphysiker!) hebt das zweite Kapitel der Paradigmen an. Darin ist "die Frage nach der Wahrheit der Metapher selbst aufgeworfen" (27). Dazu schreibt Blumenberg:

"Ohne weiteres ist klar, daß sich solche Metaphern wie die von der Macht oder Ohnmacht der Wahrheit nicht verifizieren lassen und daß die in ihnen entschiedene Alternative theoretisch gar nicht entscheidbar ist." - In der Verifikation stecken das lateinische veritas (Wahrheit) und facere (machen); etwas zu verifizieren zielt in die Richtung des Beweisens, d.h. die Wahrheit der Metapher ist keine, die sich in einem methodisch strikten Beweisverfahren belegen ließe. Blumenberg spricht später auch von einem "Halbzeug", also einem vorgefertigten Rohmaterial, das er in den Paradigmen vorlegt. Unauffällig, aber später wieder vorgelegt wird die Denkfigur, daß etwas Entschiedenes nicht entscheidbar ist. Man muß in dem Zusammenhang auf die "Pragmatik" der Erkenntnis achten: Pragmatisch, also in der Praxis wird etwas entschieden (hier die Alternative zwischen Macht und Ohnmacht der Wahrheit), um Orientierungsgewinne zu erzielen, aber theoretisch, also bezogen darauf, ob die Wahrheit wirklich mächtig oder ohnmächtig ist, bleibt die Alternative natürlich offen, "gar nicht entscheidbar". - Der Fokus der Betrachtung erfährt damit eine Verschiebung von einer durch methodische Verfahren erzielten Wahrheit zu einer pragmatischen Wahrheit: "Die Wahrheit der Metapher ist eine verite a faire." (S. 29) - Die Wahrheit wird weniger gefunden als gestaltet, sie ist gleichsam verhandlungsbedürftig.

Desweiteren heißt es folgerichtig, daß die Metapher dem Anspruch eines "methodisch gesicherten Verfahrens der Bewahrheitung" nicht genügen kann. Die Metapher sagt also "nicht nur nicht die ˋstrenge Wahrheit´, sondern überhaupt nicht die Wahrheit." (S. 27) - Es folgt ein oft zitierter Satz der Paradigmen:

"Absolute Metaphern ˋbeantworten´ jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden." (27)

Der mit Kant vertraute Leser wird sich in diesem Zusammenhang an die Fragen der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, durch die die menschliche Vernunft belästigt wird, erinnert finden.
Der mit Heidegger vertraute Leser wird sich im selben Zusammenhang an die Zentralstellung von Dasein und Grund in der Fundamentalontologie erinnert finden.

Auch hier findet sich die Dialektik von "prinzipiell unbeantwortbaren Fragen", die durch absolute Metaphern gleichwohl "ˋbeantwortet´" werden. Die "Erkenntnispragmatik" entfaltet diesen scheinbaren Widerspruch, sofern eben die Praxis (später die anthropologische "Situation") zur Beantwortung zwingt, solche Antworten aber nicht "theoretisch entscheidbar" sind.




Nauplios
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So 20. Okt 2019, 19:16

Wahrheitsmetaphorik und Erkenntnispragmatik (2)

"Die Metapher als Thema einer Metaphorologie in dem uns hier beschäftigenden Sinne ist ein wesentlich historischer Gegenstand ... " (28)

Damit tritt erneut die "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen" in Kraft, von der am Ende der Einleitung die Rede war. Metaphern sind nicht ein für allemal starr, auch und vielleicht gerade die absoluten nicht, sondern haben ihre Geschichte (s. etwa die Geschichten von der mächtigen und ohnmächtigen Wahrheit). Die untergründige Schicht hat ihre eigene Tektonik, sie "arbeitet", so daß sich neue Geschichten an alte anschließen lassen, hat ihre eigen(willige) Produktivität.

Von Produktivität war schon mal die Rede als es um Vico ging und seine "Logik der Phantasie". Nun ist die Phantasie das Vorrecht der Dichter und Künstler.

"Nebenbei - wenn auch nicht nebensächlich - fällt von diesen Erwägungen her ein Licht auf die gegenwärtige Bedeutung der Kunst als der eigentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens (Nietzsche) [...] Das Absolute, das dem modernen Menschen am ehesten in seinen ästhetischen Erfahrungen zu begegnen scheint [...], präsentiert sich hier als das von der Gebrochenheit des geschichtlich reflektierenden Bewußtseins Unberührte. Daher die zwischen Naivität und Raffinement selten genau unterscheidbare Vorliebe für die ˋFauves´ im mehr als schulmäßigen Sinne. Wie hoch eine etwaige künftige ˋMetaphorologie´ den Zeugniswert der produktiven Phantasie für unsere Epoche veranschlagen wird, das hängt von der Beantwortung der grundsätzlichen Frage ab, ob solche Ekstasis aus der historisch-reflektierten Situation gelungen ist, ob sie überhaupt gelingen kann." (28) -

Im schulmäßigen Sinne ist der Fauvismus eine Stilrichtung der Malerei (Matisse, Derain, de Vlaminck u.a.), deren Wurzeln zum Impressionismus zurückreichen. "Fauves" bedeutet wörtlich "wilde Bestien".

"In Gestalt einer Heraushebung und Interpretation von Aussageelementen der Kunst mag also die Aufgabe und Methodik der Metaphorologie auch über die historische Gegenstandssphäre hinaus führen." (29) -

Hier liegt ein auch bei Gadamer und anderen hermeneutischen Denkern zu findendes Gesprächsangebot vor, das sich an die Kunst und an die Literatur wendet. Wenn auch nur "nebenbei", gleichwohl "nicht nebensächlich", bezieht die philosophische Hermeneutik (vorausgesetzt, daß man in der Metaphorologie ein hermeneutisches Verfahren sehen darf) immer auch die "Aussageelemente der Kunst" in ihr Denken mit ein. Kunst und Literatur sind ihr keineswegs Geschmacksache. - Gesprächsangebote haben es allerdings bisweilen an sich, daß sie in den Wind geschlagen werden. ;)





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Stefanie
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So 20. Okt 2019, 22:06

Muss man bei den zwei Links noch was machen? Es steht jedes mal die Beschreibung des Projekts, klicke ich auf den Link darunter skulptur Projekte 2017, gibt es bei mir eine kapitale Warnmeldung, die Seite sei nicht sicher. Der andere Link führt auf eine Seite, die nicht gefunden werden kann.



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Nauplios
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Mo 21. Okt 2019, 03:24

Ja, diese beiden Links, die sich auf den beiden Seiten finden, auf die verlinkt habe, zeigen auch mir eine Warnmeldung bzw. führen auf eine Seite, die nicht gefunden werden kann.

Ich weiß nicht, ob Dir die Skulptur Projekte Münster bekannt sind, Stefanie. 1977 von Klaus Bußmann und Kasper König initiiert, findet diese Ausstellung alle 10 Jahre, immer zu jeder zweiten documenta in Kassel, statt.



Zu den „Skulptur Projekten Münster“ organisiert die Westfälische Wilhelms-Universität Münster(WWU) die Reihe der „Blumenberg Lectures“. In zehn Vorträgen beleuchten unter dem Titel „Metaphern des Gemeinsinns – Contesting Common Ground“ Experten gesellschaftliche und politische Fragen der Ausstellung und diskutieren sie „aus der Perspektive ihrer Fächer“. Die Vorträge finden jeweils im Fürstenberg-Haus und im Juridicum statt. Namenspatron ist der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996). Zu den zentralen Aussagen in seiner frühen Schrift „Paradigmen“ gehört die Erkenntnis, dass bestimmte absolute Metaphern wie z.B. eine Umschreibung als „nackte Wahrheit“ als Grundbestände einer philosophischen Sprache nicht durch andere Begriffe zu ersetzen sind. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war die Beschäftigung mit dem Epochenwandel zwischen Mittelalter und Neuzeit, charakterisiert durch den zunehmenden Willen des Menschen nach Selbstbehauptung gegenüber einem theologischen Absolutismus. „2017 spielen soziale Praktiken in Form von Materialverwendungen, Workshops, Recherchen und Performance im Hinblick auf den öffentlichen Raum eine wichtige Rolle. Unter anderem stellen die Künstlerinnen und Künstler die Frage nach dem „Miteinander leben“, wem die Stadt gehört, und welche Formen von Gemeinschaft unsere Gesellschaft ausmachen. Mit dem Begriff „Gemeinsinn“ im Titel der diesjährigen Blumenberg Lectures klingt ein Konzept an, auf das sich die Skulptur Projekte von Anfang an beziehen. Können ästhetische Strategien dazu dienen, in den aktuellen Krisen kollektive Prozesse anzustoßen oder alternative Öffentlichkeiten zu entwickeln? Welcher Widerstandsformen bedarf es und welche sind zulässig, um Krisendiagnosen und Auflösungserscheinungen einen positiven Fluchtpunkt entgegen zu setzen? Die Blumenberg Lectures beginnen am 12. Juni 2017 mit einem Vortrag von Laura Kurgan. Anschließend referieren Thomas Keenan (19. Juni), Oliver Marchart (30. Juni) und Gesa Ziemer (10. Juli). Am 21. Juli 2017 spricht Alexander Albero über zeitgenösssiche Kunst zwischen Regionalität und Globalität. Es folgen Vorträge von Philipp Oswalt (26. Juli), Juliane Rebentisch (31. August), Erhard Schüttpelz (19. September), Claus Leggewie (21. September) und Chantal Moffe (29. September 2017).

Quelle:

https://www.kunstforum.de/nachrichten/m ... -lectures/

Es geht also um "aktuelle Krisen", "Krisendiagnosen", um Blumenbergs Paradigmen, um die "nackte Wahrheit", um "Metaphern des Gemeinsinns", um "Formen von Gemeinschaft" u.ä.

Die "Blumenberg Lectures" bieten Schnittstellen zu all diesen Themen. -

"Kunst als Unbegrifflichkeit" könnte der Titel eines künftigen Threads sein, der sich mit der Kunst aus der Perspektive einer Metaphorologie beschäftigt.

Übrigens: ich habe mir die Freiheit erlaubt, dem Dank an die Hans-Blumenberg-Gesellschaft für die freundliche Einladung einen Link zu unserer Blumenberg-Sektion beizufügen. Bisher ist das folgenlos geblieben. Glück gehabt. :lol:




Nauplios
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Mo 21. Okt 2019, 16:44

Wahrheitsmetaphorik und Erkenntnispragmatik (3)

"Absolute Metaphern ... geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität." (S. 29)

Dieser Satz gehört wohl zu den meist zitierten Sätzen aus den Paradigmen. Absolute Metaphern stehen in einem implikativen Verhältnis zum Ganzen, das sie repräsentieren:

"Eine Frage wie ˋWas ist die Welt?´ ist ja in ihrem ebenso ungenauen wie hypertrophen Anspruch kein Ausgang für einen theoretischen Diskurs; wohl aber kommt hier ein implikatives Wissensbedürfnis zum Vorschein, das sich im Wie eines Verhaltens auf das Was eines umfassenden und tragenden Ganzen angewiesen weiß und sein Sich-einrichten zu orientieren sucht. Dieses implikative Fragen hat sich immer wieder in Metaphern ˋausgelebt´ und aus Metaphern Stile von Weltverhalten induziert." (S. 29) -

Blickt man von den Arbeiten aus dem Nachlaß zurück auf die frühen Paradigmen, dann ist auffallend, daß bereits hier von "Verhalten" und "Weltverhalten", "Bedürfnis" gesprochen wird, sich also eine im weitesten Sinne anthropologische Richtung erkennen läßt. Blumenbergs Intentionen sind pragmatisch ausgerichtet. Das Ganze einer Totalität wie der Welt - das gilt auch für andere Totalitäten wie Geschichte, Bewußtsein usw. - ist nicht in einem theoretischen Diskurs erfahrbar; dennoch verschafft sich der Mensch aus pragmatischen Gründen der Orientierung (oriri = sich erheben, aufgehen der Sonne, Osten) ein Bild. Im "Sich-einrichten" ist dieser pragmatische Impuls deutlich ausgeprägt. - Es liegt auch hier eine ähnliche Struktur vor wie bei den "unbeantwortbaren Fragen", die dennoch pragmatisch "ˋbeantwortet´" werden müssen: Um sich einrichten zu können bedarf es einer Art Simulation durch Bilder, die das Ganze als unübersehbare Gegenständlichkeit "ˋvertretend´ vorstellig .. machen". - Man ist schnell geneigt, in der Metaphorologie ein erkenntniskritisches Verfahren zu sehen; das ist aber nur ein Aspekt unter anderen. Die Erkenntnispragmatik ist eigentlich die leitende Instanz bei seinen Überlegungen: wie arrangiert man sich in einer Welt, die sich dem erkennenden Vermögen in ihrer Totalität verweigert bzw. deren Totalität wir nicht erfassen können als Totalität, sondern in der wir angewiesen bleiben auf unseren "Mut zur Vermutung", damit Leben und Überleben möglich ist? -

(hypertroph: überzogen, übersteigert)




Nauplios
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Mo 21. Okt 2019, 17:16

Wahrheitsmetaphorik und Erkenntnispragmatik (4)

Es folgen nun weitere Interpretationen und Auslegungen von Belegstellen zur Metapher der mächtigen Wahrheit. Die Bohrstellen zur Vertiefung - man könnte auch sagen: die Quellen - seien hier nur kurz aufgezählt:

- Laktanz; Divinae Institutiones

- Laktanz; De ira dei

- Tertullian; Apologeticum

- Nikolaus von Cues; Idiota de sapientia

- Nikolaus von Cues; De apice theoriae

- Nikolaus von Cues; De coniecturis

- Cicero; De officiis

- Seneca; De otio

- Francis Bacon; Novum Organum

- Thomas von Aquino; Summa theologica

- d´Alembert; Discours Preliminaire de l´Encyclopedie

- Montesquieu; Discours sur les motifs qui doivent nous encourager aux sciences

- Goethe; Maximen und Reflexionen

- Goethe; Winckelmann und sein Jahrhundert

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Stefanie
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Mo 21. Okt 2019, 18:40

Kennen wäre zu viel gesagt, ich habe Berichte im Fernsehen über die Skulpturen Ausstellung gesehen und in der Zeitung darüber gelesen, aber live gesehen habe ich es nicht. Ich rechne jetzt mal nicht nach, wie alt ich bin, wann die nächste ist.



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Nauplios
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Mo 21. Okt 2019, 19:32

Zuletzt geändert von Nauplios am Mo 21. Okt 2019, 19:36, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Mo 21. Okt 2019, 19:33

Es wurde beim letzten Mal wie eine seltene Sternenkonstellation gehandelt, dass documenta, Münster und Biennale in einem Jahr stattfanden - auch eine Form der Metaphysik :)




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Jörn Budesheim
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Mo 21. Okt 2019, 19:35

Münster haben wir übrigens zu verdanken, dass wir einen kurzen Ausflug zu Walter Benjamin gemacht haben :) denn seine Idee der Sprache der Dinge wurde in einem Vortrag, den ich mir angehört habe, in der hiesigen Universität über eine bestimmte Skulptur in Münster ins Spiel gebracht.




Nauplios
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Nauplios hat geschrieben :
Mo 21. Okt 2019, 17:16

Die Bohrstellen zur Vertiefung ...
Aus Anlaß der bohrenden Fragen, welche die Paradigmen in unserem Diskurs hinterlassen, hier ein kleiner Fund aus Blumenbergs Die nackte Wahrheit, wo er Nietzsche zitiert - Nietzsche in Kursivsetzung:

"Der Theoretiker wie der Künstler hat es nie mit dem Letzten einer Entblößung zu tun; das ist ihnen gemeinsam. Was sie unterscheidet, ist der Verzicht, den Asketismus des Theoretikers, den Nietzsche im Tragödien-Traktat mit denen vergleicht, die ein Loch gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei, welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt. [Nietzsche; Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe; Bd. I, S. 97]

Die Metaphorik der Entblößung und das Gleichnis der Erddurchbohrung lassen sich einander genau zuordnen. Die Entblößung hat immer ein nächstes Ganzes vor sich, mag es auch seinerseits wieder die Hülle eines nächsten Ganzen sein; während jene Bohrungen im Verhältnis zu ihrem abstrakten Programm der Totalbohrung ein bloßes Nichts bleiben." (Blumenberg; Die nackte Wahrheit; S. 20) -

Um die "Metaphorik der ˋnackten Wahrheit´" geht es auch in den Paradigmen (S. 63ff). Von da aus ergeben sich Möglichkeiten, Brücken zu schlagen zum nachgelassenen Text Die nackte Wahrheit, so daß Friederikes Wunsch nach der Nackten Wahrheit sich wohl dennoch erfüllen könnte. ;)




Nauplios
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Di 22. Okt 2019, 20:06

Ein terminologisch-metaphorologischer Querschnitt zur Wahrheitsvorstellung

Wie die angeführten Quellen bereits signalisieren, hat Blumenberg in den ersten beiden Kapiteln der Paradigmen einen historischen Abriß der Wahrheitsthematik und ihrer Metaphorologie gegeben, eingeleitet und ergänzt durch allgemeine Bemerkungen zu einer Metaphorologie selbst. Die Richtung dabei war ein "Längsschnitt", der der Zeitachse folgte. - Nun geht es darum, paradigmatisch einen "Querschnitt" zu geben. Das geschieht am Beispiel eines lateinischen Kirchenvaters: Laktanz.

Blumenberg greift auf drei "Elemente" zurück, die er bei Laktanz findet, welche für den Komplex Wahrheit von Bedeutung sind:

- Die Metaphorik der vis veritatis

- Die Unwahrheit als "Gegenwelt eigener Essentialität zur Wahrheit" (58)

- Das Verhältnis von Wahrheit und Rhetorik (60)

Ich beschränke mich für diesen "Querschnitt" auf den ersten Punkt. - Die Referenzschrift für die vis veritatis, die Kraft der Wahrheit, sind die Divinae Institutiones, die "Göttlichen Unterweisungen", in denen Laktanz aus christlich-apologetischer Sicht auf die antike Philosophie und Mythologie schaut. Der Grundgedanke liegt darin, daß Laktanz einen "Rechtsgedanken des Eigentums aus der Urheberschaft" geltend macht. Die Metaphorik der Kraft ist implementiert in die Metaphorik des Rechts, d.h. die Wahrheit "gehört" Gott. Die vorchristlichen Autoren haben sich um die Wahrheit zwar bemüht, doch erst mit dem Erscheinen des christlichen Gottes, kommt zum Arbeitscharakter der Wahrheitsfindung der Gnadencharakter der Wahrheitsschenkung. Gott schenkt den Menschen nun die vis veritatis, indem er sie mit ihrer Hilfe in die richtige Richtung führt. Denn nicht - wie Demokrit stellvertretend zitiert wird - in einem tiefen Brunnen liegt die Wahrheit, sed tanquam in summo montis excelsi vertice vel potius in coelo: quod est verissimum (Div. Inst, III, 28, 14) - sondern wie auf dem höchsten Gipfel eines erhabenen Berges oder vielmehr im Himmel: was das Wahrste ist.

Nun haben wir es hier mit filigranen Ausführungen zu tun, die irgendwann in eine Laktanz-Exegese münden würden. Für unsere Zwecke scheint mir das nicht notwendig.




Nauplios
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Mi 23. Okt 2019, 10:14

Die Metaphorik der ˋnackten´ Wahrheit (1)

Bereits in den Divinae Institutiones kommt Laktanz auf die nuda veritas, die nackte Wahrheit zu sprechen (III, 1,3). "Aber diese Metapher will eben gar nichts in den Wahrheitsbegriff einbringen; sie projiziert Vermutungen und Wertungen sehr diffiziler Art über den Begriff hinweg. Die Metapher hängt ja aufs engste zusammen mit Deutung und Bedeutung der Kleidung als Bekleidung oder Verkleidung, denen je entsprechend Nacktheit sich ebenfalls differenziert als Durchschautsein einer Täuschung, einer Maskierung, oder als schamverletzende Enthüllung, Bruch eines Mysteriums. Die Wahrheit kann in ihrem Kleid ihre ˋKultur´ haben wie der Mensch seine Kulturgeschichte ganz wesentlich als die seiner Kleidung hat, denn er ist das sich bekleidende Wesen, das sich gerade in seiner ˋNatürlichkeit´ nicht offen gibt." (Paradigmen; S. 63f)

Die Metapher will nichts in den Begriff einbringen. Eine Theorie der Wahrheit, eine Definition der Wahrheit ist etwas anderes als eine Metaphorologie der Wahrheit. Sie ist eine Art "Kulturgeschichte" der Wahrheit. Blumenberg hatte ja die Metapher als einen "wesentlich historischen Gegenstand" bestimmt (S. 28). - Im Anschluß folgt ein Aphorismus aus Franz Werfels Theologumena, das diesen Aspekt der Kultur des Versteckens, der Verhüllung drastisch hervorhebt. Ausführlich behandelt wird dieser Aspekt auch im Nietzsche-Kapitel von Die nackte Wahrheit:

"Die nackte Wahrheit, die ˋnuda veritas´ , ist die Hurenbraut des Barbaren. Die Kultur beginnt genau damit, daß man etwas zu verstecken hat, das heißt mit dem Bewußtwerden der Erbsünde (Adams Feigenblatt ist das erste Kulturdokument). Der Rückfall in die Barbarei aber beginnt genau damit, daß man das Versteckte wieder zu entdecken beginnt, d.h. mit der Psychologie."

Ähnlich drastisch schreibt Nietzsche, von Blumenberg in Die nackte Wahrheit zitiert:

"An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen ˋdas Gute und das Schöne sind Eins´; fügt er gar noch hinzu ˋauch das Wahre´, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist hässlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.(Kritische Studienausgabe; Bd. 13; S. 500)

Auch hier greift Blumenberg den Gedanken einer Kulturgeschichte der Verschleierung auf, wenn er im Hinblick auf Nietzsche schreibt:

"Mannigfaltige Formen der Verschleierung sind die Grundlage aller Kultur, eben einer Kultur, die auf eine vorläufige Form des Menschen bezogen ist, noch nicht fähig zu letzter Härte." (Die nackte Wahrheit; S. 15)

Eine "vorläufige Form" - diesen Gedanken der Vorläufigkeit hatten wir früher schon angesprochen als das "permanente Provisorium", in das sich der Mensch einrichtet und als das man die conditio humana verstehen kann. -




Nauplios
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Mi 23. Okt 2019, 11:09

Am vergangenen Sonntag war Die nackte Wahrheit im Deutschlandfunk das "Buch der Woche". Die Rezension von Leander Scholz ist geeignet, eventuelle Ängste vor diesem Buch zu nehmen:


Hans Blumenbergs Werk war eine tief greifende Auseinandersetzung mit den einschneidenden Krisen der Menschheitsgeschichte und den geistigen Grundlagen einer neuen Epoche. Aus dem umfangreichen Nachlass des Philosophen erscheint nun ein Buch, in dem es um nichts Weiteres geht als: „Die nackte Wahrheit“.

Von Leander Scholz


Alles beginnt mit einem Verdacht. Der Mensch ist allein im Universum, nackt und verletzlich. Es gibt keinen Gott und kein Heil. Die Welt ist unbarmherzig, trügerisch und voller Verstellungen. Auf nichts ist Verlass. Und die Natur ist grausam. Sie gewährt keinen Schutz. Alles muss ihr mühselig abgepresst werden, die Nahrung, die Kleindung, das ganze Leben. Ebenso verhalten sich die Menschen. Sie sind feindselig gegeneinander. Sie betrügen und überlisten sich, wo es nur geht. Zuweilen kann einem das Leben daher wie ein böser Traum erscheinen, aus dem es kein Erwachen gibt.

Die Neuzeit als Bezugsrahmen

Das ist die conditio humana am Beginn der Neuzeit, die der Philosoph Hans Blumenberg in zahlreichen Texten und Büchern herausgearbeitet hat. Der moderne Mensch ist nicht aus Optimismus geboren, sondern aus dem Zwang zum Überleben. Seine Existenz verdankt er der Katastrophe eines nie dagewesenen Verlusts an Orientierung, in dem alle überlieferten Gewissheiten untergegangen sind.
Die Neuzeit beginnt nicht als helle Epoche im Gegensatz zum dunklen Mittelalter, sondern mit dem Zusammenbruch der politischen Ordnung infolge von Reformation und Kirchenspaltung. Im 17. Jahrhundert wird ganz Europa von grausamen Religionskriegen heimgesucht, die sich nur noch durch eine vollkommen neue Politik befrieden lassen. Die macht aus der Absolutheit religiöser Überzeugungen schlichte Privatangelegenheiten. Wer an welchen Gott glaubt, soll von nun an keine Rolle mehr spielen. Die Wahrheit der neuen Epoche ist keine religiöse mehr, sondern die nackte Wahrheit der Verlassenheit. Auf ihr gründen sich die neuen Nationalstaaten, die moderne Wissenschaft und ihre Heilserwartungen.

Die Arten der Wahrheit

Über viele Jahrhunderte war die Wahrheit ein Privileg. Sie war den Mächtigen und Auserwählten vorbehalten. Ihr Besitz bedeutete politische Macht. Könige, Adlige, Priester und Philosophen wurden als ihre Hüter angesehen. Das Volk kam höchstens als Empfänger einer Wahrheit in Betracht, die zur Beruhigung diente und sorgsam eingehüllt wurde. Die Art von Wahrheit, um die es Blumenberg geht, verweist dagegen auf einen sehr beunruhigenden Umstand. Der Titel des aus dem umfangreichen Nachlass des Philosophen herausgegebenen Buches lautet: „Die nackte Wahrheit“. Die Metapher der Nacktheit bezieht sich dabei nicht nur auf die Wahrheit selbst, auf ihre Schonungslosigkeit, sondern auch auf den Menschen, für den diese Wahrheit bestimmt und kaum zu ertragen ist. Mit der Wahrheit stellt sich daher zugleich die Frage nach dem Umgang mit ihr:
„Der Mensch ist nackt; aber das ist nicht seine ganze Wahrheit. Seine Wahrheit ist, daß er ohne den verhüllenden Schein einer allen Anspruch aufs Wesentliche abwehrenden Verkleidung zu Grunde geht.“
In den Händen der Mächtigen und Auserwählten war die Wahrheit erhaben und kostbar. Als entblößte ist sie für alle zugänglich und demokratisiert. Aber das hat seinen Preis. Ihre Präsenz ist die eines nackten Königs, reduziert auf seinen bloßen Körper und aller Privilegien und Illusionen beraubt.
Im Moment der Enthüllung geht von der Nacktheit ein Reiz aus. Aber auf Dauer gestellt erweist sie sich als verletzlich und enttäuschend. Mit dem herrschaftskritischen Vorstoß, der Wahrheit die Macht der Hierarchie zu nehmen, ist sie selbst zu einer Bedrohung geworden. Sie hat ein neues Problem hinterlassen, das seitdem den modernen Menschen verfolgt. Die historischen Stationen der nackten Wahrheit, die Blumenberg prägnant vor Augen stellt, verweisen daher zugleich auf die zahlreichen Versuche, irgendwie mit dieser Wahrheit zurechtzukommen.
Dabei ist es kein Zufall, dass die Metapher von der nackten Wahrheit seit der Neuzeit derart einflussreich geworden ist. Denn erst der moderne Mensch fühlt sich in der Welt unbehaust und allein gelassen. Das ist für Blumenberg der eigentliche Anlass, der historischen Karriere dieser Metapher nachzugehen und sich die Frage vorzunehmen, was es bedeutet, mit einer Wahrheit leben zu müssen, die niederschmetternd ist und einem kaum Hoffnung lässt.

Großer Philosoph der Nachkriegszeit

Hans Blumenberg, geboren 1920 in Lübeck, gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Philosophen der Nachkriegszeit. Sein Werk besteht in einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit den einschneidenden Krisen der Menschheitsgeschichte und den geistigen Grundlagen, die eine neue Epoche kennzeichnen. Vor allem in seinem Buch „Die Legitimität der Neuzeit“, das erstmals 1966 erschienen ist, verteidigte er die neuzeitliche Emanzipation des Menschen vor dem Hintergrund der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Dabei wies er die weitverbreitete Vorstellung zurück, die Neuzeit sei aus einer fortschreitenden Umbesetzung christlicher Vorstellungen hervorgegangen und betonte die radikale Eigenständigkeit der neuen Epoche.
Ausgerechnet er, der eigentlich katholischer Theologe werden wollte, dies aufgrund seiner jüdischen Familiengeschichte aber nicht durfte und sich vor den Nationalsozialisten verstecken musste, um nicht interniert zu werden. Möglicherweise lässt sich vor diesem Hintergrund auch sein großes philosophisches Projekt situieren, das darin besteht, die existenziellen Metaphern aufzuspüren, mit denen die Menschen ihr Dasein beschreiben. Immer wieder stellte er sich die Frage, warum sie sich für diese und keine andere Metapher entschieden hatten. Diese Herangehensweise bestimmt auch sein Buch über die nackte Wahrheit:
„Die Sprache von wissenschaftlichen Autoren wäre daraufhin zu untersuchen, ob sie mehr zum Reizmittel oder mehr zum Beruhigungsmittel der Metapher greifen. Aber nicht nur als Feststellung quantifizierbarer Fakten; die Feststellung kann nur der Übergang sein zu der allein entscheidenden Frage, weshalb ein Autor das eine oder das andere aus der Dringlichkeit der Sachen oder aus der Verlegenheit seiner theoretischen Situation heraus nötig hat. Wie stellt sich in der Metapher die Lage des Denkens dar, in der er sich aus mehr oder weniger zwingenden Gründen und unter mehr oder weniger unvermeidlichen Bedingungen hineinmanövriert hat?“

Das Projekt einer Metaphorologie

Sein philosophisches Anliegen hat Blumenberg selbst unter den Titel einer Metaphorologie gestellt. Dabei ging es ihm zunächst um den Nachweis, dass alle philosophischen Werke an entscheidenden Stellen auf Metaphern angewiesen sind, die sich nicht als bloßes Beiwerk abtun lassen. Sein eigentliches Ziel jedoch bestand in der Ausarbeitung einer Logik der Metapher, die mehr leisten sollte, als nur die Vieldeutigkeit metaphorischer Ausdrücke anzuerkennen. Ihm schwebte nichts Geringeres vor als eine Theorie der Unbegrifflichkeit, die dort weiter kommen sollte, wo das begriffliche Denken versagt.
Angelegt war sein Projekt einer Metaphorologie auf insgesamt fünf Bände. Zu seinen Lebzeiten sind 1979 und 1981 die Bände „Schiffbruch mit Zuschauer“ und „Die Lesbarkeit der Welt“ erschienen. Beide sind in kürzester Zeit zu Klassikern der Geistesgeschichte geworden. Nach einigen Änderungen an seinem Vor-haben und mit deutlicher Verzögerung erschien 1989 der dritte Band unter dem Titel „Höhlenausgänge“. Auch dieser Band wurde schnell zu einem Standardwerk. Der vierte Band „Quellen, Ströme, Eisberge“ erschien 2012 und musste bereits aus dem Nachlass herausgegeben werden, der vom Deutschen Literaturarchiv Marbach verwaltet wird. Hans Blumenberg ist 1996 gestorben. Mit dem Band „Die nackte Wahrheit“, ebenfalls von Rüdiger Zill herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, liegt nun der Abschlussband der Publikationen zur Metaphorologie vor. Schade ist, dass einige Kapitel ein Fragment geblieben sind.
Skizziert hatte Blumenberg sein Projekt bereits in dem frühen Aufsatz „Paradigmen zu einer Metaphorologie“ von 1960. Schon hier berührt die Frage nach der nackten Wahrheit den zentralen Punkt des gesamten Projekts. Denn wenn die Wahrheit eine Geschichte hat, die sich an ihren historisch unterschiedlichen Metaphern belegen lässt, dann kann gerade sie keine ausschließliche Angelegenheit der Philosophie mehr sein. Im Projekt einer Metaphorologie wird das philosophische Denken über sich selbst hinausgetrieben. Eine Wahrheit, die prinzipiell mit metaphorischen Attributen versehen sein muss, um überhaupt als solche erkannt werden zu können, kann nicht mehr allein mit philosophischen Mitteln erschlossen werden:
„Die Stärke der Metapher ist ihre Vieldeutigkeit. Dies zu sagen, ist identisch mit der anderen These, die Metapher sei wesentlich ästhetisch. Auch das ist wiederum nur ein anderer Ausdruck dafür, daß sie nicht so etwas wie eine bloße Umhüllung des nackten Gedankens ist, an den man als an das letztlich und eigentlich zu erreichende Ziel ihrer Interpretation und Aufschließung ständig zu denken hätte. Wer ständig über sie hinausdenkt, verliert, was er hat, ohne zu bekommen, was er nicht haben kann.“
Für das Projekt einer Metaphorologie ist die Rede von der nackten Wahrheit ein besonderer Fall. Denn damit wird die Frage aufgeworfen, ob eine nackte Wahrheit wahrer ist als jede andere oder ob gerade die Ankündigung einer schonungslosen Wahrheit die beste Rhetorik ist, um sich Gehör zu verschaffen. Das lässt an den alten Streit in der Antike zwischen der Rhetorik und der Philosophie denken, ob rhetorische Mittel nötig sind, um wahrsprechen zu können, und wann sie im Gegenteil dazu dienen, die eigenen Absichten zu verbergen. Entscheiden lässt sich das nur im Einzelfall und nicht grundsätzlich. Aus diesem Grund muss auch der Philosoph die Kunst der Interpretation erlernen und gut zuhören können, wie Blumenberg das selbst anhand klassischer Werke vorführt. Denn was sich nicht bestreiten lässt, ist der Umstand, dass die Rede von der nackten Wahrheit seit Beginn der Neuzeit eine enorme Wirkung entfaltet und sich alle einschlägigen Philosophen zu ihr verhalten haben.

Die Illusion der Aufklärung

Die Epoche der Aufklärung und ihre Beziehung zur Religion ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Ihre Kritik an der Macht der Kirche betrieben die frühen Aufklärer zunächst als Enthüllung eines vermeintlichen Priesterbetrugs. Demnach belügen die Kleriker permanent das Volk, um es zu manipulieren und zu unterwerfen. Der religiöse Glaube sollte daher gründlich ausgerottet werden. Alle Idole mussten zerstört werden und für immer aus dem Bewusstsein verschwinden. Nicht erst die grausamen Hexenprozesse und die Gewaltexzesse während der Französischen Revolution zeigten die Schattenseite dieser Versachlichung. Bereits die Entzauberung der Natur warf die Frage nach der Stellung des Menschen auf, wenn diese nicht mehr durch einen göttlichen Garanten gesichert erscheint.
Um allein für sich selbst sorgen zu können, muss man zwar nicht unbedingt an einen Gott glauben, aber wenigstens daran, dass das gelingen kann. Wenn die Welt aber nicht für den Menschen gemacht ist und sich auch nicht als solche verbessern lässt, dann hat es auch wenig Sinn, sich tatkräftig ans Werk zu machen. Die späteren Aufklärer waren daher der Ansicht, dass man die nackte Wahrheit von der widrigen Welt vielleicht doch ein wenig verhüllen muss. Sie kamen auf die Idee, den Glauben an einen Gott zwar nicht als realistisch aber dennoch als sinnvoll anzusehen. Wenn es prinzipiell möglich sein konnte, dass die Welt von einem guten Gott erschaffen und kein unbändiges Chaos war, dann ließ sie sich womöglich auch gestalten. Für die Moral ist der Glaube in jedem Fall förderlich, auch wenn es letztlich doch unwahrscheinlich ist, dass Gott tatsächlich existiert. Um die Wiederkehr der Idole angesichts der menschlichen Obdachlosigkeit zu verhindern, erfanden die philosophischen Aufklärer das Versprechen einer sinnvollen Welt, wofür es zwar keine Garantie gibt, aber an die es aus praktischen Gründen geglaubt werden sollte:
„Aufklärung ist es, die ‚nützliche und nöthige Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden‘ gerade hinsichtlich ihrer Unentbehrlichkeit, weil sonst der Platz der Sache nicht durch ihr Symbol, sondern durch etwas ganz anderes, nämlich ein Idol besetzt und damit der Endzweck dieser Sache, nämlich des Ideals der reinen praktischen Vernunft gänzlich verfehlt würde. Das Symbol besetzt also seiner Funktion nach eine Stelle, die das Ideal geschichtlich nicht oder noch nicht einnehmen könnte, um sie nicht dem Idol zu überlassen.“
Vor allem anhand der kritischen Philosophie im 18. Jahrhundert macht Blumenberg deutlich, dass sich deren Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer vernünftigen Illusion nicht ohne Bezug auf das Problem der nackten Wahrheit verstehen lässt. Die Einsicht der Aufklärung besteht darin, dass ein gewisses Maß an Schein und sogar Selbstbetrug nötig ist, um überhaupt handeln zu können. In einer Welt ohne Illusionen könnte sich kein Selbst dauerhaft stabilisieren. Ihr Kompromiss ist daher der einer rationalen Religion. Dieser ist stets bedroht von der Skepsis gegenüber den eigenen Fähigkeiten und dem Fanatismus, doch im Besitz einer übersinnlichen Wahrheit zu sein. Auch wenn sich die Aufklärung selbst in Metaphern des Lichts gekleidet hat, das sie der Welt zu bringen beabsichtigte, befand sie es doch für nötig, manches im Halbdunkel zu belassen.

Die Antipoden der Moderne

Aus diesem Grund gehörte Nietzsche im 19. Jahrhundert zu den schärfsten Kritikern der Aufklärung. Deren Prinzipien galten ihm als ebenso trügerisch wie die Religionen, die sich die Menschen erfunden hatten, um sich angesichts ihres eigenen Elends zu beruhigen. Aus Sicht der Lebensphilosophie sollte die unverhüllte Wahrheit als Ausgangspunkt für eine ungeheure Dynamik dienen und die Menschen zu übermenschlichen Schöpfungen antreiben. Nur wer imstande ist, sie dauerhaft auszuhalten, kann auch Großes leisten. Den Leitstern gab dabei die von allen unmittelbaren Zwecken entbundene Kunst ab. Denn nicht darum ging es Nietzsche, die Welt etwas besser und komfortabler zu machen, sondern um die Steigerung des Selbstwerts, die mit dem Erlebnis der eigenen Kraft einhergeht. Die neue Metaphysik der Kunst, die Nietzsche anpreiste, beschränkte sich daher keineswegs auf das klassische Terrain künstlerischer Tätigkeiten, sondern sollte alle Lebensbereiche erfassen. Damit konnte Blumenberg zufolge alles Bestehende nur noch im Hinblick auf seine schöpferische Gestaltung gerechtfertigt werden:
„Die Kunst, die das Leben trotz der Häßlichkeit der Wahrheit zu bejahen Anlaß gibt, ist als autonome Kunst die letzte metaphysische Realität am Ende der Metaphysik. Sie ist nicht mehr die Verschleierung des Unerträglichen. Darin nimmt sie etwas vorweg, was es noch nicht gibt. Aber das, was es gibt, muß es doch auch geben können als Bedingung der Erreichbarkeit eines anderen.“

Blumenberg stellt existenzielle Frage der Philosophie

Den Antipoden zu dieser Auffassung sieht Blumenberg in der Psychoanalyse. Denn auch die Entblößung der Seelenzustände soll eine Wahrheit hervorbringen, die alle Verhüllungen abgelegt hat und nicht selten für den Patienten schwer zu ertragen ist. Obwohl Freud viel von Nietzsche übernommen hat und sogar die Lektüre des Philosophen abbrechen musste, um nicht zu sehr von ihm beeinflusst zu werden, schlägt er einen geradezu entgegengesetzten Weg ein. An die Stelle der Kunst tritt die Therapie. Mit der Wahrheit liefert die Seelenkunde zugleich ihre therapeutische Verarbeitung mittels dosierter Langzeitanalysen. Die zahlreichen narzisstischen Kränkungen, die der Mensch in den letzten Jahrhunderten hinnehmen musste, sollten zumindest gelindert werden. Allerdings musste Freud einräumen, dass auch die Psychoanalyse nicht alle Wahrheiten wegtherapieren kann und einem alten philosophischen Imperativ gehorcht, den sie selbst nicht zu begründen in der Lage ist, wie Blumenberg kritisch festhält:
„Einwände verlieren sich leicht daran, daß hier schlichtweg der älteste Befehl der europäischen Tradition des Denkens mit neuer Radikalität, wenn nicht sogar überhaupt erstmals befolgt wird: Erkenne dich selbst! Die Gegenfrage wirkt vor dieser mächtigen Instanz schwächlich: Tut es gut, sich selbst zu erkennen?“
Damit ist eine existenzielle Frage der Philosophie benannt, die Blumenberg in seinem geistesgeschichtlichen Kursus über die nackte Wahrheit einkreist, ohne sie letztlich beantworten zu können. Es ist ein beeindruckendes Buch, das hoffentlich ebenso wie seine anderen Arbeiten zur Metaphorologie zu einem vielgelesenen und kanonischen Werk wird.


https://www.deutschlandfunk.de/hans-blu ... _id=460072




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Mi 23. Okt 2019, 20:03

Die Metaphorik der ˋnackten´ Wahrheit (2)

Mit Beginn der Neuzeit bekommt die Rede von der "nackten Wahrheit" eine besondere Dynamik.

"Im Medium der Metaphorik erweist sich der Wahrheitsbezug in unserer Tradition als viel zwiespältiger, als es in einer terminologisch-systematischen Analyse je hervortreten könnte. In der Linie des Skeptizismus war zwar alles zusammengetragen worden, was uns daran zweifeln und verzweifeln lassen kann, je die Wahrheit oder auch nur etwas von ihr in Besitz zu bringen, und ein Daseinsglück in der Resignation gegenüber dem theoretischen Anspruch erschien als das der Anstrengung des Unmöglichen gegenüber Vorzuziehende. Aber ob die Wahrheit, als hypothetisch erreichbare gedacht, nun wirklich das Glück des Menschen ausmachen oder vollenden könne, das ist wieder so eine theoretisch unentscheidbare, ins Vergebliche hinein gerichtete Frage, die nur an Metaphern entlang zu Antworten vorgedrungen ist." (Paradigmen; S. 69)

Es zeigt sich hier eine Skepsis gegenüber dem Wahrheitsbesitz, die Blumenberg insbesondere in dem Freud-Kapitel von Die nackte Wahrheit weiter ausführt und erneut wird eine "theoretisch unentscheidbare Frage" aufgeworfen, die "ins Vergebliche" gerichtet ist, aber "an Metaphern entlang" doch entschieden wird: Ist es für das Glück des Menschen von Belang, die Wahrheit zu wissen? -

"Die Metapher der ˋnackten Wahrheit´ gehört zum Selbstbewußtsein der aufklärerischen Vernunft und ihrem Herrschaftsanspruch; feinere ästhetische Unterscheidungen jener Hüllen, die heruntergerissen werden müssen, gehen dabei unter, bzw. wo sie gemacht werden, verrät sich schon ein anderer, geschichtlich verstehender Sinn, wie in der Differenzierung zwischen ˋVerhüllung´ und ˋVerkleidung´, die Winckelmann in seinem Versuch einer Allegorie von 1766 anbringt: ... endlich, da unter den Griechen die Weisheit anfing menschlicher zu werden und sich mehreren mitteilen wollte, tat sie die Decke hinweg, unter welcher sie schwer zu erkennen war, sie blieb aber verkleidet, doch ohne Verhüllung, so daß sie denen, welche sie suchten und betrachteten, kenntlich war, und in dieser Gestalt erscheint sie bei den bekannten Dichtern ..." (S. 73) -

Man sieht, daß der humane Bezug zur Wahrheit keineswegs zu allen Zeiten mit der Selbstverständlichkeit der Enthüllung jener Wahrheit verbunden war, wie es uns heute erscheint. In Die nackte Wahrheit zitiert Blumenberg den armenischen Satiriker Jerwand Otjan mit dem Aphorismus:

"Warum wird die Wahrheit so oft vergewaltigt? Weil sie immer nackt ist." (Die nackte Wahrheit; S. 50) -




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