Über einige Aspekte der Philosophie Hans Blumenbergs

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Nauplios
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Do 24. Okt 2019, 15:11

Terra incognita und ˋunvollendetes Universum´ als Metaphern neuzeitlichen Weltverhaltens

Aus diesem Kapitel möchte ich nur ein Zitat von Friedrich Schlegel aus der Transcendentalphilosophie anführen, ein "kostbares Fragment" (Blumenberg), das die Metapher des unvollendeten Universums betrifft:

"Dieser Satz, daß die Welt noch unvollendet ist, ist außerordentlich wichtig für alles. Denken wir uns die Welt als vollendet, so ist alles unser Thun nichts. Wissen wir aber, daß die Welt unvollendet ist, so ist unsere Bestimmung wohl, an der Vollendung derselben mitzuarbeiten. Der Empirie wird dadurch ein unendlicher Spielraum gegeben. Wäre die Welt vollendet, so gäbe es dann nur ein Wissen derselben aber kein Handeln." (Friedrich Schlegel, Transcendentalphilosophie; I. Teil; in: Neue philosophische Schriften; S. 156)

Blumenberg kommentiert diese Stelle so:

"Schlegel, der gewiß kein bedeutender spekulativer Systematiker war, ist voller Gespür für den untergründigen Lebensstrom seiner Zeit, und hinsichtlich dieser Fähigkeit stehen uns an ihm noch Entdeckungen bevor. In einer Zeit systematischer Endgültigkeitsansprüche hatte er den Mut, einer ˋprovisorischen Philosophie´ das Wort zu reden (Athemäumfragment 266), und diese Unbefangenheit zum Vorwegnehmen und Vorgreifen macht, unter anderem, seine Metaphernsprache indikatorisch." (Paradigmen; S. 85; Hervorhebungen von mir) -

Im "Vorwegnehmen und Vorgreifen" erkennt man den "Mut" des Geistes zur Vermutung, der ja nun schon desöfteren zitiert wurde und der "untergründige Lebensstrom seiner Zeit" deutet wieder in Richtung auf eine "Substruktur des Denkens". Die "provisorische Philosophie" Schlegels genießt natürlich auch deshalb Blumenbergs Sympathie, weil seiner Skepsis alle "Endgültigkeitsansprüche" in der Philosophie suspekt waren. Umso erstaunlicher, daß Friedrich Schlegel dann in Die nackte Wahrheit nicht mehr behandelt wird. -




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Nauplios
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Fr 25. Okt 2019, 19:19

Organische und mechanische Hintergrundmetaphorik

In diesem Kapitel der Paradigmen erweitert Blumenberg den Fokus auf die Metaphern um eine weitere Perspektive, welche unsere "geschichtliche Sichtbedingtheit" betrifft. Gemeint ist die "Hintergrundmetaphorik" als eine untergründige Schicht des philosophischen Denkens, die sich, um aktiv zu sein, nicht zwangsläufig terminologisch äußern muß. Ich gebe nachfolgend nur mal den Anfang dieses Kapitels wieder, weil er diesen zentralen Punkt programmatisch faßt und lasse die "Anwendung" auf den Dualismus von organischer und mechanischer Hintergrundmetaphorik, wie er anschließend an den Beispielen Cicero, Laktanz, Nikolaus von Cues, Descartes, Nikolaus von Oresme, Voltaire, Vauvenargues, de Lamettrie und Husserl entfaltet wird, weg:

"Metaphorik kann auch dort im Spiele sein, wo ausschließlich terminologische Aussagen auftreten, die aber ohne Hinblick auf eine Leitvorstellung, an der sie induziert und ˋabgelesen´ sind, in ihrer umschließenden Sinneinheit gar nicht verstanden werden können. Aussagen, die sich auf sinnlich Anschauliches beziehen, setzen ja auch voraus, daß im Verstehen des Gemeinten derartiges im Spielraum einer Typik vorstellig gemacht werden kann [...] Haben wir einen Kunstbau spekulativer Aussagen vor uns, so wird die Interpretation uns erst dann ˋaufgehen´, wenn es uns gelungen ist, nachvollziehend in den Vorstellungshorizont des Autors einzutreten, seine ˋÜbertragung´ ausfindig zu machen. Gerade dadurch unterscheidet sich ja der genuine Denker von seinen scholastisierenden Epigonen, daß er sein ˋSystem´ in der lebendigen Orientierung hält, während der Schulbetrieb die Begriffe zu einer eigensinnigen Atomistik ˋentwurzelt´. [...] Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam ˋim Rücken´; noch zwingender sind wir durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt, ˋkanalisiert´ in dem, was überhaupt sich uns zu zeigen vermag und was wir in Erfahrung bringen können." (Paradigmen; S. 91f) -

Von "Sichtlenkungen" durch diesen Bildervorrat wird später im Kapitel die Rede sein. "Hintergrundmetaphorik" ist ein Ensemble von Orientierung leistenden Bildern, die gleichsam "im Rücken" am Werk sind und den Spielraum organisieren, aus dem heraus sich unsere Weltsicht entwickelt. Entscheidend scheint mir, daß durch die Kanalisierung durch diesen Bildervorrat wir "bestimmt sind ... in dem, was überhaupt sich uns zu zeigen vermag und was wir in Erfahrung bringen können".




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Nauplios
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Fr 25. Okt 2019, 19:53

In Die nackte Wahrheit findet sich eine interessante Figuration der Imaginationen Kafkas (S. 51). "Er ist wie ein Nackter unter Angekleideten" hatte Milena über Kafka an Max Brod geschrieben. Kafka leidet daran, daß der Leib zur Welt gehört, die ihm als Betrug erscheint. "Kafka steht am anderen Ende der Epoche, die mit Descartes begonnen hatte: dessen genius malignus ist nicht mehr methodische Grenzannahme, er ist Lebensdämon geworden." - In der Folge gehen Blumenbergs Überlegungen in eine Richtung, die er an Bayle und Pascal exemplifiziert und in eine Pascal´sche Paraphrase bringt:

"Der Mensch ist nackt; aber das ist nicht seine ganze Wahrheit. Seine Wahrheit ist, daß er ohne den verhüllenden Schein einer allen Anspruch aufs Wesentliche abwehrenden Verkleidung zugrunde geht." (S. 63)

"Scheinhaftigkeit ist zwar nicht das Wesen der menschlichen Natur, wohl aber die Antwort des Menschen auf seine Weltlage." (S. 65)




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Nauplios
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Sa 26. Okt 2019, 01:31

"Warum ist die Wahrheit eine Frau? Und warum ist sie nur dann ganz wahr, wenn sie nackt ist? Hans Blumenberg hat dieser Frage eine wunderbare Studie gewidmet, die über Jahre im Nachlass ruhte.


Der ungewollte, dann aber doch interessierte Anblick der nackten Artemis beim Baden ist dem Jüngling Aktaion zum Verhängnis geworden, so weiss und berichtet es mehrfach der Mythos: Die keusche Göttin der Jagd fühlte sich durch den begehrlichen männlichen Blick «entdeckt», mithin «entehrt», verwandelte Aktaion in einen Hirschbock, worauf er von seinen eigenen Hunden zerfleischt wurde. Die Betrachtung der «unverborgenen», ebenso schönen wie wagemutigen Frau wird also von dieser selbst als Todsünde veranschlagt und als solche auch grausam geahndet.

Offenkundig gilt Nacktheit hier nicht nur als unschickliche intime Blösse, sondern auch als Augenschein von Reinheit und Unschuld sowie, darüber hinaus, von unverstellter Wahrheit. Dass die Wahrheit, metaphorisch oder allegorisch gefasst, stets in weiblicher Gestalt, unter weiblichem Namen (griechisch «aletheia») und in den meisten europäischen Sprachen auch als Begriff im weiblichen Genus auftritt, versetzt naturgemäss den männlichen Part als indiskreten, wenn nicht übergriffigen Beobachter ins Unrecht.

So betrachtet ist die Wahrheit als solche «weiblicher Natur», mythologisch vollends verkörpert (und nicht bloss repräsentiert) durch die Frau; durch den Mann wiederum ewig begehrt und nie gewonnen – ein ambivalentes Objekt des Wissen- und des Habenwollens. Doch weshalb sollte die Erkenntnis der «nackten», also reinen Wahrheit obsolet, gar sträflich sein?

Das Hässliche erträglich machen

Die frühe Personifizierung der Wahrheit als göttliches weibliches Wesen einerseits, andererseits die mythologische Formel, wonach der sterben muss, der Göttliches gesehen hat, mag dafür eine erste Erklärung bieten. Freilich ist damit keineswegs ausgemacht, was es, umgekehrt, mit der eingekleideten, der kostümierten Wahrheit auf sich hat und wieso diese – verhüllt statt «unverborgen» – eher akzeptabel und zugänglich sein sollte als die «reine» Wahrheit.

In einer nicht ganz fertiggestellten Abhandlung, die neuerdings als Nachlasspublikation vorliegt, hat Hans Blumenberg (1920–1996) die Metaphorik der reinen beziehungsweise nackten Wahrheit über zweieinhalb Jahrtausende hin – von Sokrates bis zu Freud, Kafka und Adorno – anhand zahlreicher Einzelbeispiele aus Philosophie und Literatur aufgearbeitet. Mit staunenswerter Präzision und Umsicht, dabei eher dem Einfall oder der Assoziation als der historischen Entwicklung folgend, erhellt er die mannigfaltigen Imaginationen zum Problem der Wahrheitsfindung, die wohl durch Friedrich Nietzsche ihre umfassendste Ausgestaltung und Synthetisierung erfahren hat.

Am Leitfaden Nietzsches vermag Blumenberg, intellektuell und stilistisch gleichermassen brillant, detailliert aufzuzeigen, welche Veränderungen die Wahrheitsmetaphorik im europäischen Denken, namentlich seit der Aufklärung und Romantik, erfahren hat. Nietzsche war es, der die Einkleidung der Wahrheit – bewerkstelligt durch Religion, Kunst, Rhetorik – höher veranschlagte als deren Nacktheit.

Nicht auf die Wahrheit als solche, vielmehr auf ihre adäquate Hülle komme es an, nicht auf den Besitz der Wahrheit, sondern auf die «Art ihrer Mitteilung und ihre Annehmlichkeit», die eine allgemein zugängliche Verständnisform erbringen soll: Aus der anschaulichen Hülle sollte auf den verborgenen Inhalt geschlossen werden können. Ob und inwieweit allein schon die Sprache ihren Anteil daran hat, wird hier offengelassen. Da die Wahrheit ohnehin «hässlich» sei, hätten jedenfalls, nach Nietzsche, die Künste die hohe Aufgabe, sie überhaupt erträglich, womöglich gar geniessbar zu machen.

Das, was man nicht begreifen kann

Wahrheit wie Nacktheit waren damit ihrer Natürlichkeit beraubt und verkehrten sich in deren Gegenteil – dezidierte Künstlichkeit. Die Lüge wird somit als eine ernstzunehmende Spielart der Wahrheit gerechtfertigt und die Oberfläche als eine Dimension der Tiefe. Umgekehrt kann selbst die Nacktheit, wie Blumenberg mit Verweis auf Heinrich Heine expliziert, als Kostüm oder als Maske vorgeführt werden, was durch vielerlei künstlerische Darstellungen des nackten Schmerzensmannes («Ecce homo!») beispielhaft belegt ist.

Ob nackt oder verhüllt, die Wahrheit behält ihren Status als etwas, «das seinem Wesen nach nicht begriffen werden kann», egal, ob man ihre Hüllen (Dogmatik, Ideologie, Glaubenssätze) wieder und wieder herunterreisst – das Bestreben der Aufklärung, des Empirismus, der exakten Wissenschaften – oder sie mit üppiger Verkleidung dekoriert (wie im Barock, in der Romantik, in aller Religion). Denn die Wahrheit hat keinen Kern, keinen Grund, keine innerste und letzte Konsistenz: Blumenberg vergleicht sie mehrfach mit einer Zwiebel, die wohl beliebig viele Schichten besitze, jedoch nichts, was von diesen Schichten umschlossen wäre.

Um dies exemplarisch darzutun, ruft er eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Zeugen aus unterschiedlichen Epochen auf – Kierkegaard, Platon, Fontane, Vesalius, Pascal, Madame du Châtelet gehören in ungeordneter Reihe dazu – und befragt sie mit produktiver Beharrlichkeit nach dem «Bild», das sie von der Wahrheit haben. Daraus entfaltet er in souveräner Manier ein Panorama der europäischen Geisteswelt, das aufschlussreicher und attraktiver nicht sein könnte: Blumenbergs letztes Meisterstück in der langen Reihe seiner Abhandlungen zur Theorie und Geschichte der metaphorischen Rede."

Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit. Herausgegeben von Rüdiger Zill. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 199 S., Fr. 35.90.

Die Rezension stammt von Felix Philipp Ingold und ist am 26. September in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

https://www.nzz.ch/feuilleton/die-wahrh ... ld.1510877




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Nauplios
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Sa 26. Okt 2019, 17:18

Mythos und Metaphorik

Nachdem im vorangehenden Kapitel die "Hintergrundmetaphorik" im Zentrum stand als "Leitvorstellung" terminologischer Aussagen, die sich in Form von "Bildervorrat" im Hintergrund hält, geht es in diesem Abschnitt um die Übergänge innerhalb der Metaphorik, konkret um einen Übergang, der an anderer Stelle schon angesprochen wurde, den im Verhältnis von Mythos und Metapher. Hier wird ganz kurz angedeutet, was später in der Arbeit am Mythos noch ausgearbeitet wird, daß der Mythos selbst "ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos" ist (Arbeit am Mythos; S. 18) -

"Ein solches Phänomen des ˋÜbergangs´ ergibt sich im Verhältnis von Mythos und Metaphorik. Unter diesem Gesichtspunkt erweisen sich die ˋMythen´ Platos als keineswegs homogene Mittel der Aussage; auch zeigt sich, daß das Schema der Dualität von Mythos und Logos bzw. des Übergangs ˋvom Mythos zum Logos´ nicht genügt, um die funktionalen Differenzen zureichend zu erfassen. Die allegorische Mythenexegese, wie sie zuerst die Sophistik, dann vor allem die Stoa praktiziert haben, hat den Mythos als ˋVorform´ des Logos, als prinzipiell umwandelbare Aussage aufgefaßt, und mit diesem Schema deckt sich eine noch heute nicht überwundene Deutung des Mythos, die ihn als ˋprälogisches´ Phänomen versteht, zugeordnet einer Frühform der menschlichen Geistesˋentwicklung´, die überholt und ersetzt wurde durch präzisere Formen des Weltverständnisses. Aber was in unseren Überlegungen als ˋabsolute Metapher´ herausgestellt wurde, gibt in seiner Unauflösbarkeit in Logizität einen Anhalt dafür, daß solcher vorweggenommene Cartesianismus eine unangemessene Norm an den geschichtlichen Befund heranträgt. Auch im Mythos sind Fragen lebendig, die sich theoretischer Beantwortung entziehen, ohne durch diese Einsicht verzichtbar zu werden. Der Unterschied zwischen Mythos und ˋabsoluter Metapher´ wäre hier nur ein genetischer: der Mythos trägt die Sanktion seiner uralt-unergründbaren Herkunft, seiner göttlichen oder inspirativen Verbürgtheit, während die Metapher durchaus als Fiktion auftreten darf und sich nur dadurch auszuweisen hat, daß sie eine Möglichkeit des Verstehens ablesbar macht." (Paradigmen; S. 110f.) -

Auch im Mythos präsentiert sich damit eine Denkfigur, die bereits zur Typik der absoluten Metapher zählte: der Mythos behandelt Fragen, die sich zwar einer "theoretischen Beantwortung entziehen", sich also wie die absolute Metapher nicht in die Logizität zurückholen lassen, die sich aber als "im Daseinsgrund gestellte" vorfinden. Etwas ist "unverzichtbar" ohne in theoretischer Einstellung "beantwortbar" zu sein. -




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Sa 26. Okt 2019, 17:52

In Die nackte Wahrheit greift Blumenberg an einer Stelle auf die "Totengespräche" Fontenelles zurück. Dort kommt es zu einem denkwürdigen Gespräch zwischen Artemisia, der Witwe von Ephesus (s. Petronius; Satyricon) und Raimundus Lullus. Zwischen beiden geht es um die Frage, ob nicht alles verloren wäre, wenn die Wahrheit sich nackt und unverhüllt zeigte, wie sie ist. Fontenelle läßt den findigen Franziskaner sagen: "Es ist wohl wahr, daß man den Stein der Weisen nicht finden kann: aber es ist doch gut, daß man ihn suchet." (zit. nach Blumenberg; Die nackte Wahrheit; S. 77) -




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Nauplios
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Di 29. Okt 2019, 00:28

Terminologisierung einer Metapher: ˋWahrscheinlichkeit´

Die Ambivalenz der Wahrscheinlichkeit liegt darin, daß sie einerseits auf ein Durchscheinen der Wahrheit, ein Abglanz der Wahrheit bezogen werden kann, andererseits damit auch das Scheinen im Sinne einer Täuschung gemeint sein kann. Die Paradigmen greifen die Wahrscheinlichkeit deshalb auf, weil sich daran ein anderer Übergang metakinetisch zeigen läßt, nämlich der von der Metapher zum Begriff. Die einzelnen Stationen dieses Übergangs nehmen ihren Anfang bei Platon (Timaios) und Aristoteles (Rhetorik und werden dann weiterverfolgt mit Ciceros Übersetzung des platonischen pithanon (das "Glaubliche") durch verisimile ("wahrscheinlich"), und dem Stellenwert dieses verisimile bei Laktanz (S. 120) und Augustin (122). -

"Der entscheidende Funktionswandel der ˋWahrscheinlichkeit´ tritt im ausgehenden Mittelalter ein. [...] Das Wahrscheinliche .. wird autonom, verliert sein Gemessenwerdenkönnen an einer absoluten Wahrheit. [...] Gerade in der Frage des Verhältnisses zwischen biblischen Aussagen und kopernikanischer Kosmologie schält sich die neue Indifferenz zwischen ˋWahrheit´ und ˋWahrscheinlichkeit´ deutlich heraus. [...] Die Logisierung der Wahrscheinlichkeit nimmt ihren Ausgang von der Bedeutung, die dem ˋZufall´ in einer Welterklärung zukommen muß, die sich von theologischen und teleologischen Prämissen, wenigstens hypothetisch freihalten will. Die Frage, ob Anerkennung des blinden Zufalls Verzicht auf Rationalität bedeutet, ist das Motiv der neuen Dringlichkeit und der neuen Formulierung, die das Wahrscheinlichkeitsproblem erhält." (S. 124ff) -

Der weitere zentrale Punkt der Erörterung der Wahrscheinlichkeit ist dann Moses Mendelssohn (Gedanken von der Wahrscheinlichkeit (1756), ab Seite 130.




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Nauplios
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Mi 30. Okt 2019, 15:14

Metaphorisierte Kosmologie (1)

In diesem Kapitel der Paradigmen liegt der Anstoß und in nuce auch eine Grundkonfiguration des späteren Werkes Die kopernikatnische Wende (1965) und dann schließlich auch der Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975) vor. "Metaphorisierte Kosmologie" - das bezieht sich auf die Rezeption von De revolutionibus orbium caelestium (1543) des Frauenburger Domherrn Nikolaus Kopernikus. Kopernikus ging es darin um eine Überwindung jener Schwierigkeiten, die sich aus den Beobachtungsdaten für das ptolemäische Weltbild und seine Geozentrik ergaben. - Erst viel später sollte darin über das theoretische Gebilde hinaus auch eine "neue Formel der menschlichen Selbstdeutung" in der Welt gesehen werden. Insbesondere Nietzsche spricht von einer Selbstverkleinerung des Menschen in der Genealogie der Moral. Der Mensch findet sich als "Eckensteher", als "entthront" wieder nach dem Zusammenbruch der theologischen Astronomie.

Doch ist damit eine Metaphorosierung der kopernikanischen Umformung des Kosmos verbunden, nämlich als Orientierungsmodell für die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt:

"Sie [die Deutungen der kopernikanischen Umformung] nehmen, was da geschah und entdeckt wurde, nicht als Erkenntnis, nicht als Hypothese, sondern als Metapher! Und zwar als absolute Metapher, indem die kopernikanische Umformung des Kosmos zum Orientierungsmodell genommen wird für die Beantwortung einer Frage, die sich mit rein theoretischen und begrifflichen Mitteln noch nie beantworten ließ: der Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt, im Sinne seiner zentralen Bedachtheit und Vorgesehenheit oder seiner peripheren Mitläufigkeit im Weltgetriebe, also seines Verhältnisses zu allem übrigen Seienden und dieses Seienden zu ihm." (Paradigmen; S. 142) -




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Friederike
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Mi 30. Okt 2019, 16:45

Eine kleine Erkenntnis meinerseits möchte ich an dieser Stelle doch schon einmal notieren: Mir war schleierhaft, was die absolute Metapher von einem "Grundbegriff" (Kemmerling) oder einem terminus unterscheidet. Der "Spielraum" !!!




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Friederike
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Fr 1. Nov 2019, 11:07

Nauplios hat geschrieben :
Mi 30. Okt 2019, 15:14
Metaphorisierte Kosmologie (1) [...] "Sie [die Deutungen der kopernikanischen Umformung] nehmen, was da geschah und entdeckt wurde, nicht als Erkenntnis, nicht als Hypothese, sondern als Metapher! Und zwar als absolute Metapher, indem die kopernikanische Umformung des Kosmos zum Orientierungsmodell genommen wird für die Beantwortung einer Frage, die sich mit rein theoretischen und begrifflichen Mitteln noch nie beantworten ließ: der Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt, im Sinne seiner zentralen Bedachtheit und Vorgesehenheit oder seiner peripheren Mitläufigkeit im Weltgetriebe, also seines Verhältnisses zu allem übrigen Seienden und dieses Seienden zu ihm." (Paradigmen; S. 142) -
Obwohl ich diesen und den voranstehenden Beitrag nun mehrmals gelesen habe, erschließt sich mir immer noch nicht (ich stehe auf dem Schlauch , bin begriffsstutzig), was denn die absolute Metapher sein soll. Die "Logisierung der Wahrscheinlichkeit", also die "Wahrscheinlichkeit" in logisierter Form oder die "kopernikanische Wende" oder "Kosmologie" oder wie? @Nauplios, verrätst Du es bitte?!




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Nauplios
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Fr 1. Nov 2019, 20:45

Friederike hat geschrieben :
Fr 1. Nov 2019, 11:07
Nauplios hat geschrieben :
Mi 30. Okt 2019, 15:14
Metaphorisierte Kosmologie (1) [...] "Sie [die Deutungen der kopernikanischen Umformung] nehmen, was da geschah und entdeckt wurde, nicht als Erkenntnis, nicht als Hypothese, sondern als Metapher! Und zwar als absolute Metapher, indem die kopernikanische Umformung des Kosmos zum Orientierungsmodell genommen wird für die Beantwortung einer Frage, die sich mit rein theoretischen und begrifflichen Mitteln noch nie beantworten ließ: der Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt, im Sinne seiner zentralen Bedachtheit und Vorgesehenheit oder seiner peripheren Mitläufigkeit im Weltgetriebe, also seines Verhältnisses zu allem übrigen Seienden und dieses Seienden zu ihm." (Paradigmen; S. 142) -
Obwohl ich diesen und den voranstehenden Beitrag nun mehrmals gelesen habe, erschließt sich mir immer noch nicht (ich stehe auf dem Schlauch , bin begriffsstutzig), was denn die absolute Metapher sein soll. Die "Logisierung der Wahrscheinlichkeit", also die "Wahrscheinlichkeit" in logisierter Form oder die "kopernikanische Wende" oder "Kosmologie" oder wie? @Nauplios, verrätst Du es bitte?!
Kann es sein, Friederike, daß ein grundsätzliches Mißverständnis das Verständnis von "Metapher" und "Begriff" erschwert, das auch schon in einem früheren Stadium der Diskussion um die Metaphorologie bei Alethos anklang: "Auch die Metapher ist ein Begriff." (06. Oktober)?

"Metapher" ist ein Wort mit acht Buchstaben. Als Begriff ist damit ein sprachlicher Ausdruck gemeint, bei dem ein Wort (oder mehrere) aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang in einen anderen übertragen wird. In diesem Sinne ist "Metapher" ein Begriff - ein Begriff, mit dem wir etwas bezeichnen: übertragene Redeweise. - Beispiel: "Herr xy ist eine Mimose." Damit soll ja nicht gesagt werden, daß Herr xy eine tropische Pflanzenart ist, sondern daß Herr xy überempfindlich ist. Übertragen wird ein Bedeutungsaspekt: Bei geringem Druck klappt die "empfindliche" Mimose ihre Zweige und Blätter zusammen. Wie eine Mimose klappt auch Herr xy bei geringem Druck zusammen. Er verschließt sich. Herr xy ist nicht in Wirklichkeit eine Mimose; dann wäre er ca. 1 Meter groß und hätte grüne Blätter. "Mimose" ist hier nur ein Bild, ein bildhafter Ausdruck, der etwas ganz Bestimmtes am Charakter von Herrn xy zum Ausdruck bringen soll, seine Überempfindlichkeit. Liegt ein solcher bildhafter Ausdruck vor, dann nennt man das eine Metapher (lat. translatio). Man sagt ja auch: "Das war jetzt nicht wörtlich gemeint, sondern im übertragenen Sinne."

Der Begriff ist auch ein sprachlicher Ausdruck. Der Begriff "Auto" meint ein mehrspuriges Kraftfahrzeug, das von einem Motor angetrieben wird, zur Beförderung von Personen oder Lasten. Anders als bei der Metapher liegt hier kein bildlicher Ausdruck vor. Man kann alles ganz wörtlich nehmen: Kraftfahrzeug, Motor, Personen, Lasten ... Insofern ist also der Begriff etwas anderes als die Metapher.

Wenn Alethos also sagt: "Auch die Metapher ist ein Begriff.", dann stimmt das und stimmt nicht. "Metapher" ist ein Wort, ein Begriff ... ja .., aber mit "Begriff" und "Metapher" meinen wir verschiedene Ausdrücke, mit denen wir Sachverhalte beschreiben. "Herr xy ist eine Mimose" ist eine Metapher. "Herr xy besitzt kein Auto" ist keine Metapher, sondern wörtliche Rede. Metapher ist dennoch ein Begriff (aus der Rhetorik).

Man kann ja auch mit den vier Buchstaben "a", "u", "t", "o" nicht fahren. Diese vier Buchstaben bilden hintereinander den Begriff "Auto", aber ein Auto ist noch mal was anderes. :-)

Man muß Begriff und Metapher auseinanderhalten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir hier einen Konsens haben.




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Nauplios
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Sa 2. Nov 2019, 00:29

Begriff

- wörtliche Rede (Wort im Sinne von logos)

- eigentliche Bedeutung

- Logos

- Definition

- dadurch weniger Bedeutungs"spielraum"

- Terminologie

- volle Vergegenständlichung

- Logizität

- Logisierung

- Eindeutigkeit

- theoretisch

- diskursiv
------------------

Metapher

- übertragene Rede

- uneigentliche Rede

- Mythos

- Bild

- Mehrdeutigkeit

- dadurch mehr Bedeutungs"spielraum"

- Unbegrifflichkeit

- Übertragungen

- pragmatisch

- Metapher als "Hintergrund"

- narrativ (erzählend)

------------------------------------

Das ist GANZ GROBES Schema, wie man sich das Antipodische von BEGRIFF und METAPHER vielleicht vorstellen kann.

"Herr xy ist eine Mimose." (Metapher) Logisiert: "Herr xy ist sehr empfindlich." (Begriff)
(Rede in übertragener Bedeutung) ~ (Rede in wörtlicher Bedeutung)

Aus Begriffen können Metaphern werden.
Aus Metaphern können Begriffe werden.
Absolute Metaphern können nicht zu Begriffen werden. Sie können nicht "logisiert" werden. Sie können nicht in "Logizität", Begrifflichkeit überführt werden.
Absolute Metaphern können durch andere absolute Metaphern ersetzt werden.

"Absolut" im Sinne von "losgelöst" ... eigenständig (nicht überführbar in Begrifflichkeit)

"Blumenberg rückt die Metapher zunächst in ein bestimmtes Verhältnis zu den epistemischen Erfordernissen des Begriffs. Hieraus ergibt sich das Bild eines Wechselverhältnisses, in welchem Begriffe von Metaphorik zehren, die Verbegrifflichung in bestimmten Fällen aber unvermeidbar auf Grenzen stößt und in epochalem Maßstab kompensatorisch auch neue Metaphorik produziert.[...]
Zum anderen und vor allem hebt Blumenberg aber solche Übertragungen hervor, ˋdie man absolute Metaphern nennen müßte und in ihrer begrifflich nicht ablösbaren Aussagefunktion´ näher zu untersuchen wären." (Blumenberg lesen; S. 205)

"begrifflich nicht ablösbare Aussagefunktion" = absolut(e) Metapher

Die absolute Metapher "springt in eine Leere ein, entwirft sich auf der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren." (Paradigmen; S. 193)
Zuletzt geändert von Nauplios am Sa 2. Nov 2019, 01:25, insgesamt 2-mal geändert.




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Sa 2. Nov 2019, 00:59

"Wahrscheinlichkeit": ursprünglich eine Metapher. Das Wahre "scheint" durch im Sinne von: hinter dem "Schein" ist die Wahrheit. Aber auch: Irgendwas gibt sich aus als Wahrheit, "scheint" nur als Wahrheit, ist aber in Wirklichkeit eine Täuschung. Das sind zwei Lesarten der Metapher "Wahrscheinlichkeit". - Dann kommt es zum ÜBERGANG: von der Metapher "Wahrscheinlichkeit" zum Begriff "Wahrscheinlichkeit". Es wird nicht länger die Metapher in "Wahrscheinlichkeit" erkannt, d.h. die Metapher wird zum Terminus, zum Begriff, wird in "Logizität überführt", wird "terminologisiert" (s. Schema oben) usw. Dieser gesamte Prozeß wird expliziert in den Paradigmen S. 116-140.

Die "kopernikanische Wende" ist zunächst einfach nur der Titel für diverse naturwissenschaftliche Entdeckungen (Kopernikus, Galilei, Kepler, Brahe u.a.). Das geozentrische Modell basiert auf der Annahme, daß die Erde der Mittelpunkt des Kosmos ist. Kopernikus sagt: Nicht die Erde, sondern die Sonne steht im Mittelpunkt des Kosmos (heliozentrisches Modell). Diesen Vorgang der Ablösung des geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische Weltbild nennt man kopernikanische Wende (weil es Kopernikus war, der "entdeckte", daß nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt steht). -

Das sind lediglich naturwissenschaftliche Modelle im allerweitesten Sinne. Doch nun erfolgt die "Metaphorisierung" dieser kopernikanischen Wende: Wenn die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht, dann steht ja auch der Mensch (!), der doch auf der Erde lebt nicht im Mittelpunkt des Universums. Das kränkt den Menschen. (s. "Kränkungs"-These bei Freud, Nietzsche). Der Mensch ist jetzt (mit der Sonne im Mittelpunkt) an den Rand des Universums gestellt. Seine "Stellung" in der Welt ist also eine unbedeutende, irgendwo am Rand. Er steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern ist jetzt nur noch ein "Eckensteher". Er ist gekränkt, weil er nicht mehr Mittelpunkt einer "Schöpfung" ist, die ein liebender Gott geschaffen hat. Im kalten, riesengroßen Universum (Pascal "schauderte" es angesichts dieser Vorstellung) ist er auf sich allein gestellt, muß sich selbst behaupten in der Neuzeit. Jetzt haben wir es auf einmal mit einer "kopernikanischen Wende" ganz anderer Art zu tun: nicht nur mit einem schlichten naturwissenschaftlichen Befund, sondern mit einer "Kränkungsgeschichte", die den Beginn der Neuzeit charakterisiert: Jetzt bleibt dem Menschen nichts anderes mehr übrig als "Selbstbehauptung". Bei Nietzsche ist Gott schließlich tot. Der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt und vor allem, er steht auch nicht mehr im Mittelpunkt. Stattdessen unterliegt er Gesetzen der "Evolution" (Darwin) (die nächste "Kränkung").

Die "kopernikanische Wende" in diesem, metaphorischen Sinne ist die Signatur der Neuzeit. So wird also ein zunächst ganz schlichtes wissenschaftliches Faktum (die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums) eine Metapher (der Mensch ist nicht mehr der Mittelpunkt einer eigens für ihn gemachten Schöpfung). Man könnte auch sagen: Das "Narrativ" hat sich geändert. Die "Erzählung" hat sich geändert. Es wurde eine Kosmologie, eine Logik des Kosmos, metaphorisiert zu einer ERZÄHLUNG über den Menschen. (Kant nimmt ja dann diese kopernikanische Wende erkenntniskritisch auf.) -

Das ist jetzt eine Darstellung in VÖLLIGER VEREINFACHUNG dessen, was in den dichten und komplexen und an Belegstellen reichen Darstellung der Paradigmen steht, nahezu sträflich vereinfacht. :-) ... Aber vielleicht hilft es ein wenig, auf die Spur des Gedankens bei Blumenberg zu kommen. -




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Nauplios
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Metaphorisierte Kosmologie (2)

Der Metaphorisierung des Kosmos durch die Rezeption der kopernikanischen Wende ging voraus die Metaphorisierung des Kosmos durch die Stoa. Denn die Geozentrik des Kosmos im Hellenismus war verbunden mit einer anthropozentrischen Teleologie, die den Kosmos zu einer Veranstaltung für den theoretischen Menschen, den schauenden Menschen gemacht hatte. In entgegengesetzter Richtung zur Metaphorisierung eines an der Schwelle nur Neuzeit stehenden naturwissenschaftlichen Befundes, sah die Stoa den Menschen mit einer ausgezeichneten Position als Adressat und contemplator caeli aller kosmischen Ereignisse versehen.

"Eine wichtige, heute zwar nicht mehr nachvollziehbare, aber im axiomatischen Fundament der Astronomie noch durchaus nachwirkende Rolle spielte die ˋStellarisierung´ der Erde, ihre Einreihung unter die übrigen Himmelskörper. [...] Viele spezifische Interessen der Galileischen Forschung und Spekulation lassen sich nur von der metaphorischen Hintergrundbedeutung der stellaren ˋErhebung´ der Erde her verstehen." (Paradigmen; S. 152) -

Die Erde als Stern unter Sternen, dieses metaphysische Indiz greift Nikolaus von Cues auf im 12. Kapitel des zweiten Buchs der Docta ignorantia: Bewegung und Leuchtkraft als die beiden Komponenten der stellaren Essenz der Erde weichen die Illusion einer in der Weltmitte verankerten Erde auf: "Est igitur terra stella nobilis, quae lumen et calorem et influentiam habet ... (Die Erde ist also ein ausgezeichneter Stern, der Licht, Wärme und Ausstrahlung besitzt ... ). Bemerkenswert, daß der Cusaner hier bereits an eine influentia, einen Einfluß (Ausstrahlung) denkt, den der Stern (stella) Erde womöglich für Bewohner anderer Himmelskörper haben könnte.

"Indem so die Erde beim Cusaner zum Stern unter Sternen geworden ist, verliert sie jede besondere Eigenschaft, die der Mensch auf sich und seinen Weltrang beziehen könnte." (Paradigmen; S. 153)

Um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie sehr die kopernikanische Wende in ihrer metaphorisierten Form zur Beunruhigung über die bis dahin als ausgezeichnet angesehene Stellung des Menschen im Kosmos beigetragen hat, sei hier eine Passage aus Fontenelle´s Entretiens sur la pluralite des mondes zitiert. Diese Unterhaltungen über die Vielzahl der Welten erschienen 1686 und wurden von der katholischen Kirche prompt auf den Index gesetzt. Es geht dabei um ein fiktives Gespräch, welches zwischen einem gebildeten Mann von Welt und einer Marquise und ihrer Tochter stattfindet. Auf die Möglichkeit, daß es eine Vielzahl von Welten geben könnte und daß es andere bewohnte Himmelskörper geben könnte, wenn die Erde nur ein Stern unter anderen wäre, antwortet die Marquise gereizt:

"Franchement ... c´est la une calomnie que vous avez inventee contre le genre humain. On n´aurait donc jamais du recevoir le systeme de Copernic, puisqu´il est si humiliant." ("Das ist ganz im Ernst eine Verleumdung, die Sie sich gegen das ganze Menschengeschlecht ausgedacht haben. Man hätte das kopernikanische System nie akzeptieren sollen, weil es so demütigend ist.") (Paradigmen; S. 162) -

Das ist ziemlich genau 200 Jahre vor Nietzsches Genealogie der Moral geschrieben und deutet an, wie sehr das menschliche Selbst- und Weltverhältnis mit den "Folgen" der kopernikanischen Wende zu ringen hat. -




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Nauplios
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Geometrische Symbolik und Metaphorik

In diesem letzten Kapitel der Paradigmen geht es Blumenberg um die Verwendung mathematischer Zeichen und Figuren, sofern sie in philosophischen Zusammenhängen auftauchen. Unter anderem geht es um Kreis und Kugel als Ausdrucksmittel der Mystik. "Kreisbahn und Kugelform als kosmische Grundgestalten sind seit Plato und Aristoteles Inbegriff der Kosmizität des Kosmos, seiner Vollkommenheit und Rationalität." (Paradigmen; S. 166) -

In der Folge dieses Kapitels liegen die Schwerpunkte des Gedankengangs bei Plotin (Über die Himmelsbewegung), Marsilio Ficino als lateinischer Übersetzer Plotins, Nikolaus von Cues (De docta ignorantia), Kepler (Die Zusammenhänge der Welten), Montesquieu (Esprit des Lois) und bei Mandevilles berühmter Bienenfabel.

Die letzten Sätze der Paradigmen:

"Metaphysik erwies sich uns oft als beim Wort genommene Metaphorik; der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz." (Paradigmen; S. 189) -

Hier blitzt noch einmal eine Intention, vielleicht sogar die Intention der Paradigmen schlechthin, auf: Die großen Fragen bleiben unbeantwortet ohne daß sie eliminierbar wären. Wir finden sie als "im Daseinsgrund gestellte" und können sie nicht ad acta legen. Dabei zeigte sich, daß Fragen wie nach der Wahrheit, nach der Stellung des Menschen u.ä. in der Metaphorik, mit der sich der Geist in seinem "Mut zur Vermutung" voraus ist, aufscheinen, vordergründig wie hintergründig. Die Philosophie bleibt wesentlich angewiesen auf den "Bildervorrat", aus dem sie sich bei der Entfaltung ihrer Begrifflichkeit bedient. Die "absolute Metapher" gilt dabei als das Belegstück für die Unentbehrlichkeit dieses Bildervorrats, weil sie nicht in Logizität überführbar ist. Nebenbei ("aber nicht nebensächlich") kommt - vor allem in der späteren Theorie der Unbegrifflichkeit - der Kunst eine bedeutende Rolle zu in der Behandlung der großen Fragen (s. etwa Blumenbergs Matthäuspassion). - Der titelgebende Terminus der "Metaphorologie" läßt bei all dem zu schnell an ein orchideenhaftes Seitenfach der Philosophie denken; doch hier geht es um mehr, um nicht zu sagen, um alles: "Der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz." -




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Friederike
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Sa 2. Nov 2019, 19:22

Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Nov 2019, 20:45
Man muß Begriff und Metapher auseinanderhalten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir hier einen Konsens haben.
Deine Erläuterung habe ich ratzeputz gestrichen - um den Beitrags-Umfang zu minimieren- aber ich meine, wir sind in dieser Hinsicht d'accord. Deine weiteren Beiträge lese ich morgen.




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 2. Nov 2019, 17:48
"Der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz."
Aus der Serie "Fragen, die nicht beantwortet werden": und was passiert nach dem Schwund des Schwundes, den wir im Moment beobachten können? Es gibt ja ganz offenbar ein neu erwachtes Interesse an Metaphysik.




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So 3. Nov 2019, 11:33

Zum Nachschlagen, falls nötig. Merkmal(e) der absoluten Metapher (die "absolute Metapher" ist ein Spezifikum der Blumenberg'schen "Metaphorik").
Nauplios hat geschrieben :
Sa 2. Nov 2019, 00:29
[...] Aus Begriffen können Metaphern werden. Aus Metaphern können Begriffe werden.

Absolute Metaphern können nicht zu Begriffen werden. Sie können nicht "logisiert" werden. Sie können nicht in "Logizität", Begrifflichkeit überführt werden.
Absolute Metaphern können durch andere absolute Metaphern ersetzt werden.

"Absolut" im Sinne von "losgelöst" ... eigenständig (nicht überführbar in Begrifflichkeit) [...]

"begrifflich nicht ablösbare Aussagefunktion" = absolut(e) Metapher

Die absolute Metapher "springt in eine Leere ein, entwirft sich auf der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren." (Paradigmen; S. 193)




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So 3. Nov 2019, 11:51

Nauplios hat geschrieben :
Sa 2. Nov 2019, 00:59
"Wahrscheinlichkeit": ursprünglich eine Metapher. Das Wahre "scheint" durch im Sinne von: hinter dem "Schein" ist die Wahrheit. Aber auch: Irgendwas gibt sich aus als Wahrheit, "scheint" nur als Wahrheit, ist aber in Wirklichkeit eine Täuschung. Das sind zwei Lesarten der Metapher "Wahrscheinlichkeit". - Dann kommt es zum ÜBERGANG: von der Metapher "Wahrscheinlichkeit" zum Begriff "Wahrscheinlichkeit". Es wird nicht länger die Metapher in "Wahrscheinlichkeit" erkannt, d.h. die Metapher wird zum Terminus, zum Begriff, wird in "Logizität überführt", wird "terminologisiert" (s. Schema oben) usw. Dieser gesamte Prozeß wird expliziert in den Paradigmen S. 116-140.
Die Logisierung einer Metapher = die absolute Metapher. Jetzt habe ich begriffen. Endlich !!!

Und zur "kopernikanischen Wende": Wenn die "sträfliche Vereinfachung" einem -ersten- Verstehen dient, dann halte ich sie für "erlaubt". :lol:




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Nauplios
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So 3. Nov 2019, 12:07

Friederike hat geschrieben :
So 3. Nov 2019, 11:51
Nauplios hat geschrieben :
Sa 2. Nov 2019, 00:59
"Wahrscheinlichkeit": ursprünglich eine Metapher. Das Wahre "scheint" durch im Sinne von: hinter dem "Schein" ist die Wahrheit. Aber auch: Irgendwas gibt sich aus als Wahrheit, "scheint" nur als Wahrheit, ist aber in Wirklichkeit eine Täuschung. Das sind zwei Lesarten der Metapher "Wahrscheinlichkeit". - Dann kommt es zum ÜBERGANG: von der Metapher "Wahrscheinlichkeit" zum Begriff "Wahrscheinlichkeit". Es wird nicht länger die Metapher in "Wahrscheinlichkeit" erkannt, d.h. die Metapher wird zum Terminus, zum Begriff, wird in "Logizität überführt", wird "terminologisiert" (s. Schema oben) usw. Dieser gesamte Prozeß wird expliziert in den Paradigmen S. 116-140.
Die Logisierung einer Metapher = die absolute Metapher. Jetzt habe ich begriffen. Endlich !!!

Nun hast Du ja soeben noch zitiert: "Absolute Metaphern können nicht logisiert werden. Sie können nicht in Logizität, Begrifflichkeit überführt werden."

Mit der "Logisierung" einer Metapher (und dafür ist die "Wahrscheinlichkeit" ein Beispiel) verschwindet die Metapher. "Wahrscheinlichkeit" ist ein Beispiel für den Übergang von der Metapher zum Begriff. "Wahrscheinlichkeit" ist keine absolute Metapher. - Nur deshalb ist eine "Logisierung" überhaupt möglich. ;)




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