Allgemeiner Austausch und Smalltalk zu Blumenberg

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Alethos
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Di 16. Jun 2020, 23:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 21:26
In der Kunst Theorie
Übertragen wir das, was Haverkamp sagt, einmal auf einen Kunstgegenstand. Sagen wir mal eine Zeichnung von dir, Jörn.

Diese Zeichnung sei nicht abgeschlossen..
Nun handelt es sich also bei der Zeichnung um ein Werk - ein Kunstwerk. Nun wollten wir sagen, diese Zeichnung 'propagiere die Wahrheit der Verantwortung ihrer Nichtabgeschlossenheit'. Was um
Himmelswillen soll das denn heissen? Wem gegenüber hat es denn eine Verantwortung? Wahrscheinlich dem Betrachter gegenüber, oder? Okay, aber wofür?

Das Werk ist abgeschlossen oder nicht, das macht das Werk ja aus: Die Zeichnung ist schön oder nicht, abgeschlossen oder nicht, gelb oder nicht gelb, aber sie trägt doch keine Verantwortung dafür, schön oder nicht schön zu sein oder gelb oder nicht gelb zu sein? Das ergibt einfach keinen Sinn, einem
Attribut des Werks, durch das es dieses Werk ist, Verantwortung zuzuschreiben für dieses Attribut.

Nun also kann ein Werk die Wahrheit seiner Verantwortung gar nicht propagieren, weil es diese nicht hat. Wenn man sie ihr aber zuschreibt, dann weil man an es eine Forderung stellt: "Werk, erkläre dich!" oder "Werk, erfülle diese Erwartung!" Wenn man so an ein Werk herantritt, dann mit einer Erwartungshaltung, es möge sich um mich kümmern resp. seine Verantwortung wahrnehmen (mit Bezug darauf, dass es die Wahrheit sagt, mit Bezug darauf, dass es Fragen klärt etc). Sagt man von einem
Werk, es propagiere die Wahrheit seiner Verantwortung nicht, dann unterstellt man ihm, dass es diese Verantwortung hat. Und sagt man von einem Werk, dass es die Wahrheit seiner Verantwortung nicht propagiere, dann sagt man im Grunde: Das Werk macht geltend, dass die Wahrheit dieser Verantwortung in Zweifel steht. Das Werk entbindet sich von der Wahrheit seiner Verantwortung, es verselbständigt sich und immunisiert sich sozusagen gegenüber der Frage, ob es wahr sei, dass es Verantwortung trägt. Das Werk ist dann sozusagen nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Die Frage, ob es verantwortlich sei ist immer schon bejaht mit Blick auf sich selbst - gleichzeitig fällt
die Frage nach der Verantwortung für andere nicht unter die Kategorie von wahr oder falsch. Es ist mit Blick auf die Verantwortung für Andere völlig wahrheitsneutral. Es ist weder wahr nich falsch, dass es eine Verantwortung trägt. Und das scheint mir Haverkamp hier Blumenberg vorwerfen zu wollen, dass er sein Werk seinem Werk widmet und es für sich selbst verantwortlich macht - niemandem Rechenschaft schuldig ausser der Wahrheit (in einem nicht abschliessenden Sinne von >wahr<)



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Jörn Budesheim
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Mi 17. Jun 2020, 05:37

Haverkamp hat geschrieben : "Blumenbergs Werk ist darin ganz eigentümlich [...] daß es die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes nicht als eigene Wahrheit propagiert, sondern dessen Wahrheit für seine Wirkung offen hält und weiter zu tragen anhält."
Jörn Budesheim hat geschrieben : Haverkamp spricht (wenn man einen logisch syntaktischen Umbau vornimmt) von der "Wahrheit des Werkes".
Alethos hat geschrieben : Diesen Umbau kann ich nicht nachvollziehen, tut mir leid.
Haverkamp spricht von "dessen Wahrheit". Wessen Wahrheit ist gemeint? Die Wahrheit des Werkes.




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Alethos
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Mi 17. Jun 2020, 09:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 17. Jun 2020, 05:37
Haverkamp hat geschrieben : "Blumenbergs Werk ist darin ganz eigentümlich [...] daß es die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes nicht als eigene Wahrheit propagiert, sondern dessen Wahrheit für seine Wirkung offen hält und weiter zu tragen anhält."
Jörn Budesheim hat geschrieben : Haverkamp spricht (wenn man einen logisch syntaktischen Umbau vornimmt) von der "Wahrheit des Werkes".
Alethos hat geschrieben : Diesen Umbau kann ich nicht nachvollziehen, tut mir leid.
Haverkamp spricht von "dessen Wahrheit". Wessen Wahrheit ist gemeint? Die Wahrheit des Werkes.
Dessen Wahrheit für seine Wirkung offen zu lassen, bedeutet aber nicht, dass er keine Verantwortung für sein Werk übernimmt. Und das war der Schluss, den deine syntaktische Umformung bewirkte. Und ich halte diesen Schluss für nicht gerechtfertigt.

Wenn man, wie Blumenberg es tut, eine geschichtliche Wirklichkeit des Wahrheitsbegriffs beschreibt, dann muss man doch die 'Wahrheit des Werks' im Lichte der Wandelbarkeit des Begriffs >Wahrheit< offenlassen. Man kann ja nicht auf der einen Seite feststellen, dass der Wahrheitsbegriff kontextabhängig (von den zugrundeliegenden eidetischen Potenzialen gefärbt ist), und für sein eigenes Werk eine absolut gültige, wie auch immer terminologisch gefasste Wahrheitsdefinition geltend machen. Man muss den Begriff, wie man ihn erarbeitet hat (als pragmatische, sich perfomierende Wahrheit), auf das eigene Werk anwenden.



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Friederike
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Mi 17. Jun 2020, 09:20

Alethos hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 23:14
Und sagt man von einem Werk, dass es die Wahrheit seiner Verantwortung nicht propagiere, dann sagt man im Grunde: Das Werk macht geltend, dass die Wahrheit dieser Verantwortung in Zweifel steht. Das Werk entbindet sich von der Wahrheit seiner Verantwortung, es verselbständigt sich und immunisiert sich sozusagen gegenüber der Frage, ob es wahr sei, dass es Verantwortung trägt.
Ich will diese Passage nur festhalten, weil ich in eine ähnliche Richtung gedacht habe. In dem Moment, da das Werk abgeschlossen ist, übergibt man es der Öffentlichkeit bzw. den Leser*innen, die mit den Gedanken, die der Autor niedergelegt hat, machen, was sie wollen. Das ist superschlecht ausgedrückt, aber ich kann es im Augenblick nicht besser sagen.




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Jörn Budesheim
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Mi 17. Jun 2020, 09:57

Haverkamp spricht vom Werk in vielen Hinsichten. Mehr oder weniger deutlich von der Verantwortung des Werkes, der Abgeschlossenheit des Werkes, der Wahrheit des Werkes, der Wirkung des Werkes, dem Weitertragen des Werkes und der Offenheit des Werkes.

Was diese Wendungen meinen, wird nicht ausgeführt, sondern als bekannt vorausgesetzt oder der Fantasie des Lesers überlassen. Einige dieser Wendungen sind wohl "stehende" (z.B.: Wahrheit des Werkes). Am schwierigsten finde ich die Verantwortung des Werkes. Wenn man danach googelt, wird man u.a. auf religiöse Zusammenhänge verweisen. Die Verantwortung des Werkes ist vielleicht, dasjenige, wofür es einstehen muss oder das, was es auslöst. Ein Werk ist ja auch "Ergebnis" einer Handlung und jede Handlung führt zu diversen Verantwortlichkeiten.

Zudem: Autor, Werk, Wahrheit, Verantwortung, Wirkung und Weitertragen sind auch nicht streng getrennte "Entitäten". Wir haben ja nicht hier Blumenberg und ganz und gar unabhängig von ihm sein Werk. Und das Werk ist auch nicht unabhängig von seiner Rezeptionsgeschichte. Ein ungelesenes Werk kann es zwar vermutlich nicht geben, weil der Autor ja sein eigener Leser ist, aber in der Rezeption, so könnte man vielleicht sagen, "lebt" das Werk und für diese Rezeption ist es (mit) verantwortlich. Die Rezeption ist nicht freischwebend, sondern ihrerseits dem Werk verantwortlich.

Ein Gegenbeispiel: Wittgenstein hat im Tractatus die Ansicht vertreten, die Probleme der Philosophie im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Das dürfte so ungefähr der stärkste Kontrast zu dem hier vertretenen sein.

Werke sind sozusagen abgeschlossen und nicht-abgeschlossen in einem. Abgeschlossen, weil sie irgendwann fertig sind und in die Öffentlichkeit entlassen werden; nicht-abgeschlossen, weil sie dann ja erst zu ihrem "wahren" Leben erwachen. Nun kann man das Werk entweder gleichsam den Lesern für die Füße werfen und sagen: so liegen die Dinge eben - ich habe fertig. Oder es sozusagen in die Wirkungsgeschichte hineingeben, in der es dann weiter getragen wird.

Irgendetwas in der Art könnte vielleicht gemeint sein :-)




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Friederike
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Do 18. Jun 2020, 11:23

Im August des vergangenen Jahres -im ersten oder zweiten Versuch, über Blumenberg krisenfrei zu sprechen - hatte @Nauplios in diesem Thread schon einmal auf Haverkamps Einführung in das Werk Blumenbergs, ebenfalls mit einem Zitat, aufmerksam gemacht. In Erinnerung hatte ich es wegen Deiner Formulierung @Nauplios, Haverkamp wolle "konkurrierend verständlich machen". Das Zitat damals war noch "abgefahrener als das, welches" :lol: wir hier zuletzt haben auszulegen versucht. Damals unterließen wir es gleich. Komplexe Gedanken verdichten in komplizierter Syntax, das kann Blumenberg, aber ich finde, daß Haverkamp sich in seiner eigenen Sprache verheddert.




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Friederike
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Do 25. Jun 2020, 11:03

Nauplios hat geschrieben : "Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte." (Eckermann; Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens; S. 446) -
Nauplios hat geschrieben : In den Anfangsjahren sind es vor allem Korrespondenzen mit Behörden, Anträge und private Briefe, auch Veröffentlichungen von Zeitgenossen, die Blumenberg gekannt haben, Chroniken von Gymnasien und Universitäten, staatliche Archive ... und natürlich all das, was in Marbach liegt, auf das sich Zill beruft. Man darf sich das nicht so vorstellen als hätte man hier einen kleinen Hausstand als Erbmasse, in der sich ein paar Bücher, ein Schrank von Kleidungsstücken, eine Zigarrenkiste mit Kurzwaren und der letzte Einkaufszettel von Aldi findet. Rüdiger Zill hat in Marbach mit Dorit Krusche, die dort den Nachlaß verwaltet, eine enorme Arbeit geleistet und natürlich mußte er am Ende eine Auswahl treffen. Er hat mit Zeitzeugen gesprochen, sofern sie noch leben, mit hochbetagten Menschen jenseits der 90; die Arbeit an dieser Biographie hat sich wahrscheinlich über Jahre hingezogen. Ein sehr umfangreicher Anmerkungsteil kommentiert die Quellen. Und man darf nicht vergessen, es ist ja auch eine "intellektuelle Biographie"; Zill schreitet neben den äußerlichen Daten auch die philosophische Entwicklung, den Denkweg Blumenbergs ab.
Mir geht seit Stunden durch den Kopf, ob ich mich jetzt, gegenwärtig, im jeweiligen Gegenwärtig, anders fühlen würde, wenn ich wüßte, daß sich irgendwann später einmal, dann, wenn ich gestorben bin, andere Menschen, die Öffentlichkeit, meines Lebens so annähmen wie es nun im Fall von Blumenberg geschehen ist und geschieht.

Ob zum Beispiel Fakten, die mir unter den derzeitigen Verhältnissen nicht gelten, weil sie mir nichts bedeuten, im imaginierenden Vorwegnehmen zukünftigen Interesses vielleicht doch jetzt "was" bedeuten würden ... aller Voraussicht nach werde ich sterben und man wird die wenigen Gegenstände, die ich bei mir und um mich habe, schnell entsorgen können. Man wird mich anonym begraben. Nichts wird von mir hier bleiben.

Ich kann oder könnte mir aber vorstellen, daß man aus den Kalendernotizen, die ich seit 2o15 aufbewahre, aus dem einen Dokumentenordner, den ich besitze und aus den Aussagen derer, die mich dann noch gekannt haben werden, eine Lebensgeschichte erstellen könnte ... und das ist der spannende Punkt, an dem ich hängenbleibe, man kann mein Leben sicher vollkommen anders erzählen als ich es mir selbst erzähle. Fakten kriegten Bedeutung, die mir bedeutungslos sind und Fakten, die mir gelten, verschwänden aus der Sicht Anderer aus meiner Lebensgeschichte. Im Moment, also heute früh und vormittags, da ich darüber sinniere, kommt mir der Gedanke, man würde sich so intensiv und liebevoll um mein Leben kümmern, wie Zill es mit Blumenbergs Leben getan hat, angenehm vor. Mein Leben jetzt, so wie ich es und mich darin empfinde, käme mir wertvoller vor. Das ist aber -noch- nicht die Wahrheit ... ahne ich. Es hat damit zu tun, daß sowohl die Vorstellung, komplett spurlos aus der Welt zu verschwinden als auch die Vorstellung, es würde nicht so sein, ja doch meine Vorstellungen sind, und daß die zwei unterschiedlichen Wirklichkeiten, die ich phantasiere, ebenfalls meine eigenen Gedanken sind. Die Wahrheit ist's immer noch nicht -




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Friederike
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Do 25. Jun 2020, 11:52

offtopic:

Es gibt in den "Tagebüchern" von Th. Mann diese eine Stelle, diesen Tag, diesen Moment, an dem er eine kurze Bemerkung über seinen Sohn Golo schreibt. Was genau er schreibt, das erinnere ich nicht mehr, es ist etwas Schreckliches - er hat eine Aversion gegen ihn, er liebt ihn nicht - und das Schrecklichste, wie ich finde; Th. Mann hatte angeordnet, die Tagebücher sollten oder dürften 50 Jahre nach seinem Tod gelesen und veröffentlicht werden. Zu dem Zeitpunkt hat Golo Mann noch gelebt.




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Nauplios
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Do 25. Jun 2020, 13:29

Friederike hat geschrieben :
Do 25. Jun 2020, 11:03
Nauplios hat geschrieben : "Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte." (Eckermann; Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens; S. 446) -
Nauplios hat geschrieben : In den Anfangsjahren sind es vor allem Korrespondenzen mit Behörden, Anträge und private Briefe, auch Veröffentlichungen von Zeitgenossen, die Blumenberg gekannt haben, Chroniken von Gymnasien und Universitäten, staatliche Archive ... und natürlich all das, was in Marbach liegt, auf das sich Zill beruft. Man darf sich das nicht so vorstellen als hätte man hier einen kleinen Hausstand als Erbmasse, in der sich ein paar Bücher, ein Schrank von Kleidungsstücken, eine Zigarrenkiste mit Kurzwaren und der letzte Einkaufszettel von Aldi findet. Rüdiger Zill hat in Marbach mit Dorit Krusche, die dort den Nachlaß verwaltet, eine enorme Arbeit geleistet und natürlich mußte er am Ende eine Auswahl treffen. Er hat mit Zeitzeugen gesprochen, sofern sie noch leben, mit hochbetagten Menschen jenseits der 90; die Arbeit an dieser Biographie hat sich wahrscheinlich über Jahre hingezogen. Ein sehr umfangreicher Anmerkungsteil kommentiert die Quellen. Und man darf nicht vergessen, es ist ja auch eine "intellektuelle Biographie"; Zill schreitet neben den äußerlichen Daten auch die philosophische Entwicklung, den Denkweg Blumenbergs ab.
Mir geht seit Stunden durch den Kopf, ob ich mich jetzt, gegenwärtig, im jeweiligen Gegenwärtig, anders fühlen würde, wenn ich wüßte, daß sich irgendwann später einmal, dann, wenn ich gestorben bin, andere Menschen, die Öffentlichkeit, meines Lebens so annähmen wie es nun im Fall von Blumenberg geschehen ist und geschieht.

Ob zum Beispiel Fakten, die mir unter den derzeitigen Verhältnissen nicht gelten, weil sie mir nichts bedeuten, im imaginierenden Vorwegnehmen zukünftigen Interesses vielleicht doch jetzt "was" bedeuten würden ... aller Voraussicht nach werde ich sterben und man wird die wenigen Gegenstände, die ich bei mir und um mich habe, schnell entsorgen können. Man wird mich anonym begraben. Nichts wird von mir hier bleiben.

Ich kann oder könnte mir aber vorstellen, daß man aus den Kalendernotizen, die ich seit 2o15 aufbewahre, aus dem einen Dokumentenordner, den ich besitze und aus den Aussagen derer, die mich dann noch gekannt haben werden, eine Lebensgeschichte erstellen könnte ... und das ist der spannende Punkt, an dem ich hängenbleibe, man kann mein Leben sicher vollkommen anders erzählen als ich es mir selbst erzähle. Fakten kriegten Bedeutung, die mir bedeutungslos sind und Fakten, die mir gelten, verschwänden aus der Sicht Anderer aus meiner Lebensgeschichte. Im Moment, also heute früh und vormittags, da ich darüber sinniere, kommt mir der Gedanke, man würde sich so intensiv und liebevoll um mein Leben kümmern, wie Zill es mit Blumenbergs Leben getan hat, angenehm vor. Mein Leben jetzt, so wie ich es und mich darin empfinde, käme mir wertvoller vor. Das ist aber -noch- nicht die Wahrheit ... ahne ich. Es hat damit zu tun, daß sowohl die Vorstellung, komplett spurlos aus der Welt zu verschwinden als auch die Vorstellung, es würde nicht so sein, ja doch meine Vorstellungen sind, und daß die zwei unterschiedlichen Wirklichkeiten, die ich phantasiere, ebenfalls meine eigenen Gedanken sind. Die Wahrheit ist's immer noch nicht -
Danke für diesen Beitrag, Friederike. In ihm kommen Leben und Philosophie zu einem Rendezvous. Es ist Deinen Zeilen anzumerken, daß Dir etwas nahegeht. Es berührt Dich etwas. Und das Berührende hängt wohl mit dem Ineinander zweier Geschichten zusammen. Es sind gerade mal 70 Kilometer, die Lübeck von Hamburg trennen. ;) Und das nicht nur geographisch. All das Vergangene, all die Erinnerungen ... man wird sich der "Verstrickung in Geschichten" bewußt und manchmal sind solche Geschichten auf ganz wundersame Weise miteinander verbunden, auch wenn sich die direkten Lebenswege nicht gekreuzt haben. "Bedeutsamkeit" ist ja eines der großen Themen Blumenbergs. Philosophie macht nachdenklich.

Laß´ Dir all das nicht zu nah´ kommen! ;)




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Friederike
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Fr 26. Jun 2020, 12:31

Nauplios hat geschrieben :
Do 25. Jun 2020, 19:16
Das Vergangene steht vor einem Horizont, der sich mit der Zeit verschiebt. Aber auch der Betrachter ändert seine "Position", hat einen Spielraum an Beweglichkeit. Auf das Ganze der Geschichte gesehen spricht Blumenberg deshalb auch von der "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen". - Abgelesen wird diese Metakinetik dann am Gebrauch von Metaphern und Mythen. -
"Gefühlte" (wie man neuerdings sagt) 100 Male ist dieser Satz von Dir bereits geschrieben worden. Nein, nein, das ist kein Vorwurf an Dich, denn der Autor des Satzes ist ja Blumenberg, aber offenkundig entfaltet dieser Satz machtvolle Wirkung. Es scheint wenig Sekundärlit. zu geben, die ihn nicht aufgreift.

Warum um Himmels willen sagt Blumenberg "Metakinetik"? Da er selbst nicht mehr zu befragen ist, frage ich hier. Was meinst Du oder was meint Ihr (@Alethos zuvörderst)? Warum sagt Blumenberg nicht einfach "Bewegung" und warum fügt er "meta" hinzu? Welchen dt. Ausdruck könnte man vor "Bewegung" setzen, damit man die Metakinese gut übersetzt kriegt? Sinnhorizonte und Sichtweisen verändern, bewegen sich im Laufe der Zeit. So weit so gut. Was aber ist der übergeordnete Aspekt, den Blumenberg mit dem "meta" anzeigen will? Das ist mir nicht klar.

NS: "Metakinetik" scheint ein Ausdruck zu sein, der von Blumenberg erfunden worden ist, weil alle Auskünfte, die das Netz gibt, zu Blumenberg führen. "Metakinese" hingegen -ich hätte die Begriffe synonym gebraucht- ist ein Terminus aus der Medizin/Biologie.




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Friederike
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Fr 26. Jun 2020, 13:51

Nauplios hat geschrieben :
Do 25. Jun 2020, 13:29
[...] "Verstrickung in Geschichten" [...]
Die nächste Verstrickung ereignete sich rasch :lol: - "Ochsenwärder" war's, wo ich mich zunächst vergewissern hab' müssen, ob es sich um das nämliche "Ochsenwerder" im Südosten Hamburgs -in heutiger Schreibweise- handelt. Es ist eine Gegend, in der wohl auch im 21. Jahrhundert die Gast-Wirte noch Gastwirte heißen. Hauptsächlich Gemüse- und Schnittblumenanbau, jetzt meist in riesigen Treibhäusern, die die Felder überziehen. Plattes Land, in dem kein Hügelchen die Sicht auf/in den weiten Horizont versperrt. Daß Blumenberg dort also, oder ganz in der Nähe, zum Reichsarbeitsdienst eingezogen war ... vermutlich zum landwirtschaftlichen Schuften, das rief alsogleich vielfältige Erinnerungen hervor. 8-)




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Nauplios
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Fr 26. Jun 2020, 19:58

"Auch absolute Metaphern haben daher Geschichte. Sie haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe, denn der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren." (Paradigmen; S. 16) -

Der Begriff Metakinetik kommt, wie Du schon geschrieben hast, Friederike, ursprünglich aus der Biologie (wohl auch aus der Mechanik) Bei Blumenberg taucht er erstmals in der Dissertation und dann auch in der Habilitationsschrift Die ontologische Distanz auf. Wie der Titel schon andeutet, geht es bei der (ontologischen) Distanz um etwas Räumliches; genauer darum, die Geschichte, die wir uns ja meistens in zeitlicher Metaphorik vorstellen, in Metaphern der Räumlichkeiten zu denken. Der "Spielraum" ist dabei einer dieser Grundmetaphern. Das Seinsverstehen des Daseins vollzieht sich danach in einem Spielraum, der nicht nur das faktische geschichtliche Geschehen im Blick hat, sondern auch das mögliche Geschehen.

Im "geschichtlichen Sinnhorizont" liegt bereits eine solche räumliche Metaphorik vor. Der Horizont ist beweglich. Geht man auf ihn zu, weicht er zurück. Er bildet somit einen Hintergrund, vor dem sich Neues, Weiteres, Anderes ereignet. Auch der Hintergrund ist eine räumliche Metapher.

Man hat also auf der einen Seite einen beweglichen Horizont. Auf der anderen Seite steht nun der "Spielraum" des menschlichen Verstehens. Auch dieses Verstehen zeigt sich geschichtlich (!), innerhalb eines (Spiel-)Raums , also als beweglich.

Jetzt gibt es also zwei Beweglichkeiten: den Sinnhorizont und das Sinnverstehen. Damit ergibt sich das, was man in der Astronomie eine "Konstellation" nennt, wobei die Stellung, um die es hier geht, eine bewegliche Stellung ist; und zwar beweglich von beiden Seiten der Konstellation. Man könnte auch sagen, die beiden Seiten sind "gegeneinander" beweglich oder auch: "innerhalb" der beiden Seiten gibt es eine zweifache Bewegung. Oder man könnte auch die "Sichtweisen" als "nach"geordnete, ständig in Bewegung befindliches Verstehen des Geschehens bezeichnen: "nach"geordnet im Sinne eines räumlichen Dahinter, Über oder auch zeitlichen "Danach". -

"gegeneinander", "innerhalb", "nach" ... Das sind u.a. die Bedeutungsrichtungen des griechischen meta! (meta Troas kai Achaious: innerhalb, inmitten der Troer und Achaier.)

kinesis Bewegung / metakinesis Bewegung gegeneinander.

Es ändern sich zwei Positionen, die natürlich aufeinander bezogen bleiben: der Sinnhorizont ist beweglich, weicht zurück und die Position des Sinnverstehens ist ebenfalls beweglich, hat "Spielraum" und wird natürlich dann ihrerseits wieder Teil des Sinnhorizonts für "nach"folgendes Sinnverstehen. Dieses "Ineinander", dieses "Mittenmang", wie man glaube ich in Hamburg sagt, zweier Bewegungen und Beweglichkeiten soll wohl der Ausdruck "Metakinetik" bezeichnen. -

Vielleicht kann man sagen, daß Blumenberg damit die Gadamer' sche Wirkungsgeschichte verräumlicht hat.




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Friederike
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Sa 27. Jun 2020, 08:15

Nach einem ersten Lese-Durchgang heute früh, glaube ich, vorläufig schon festhalten zu können, daß die "Konstellation" das mir fehlende Bindeglied war und insofern sie (die Konstellation) der Schlüssel zum Verständnis ist.




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Nauplios
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Sa 27. Jun 2020, 15:25

Am 10. Oktober letzten Jahres hat Lukas Held in Berlin beim Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung einen Vortrag gehalten über "Blumenbergs Philosophie des Raums". Darin behandelt er u.a. auch den Topos von der "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen". Der Vortrag ist als pdf-Datei im Netz verfügbar:

https://www.academia.edu/40689246/Spiel ... _des_Raums




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Nauplios
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Sa 27. Jun 2020, 16:03

Vielleicht läßt sich diese Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen auch an der Debatte beobachten, die der Historiker Michael Zeuske kürzlich angestoßen hat und an der sich eine - mögliche - Positionsverschiebung des Beobachters vor dem Hintergrund des historischen Horizonts andeutet. Angesichts der aktuellen Rassismus-Diskussion müsse über den Philosophen Immanuel Kant "neu diskutiert" werden. Kant habe in seinen anthropologischen Schriften den "europäischen Rassismus mitbegründet". -

Für die Leser der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist das ja nun alles längst bekannt. Doch nun "entdeckt" man in Kant den Mitbegründer des europäischen Rassismus. Man muß "neu diskutieren". Man sieht daran, es gibt keine "nackte Vergangenheit". Durch die Kinesis des Betrachters "erscheint" Kant jetzt weniger als Lichtbringer der Vernunft als mehr wie ein Theoretiker der Sklaverei. - Der Auslöser für diese Bewegung in der Sichtweise ist dabei nicht etwa eine bis dahin unentdeckte und verschollene Schrift Kants. Die "Erzählung" mit dem Titel "Kant" wird einfach anders "erzählt" - im Grunde auch eine Art "Arbeit am Mythos".

Daß sich die von Zeuske ins Spiel gebrachte Variation durchsetzt, glaube ich persönlich nicht. Aber hier geht es ja auch nur um die "Mechanik" dieser Metakinesis. -




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 16:38

Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 16:03
Für die Leser der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist das ja nun alles längst bekannt.
Und? Warum haben sie es dann nicht angemessen thematisiert und in die Öffentlichkeit gebracht?




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Nauplios
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Sa 27. Jun 2020, 18:30

Ein bedeutender Philosoph, der das Thema Rassismus und europäische Aufklärung unter besonderer Hinsicht auf Immanuel Kant thematisiert hat, ist Achille Mbembe. Für seine Studie mit dem beziehungsreichen Titel Kritik der schwarzen Vernunft (2014) erhielt Mbembe 2015 den Geschwister-Scholl-Preis.

Ein unbedeutender Leser hat unter dem Titel "Conditio nigra oder die Rückkehr der Drachen" schon 2017 auf die Untersuchungen Mbembes hingewiesen, zunächst im alten Forum, unter dem Titel "Wie kommt der Neger nach Afrika?" dann auch hier.

Im Unterschied zu heute, wollte 2017 niemand einen Philosophen vom Sockel stürzen, auch nicht vom Sockel ent-werfen. Die Metakinese der Sichtweise auf Kant hatte noch nicht den im Kaffeestübchen zu sehenden Spielraum einer im Sturz festgehaltenen Statue.

Ent-wurf und Festhalten im Sturz: "... der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein". An den Metaphern vom "Ent-wurf" und "Sturz", der "festgehalten" wird, kommt zum Vorschein, daß die Sichtweise, die Position des Betrachters beweglich ist. Als Möglichkeit war der Sturz - ob als festgehaltener oder vollzogener - auch 2017 denkbar. Als Wirklichkeit wird er 2020 "realisiert". So ist der "Ent-wurf" eigentlich eine perfekte Illustration dessen, was Blumenberg mit seiner Metakinetik und seinen Untersuchungen zum Wirklichkeitsbegriff meint.

Die Vergangenheit nicht nur als Abfolge von Ereignissen zu sehen, sondern als umgeben von einem Horizont von Möglichkeiten, aus denen heraus das geschichtliche Geschehen zu verstehen ist, ist eines der Anliegen in der Philosophie Blumenbergs, analog dem Musil' schen Satz: "Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben."
Zuletzt geändert von Nauplios am Sa 27. Jun 2020, 18:38, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jun 2020, 18:34

Ich muss dich leider enttäuschen: die Person auf dem Sockel ist nicht Kant sondern Friedrich II. Und ich verlange auch nirgends, dass mit allen Statuen gleich umgegangen werden soll, sondern ich verlange exakt das Gegenteil! "Jede Stadt muss über die "Denkmalfrage" in eigener Weise nachdenken, finde ich. Da gibt es keine generellen Lösungen. Wir haben hier in Kassel ja zum Beispiel nicht nur Denkmale von dem Soldatenhändler Friedrich II, sondern auch so viele documenta Kunstwerke, die in direkter Sichtweite von Friedrich sind. Ich finde, das macht viel aus! Denn das gibt ein buntes Gesamtbild. Vielleicht würde es in diesem Fall genügen, das Denkmal mit entsprechenden Schildern zu versehen, die die Figur ins rechte Licht rücken."




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Nauplios
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Sa 27. Jun 2020, 18:48

Ja, ob Kant oder Friedrich II, ob Hegel oder Bismarck ... ob Statue oder Straßennamen ... ob Hindenburgplatz (Münster) oder Heldenplatz (Wien) ... das Vergangene "lebt". Es ist keine lineare Abfolge von "nackten" Fakten.




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Sa 27. Jun 2020, 18:51

(Zu diesem Themenkomplex hat Aleida Assmann unter den Siglen des Gedächtnisses und der Erinnerung Erhellendes geschrieben. Aber auch das nur am Rande.)




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