Allgemeiner Austausch und Smalltalk zu Blumenberg

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Do 9. Jul 2020, 21:50

Ich bin nicht skeptisch, was das angeht.

Ich verstehe nur nicht, warum eine genuine Leistung der Begriffe als Unbegrifflichkeit bezeichnet werden soll. Zuvor wird die Vielfalt der begrifflichen Möglichkeiten verkürzt: sie seien generell etwas eingrenzendes, heißt es dann. Dabei zeigen ja gerade die Metapher, die Kunst und was weiß ich alles noch, dass das einfach nicht stimmt. Das Gegenteil ist richtig. Begriffe eröffnen uns vieles, Räume der Fantasie z.b.




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Alethos
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Do 9. Jul 2020, 22:26

Begriffe haben eine genuine Leistung, aber es wäre falsch zu denken, mit ihnen liesse sich alles, was ist, erfassen. Begriffe kommen auch vor dem Hintergrund ihrer "Stimmungen" vor, Stimmungen, die vielleicht eher historische Dimensionen haben. Das gehört aber ebenso zum Begriff dazu, dass er nicht an den Rändern seines terminologischen Umfangs aufhört. Dass wir Grundbegriffe als Axiome gelten lassen, sie aber immer wieder durch andere Begriffe erhellen müssen, um sie zu begreifen, ist ein Indiz (von vielen) für die Offenheit von Wirklichkeit. Am Anfang war nicht das Wort, und auch nicht der Begriff, sondern der Mythos. :)



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Jörn Budesheim
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Fr 10. Jul 2020, 05:29

Alethos hat geschrieben :
Do 9. Jul 2020, 22:26
Begriffe haben eine genuine Leistung, aber es wäre falsch zu denken, mit ihnen liesse sich alles, was ist, erfassen. ...
Was hat das mit "Unbegrifflichkeit" zu tun?




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Alethos
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Fr 10. Jul 2020, 06:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Jul 2020, 05:29
Alethos hat geschrieben :
Do 9. Jul 2020, 22:26
Begriffe haben eine genuine Leistung, aber es wäre falsch zu denken, mit ihnen liesse sich alles, was ist, erfassen. ...
Was hat das mit "Unbegrifflichkeit" zu tun?
Sofern sich etwas, das ist, mit Begriffen nicht erfassen lässt, muss es unbegrifflich sein. Der Hintergrund des Begriffs, der Ursprung des Begriffs, die Stimmung oder Atmosphäre, der geschichtliche Kontext - das alles hat keine eindeutige Begriffsform in der Art einer Terminologie. Auch die Bedeutung von Grundbegriffen wie Wahrheit, Sein etc. lassen sich in Begriffsform nur "heben", wenn wir uns an die verschiedenen Bedeutungsebenen und -konnotationen durch Überlagerung und Übertragung herantasten. Das Unbegriffliche ist uns nicht zugänglich als eben dadurch, dass wir seine Bedeutungsspektren durch das Objektiv überlagerter Begriffe betrachten. Metaphern funktionieren als eine Art epistemologische Filter für diese "Phänomene", die keine Begrriffsform haben - die eine nicht-begriffliche Form haben.



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Jörn Budesheim
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Fr 10. Jul 2020, 06:47

Gegenstand von Theorien sind im Übrigen in den seltensten Fällen Begriffe! Und die Gegenstände von Theorien haben in den seltensten Fällen Begriffsform: Die Physik untersucht keine Begriffe, die Biologie eben sowenig. Dennoch ist die Physik keine Theorie der Unbegrifflichkeit.

Aber das, was untersucht wird, hat Eigenschaften. Und daher können wir es begrifflich fassen. Auch Atmosphären und Stimmungen haben Eigenschaften, daher können wir sie begrifflich fassen. Atmosphären haben keine scharfen Ränder und sind oft vage, daher haben wir ja Begriffe wie Atmosphäre, vage, unscharf, verschwommen etc. Es ist ein Mythos, dass Begriffe nur das klar umrissene erfassen können.

Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum Markus Gabriel von Erscheinen in einem Feld spricht kommen. Der Begriff Erscheinen soll gerade auch diese Verschwommenheit, Vagheit etc als Möglichkeit erlauben.




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Alethos
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Fr 10. Jul 2020, 12:36

Im Grunde bist du also der Ansicht, dass Begriffe durchlässig sein können, verschwommen, ungenau, wenn ich es richtig verstehe. Dass diese Verschwommenheit selbst auf Begriffe zu bringen ist, die die ganze Vagheit erfassen, das müsstest du noch zeigen. Ich meine, es bleibt ein Rest Unbegrifflichkeit.



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Jörn Budesheim
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Fr 10. Jul 2020, 12:40

Der Tisch vor mir ist unbegrifflich. Alles, was kein Begriff ist, ist unbegrifflich. Aber ich weiß nicht, was DU damit meinen könntest. Wirklich, ich stehe vor einem Rätsel.




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Alethos
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Fr 10. Jul 2020, 12:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Jul 2020, 12:40
Der Tisch vor mir ist unbegrifflich. Alles, was kein Begriff ist, ist unbegrifflich. Aber ich weiß nicht, was DU damit meinen könntest. Wirklich, ich stehe vor einem Rätsel.
Gegenstände sind allesamt keine Begriffe, aber sie sind doch auf Begriffe zu bringen. Was du fühlst, wenn du den Tisch siehst, das ist nicht komplett auf einen Begriff zu bringen. Was die grüne Wiese ist, was sie bedeuten kann, die Weite und die Erhabenheit, das kann man meines Erachtens nicht durch rein begriffliche Strukturen erfassen.



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Jörn Budesheim
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Fr 10. Jul 2020, 12:51

Ich scheine eine andere Vorstellung von Begriffen zu haben. Natürlich erfassen wir das begrifflich. Indem wir sie sehen, riechen, fühlen, ergehen, über sie nachdenken, nachlesen, bilder darüber betrachten etc.

Alle unsere Registraturen sind begrifflich verfasst. Sehen ist begrifflich, fühlen ist begrifflich, etc.




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Alethos
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Fr 10. Jul 2020, 13:09

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Jul 2020, 12:51

Alle unsere Registraturen sind begrifflich verfasst. Sehen ist begrifflich, fühlen ist begrifflich, etc.
Selbstverständlich, ja, das ist alles begrifflich. Nur ob wir mit unseren begrifflichen Registraturen alle Aspekte der Wirklichkeit erfassen können, das ist die Frage, die die Metaphorologie mit Nein beantwortet.

Nehmen wir den Begriff >Wahrheit<: die nackte, verhüllte oder unverhüllte Wahrheit. Weder ist die Wahrheit nackt noch verhüllt, aber die Metaphorik hüllt sie ein, um auszudrücken, dass sie sich nicht offen resp. vollständig zeigt. Oder sie entblösst
sie, nicht zuletzt auch um ihren Reiz für uns zu betonen.

Wie wollten wir diesen Umstand einer sich nur selten ganz und gar offenbarenden Wahrheit (auch hier wieder die Folie der 'baren' Wahrheit) begrifflich ausdrücken als eben metaphorisch? Es gibt keinen Begriff, der es voll trifft, aber es gibt eine sich an die unbegriffliche Tatsache anschmiegende bildliche Rede: Das ist die Metapher.



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Jörn Budesheim
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Fr 10. Jul 2020, 13:17

Ich bezweifle nicht, dass es Metaphern gibt. Aber es ist ein begriffliches Werkzeug, mit dem wir womöglich Dinge in den Blick bekommen, die uns anders nicht zugänglich wären. Das gestehe ich zu. Nur ist das eben eine begriffliche Leistung, und zwar die begriffliche Leistung, die Metaphern erbringen können. Daran ist nicht ehrenrühriges. Begriffe sind voll geil, ey Alda.




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Friederike
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So 12. Jul 2020, 17:49

Aus "Aspekte der Unbegrifflichkeit", zitiert aus einem Interview, das Blumenberg der FAZ gab:
Nauplios hat geschrieben : Die Grenzwerte von Sagbarkeit und Unsagbarkeit sind noch weiter gespannt als die von definitorischer Bestimmtheit und imaginativer Vorzeichnung. Nicht die Existenz von Korrelaten behaupteter Sprachlosigkeit steht deskriptiv zur Diskussion, sondern die der Geschichte unseres Bewußtseins zugehörige Anstrengung, die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen." (S. 84) -
Ich erwarte nicht, daß irgendjemand die 2 Sätze übersetzt. "Unbegrifflichkeit" jedenfalls umfaßt das Unsagbare (das grundsätzlich jeweils Unsagbare) und wie diese Unsagbarkeit selbst in Sprache gefaßt wird. Bild




Nauplios
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Friederike hat geschrieben :
So 12. Jul 2020, 17:49
Aus "Aspekte der Unbegrifflichkeit", zitiert aus einem Interview, das Blumenberg der FAZ gab:
Nauplios hat geschrieben : Die Grenzwerte von Sagbarkeit und Unsagbarkeit sind noch weiter gespannt als die von definitorischer Bestimmtheit und imaginativer Vorzeichnung. Nicht die Existenz von Korrelaten behaupteter Sprachlosigkeit steht deskriptiv zur Diskussion, sondern die der Geschichte unseres Bewußtseins zugehörige Anstrengung, die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen." (S. 84) -
Ich erwarte nicht, daß irgendjemand die 2 Sätze übersetzt.
Meine Erleichterung darüber verbindet sich mit einer weiteren, imaginierten: ein Blumenberg-Gespräch, wenn nicht geführt von absoluten Lesern, dann von relativen. ;) (was meine Vorliebe für gemeinsames Lesen erklärt, die ich in Textvorschläge umzusetzen, mir abgewöhnt habe) -




Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 00:08

Bei "Bayern 2" gibt es eine sonntägliche Reihe mit dem Titel "Katholische Welt", die sich "Fragen aus dem Bereichen Christentum und Kirche, Religion und Gesellschaft" widmet und in der es gestern um einen Philosophen ging, welcher der "kalten Rationalität und Entfremdung die Suche nach neuer Spiritualität" entgegensetzt: Hans Blumenberg. :o

Nun ist es nicht so, daß Blumenberg mit der "katholischen Welt" nicht in Berührung gekommen wäre; ganz im Gegenteil. Dennoch schleicht sich bei dem Gedanken an eine "neue Spiritualität" etwas Unbehagen ein, zumal von einer "Spiritualität" nach meinen bisherigen Leseerfahrungen bei Blumenberg nirgends die Rede ist, schon gar nicht von einer "neuen". Doch vielleicht muß man diesen Untertitel der Redaktion der "katholischen Welt" als Konzession gegenüber einer spirituell musikalischen Hörerschaft im Freistaat Bayern zugestehen.

Jedenfalls werden die Befürchtungen, die sich mit dem Titel assoziieren lassen, nicht bestätigt. Zu Wort kommen Blumenbergs letzter Assistent, Heinrich Niehues-Pröbsting, Felix Heidenreich, Franz Josef Wetz und Benjamin Dober. - Der Hörer erfährt von Heinrich Niehues-Pröbsting, daß Blumenberg ein "begnadeter Lehrer" war. Daß er ein "fürchterlicher Pädagoge" war, konnte man dem Interview des Sohnes Tobias mit dem WDR entnehmen. - Er war "kein Philosoph der lauten Töne" und hat mit der Legitimität der Neuzeit nach Ansicht der Redaktion (Michael Reitz) "die tiefgreifendste Analyse der Moderne" vorgelegt. (Hier hätte früher die begrenzte terrestrische Reichweite des Bayerischen Rundfunks die Frankfurter geschont.) Benjamin Dober sieht den Menschen als animal symbolicum "auf unbegriffliche Formen angewiesen, auf symbolische Formen. Und die Sendung über "einen der originellsten Denker des 20. Jahrhunderts" endet schließlich mit einer Aufmunterung an die Leser:

"Hans Blumenberg ist ein Denker, der zwar niemals im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand, der aber trotzdem bis heute wirkt, weil er in die Tiefe geht und man diese Tiefe als Leser auch erkunden muß. Das bedeutet Arbeit." Und da der Mensch im allgemeinen und der Blumenberg-Leser im besonderen ein trostbedürftiges Wesen ist, folgt als Epilog: "Aber sie macht Spaß." ;)

https://www.br.de/service/suche/index.h ... lumenberg+




Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 01:25

Einen sonntäglichen festen Sendeplatz für die "katholische Welt" gibt es natürlich nicht nur im Süden des Landes. Der NDR bietet Ähnliches christlichen Frühaufstehern an, allerdings unter dem konfessionsübergreifenden Titel "Glaubenssachen". Und auch in den gestrigen "Glaubenssachen" - man ahnt es schon - ging es um Hans Blumenberg. Allerdings hat die Redaktion in dem Fall einen Volltreffer gelandet. Kein ehemaliger Assistent, keine akademische Stimme kommen zu Wort. Einzig Sibylle Lewitscharoff, die 2011 einen Roman mit dem Titel Blumenberg geschrieben hat, stellt in diesem Feature ("Die Austreibung des Singulars") "ihren" Philosophen vor. In ihrer barocken, prächtigen Prosa, die für die Autorin Lewitscharoff typisch ist, ist es das Beste, was ich seit langem zu Blumenberg gehört habe:

https://www.ndr.de/ndrkultur/epg/Die-Au ... 51070.html

Hier das Manuskript:
glaubenssachen252-1.pdf
(107.18 KiB) 239-mal heruntergeladen




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Mo 13. Jul 2020, 01:38

Auch der ORF bringt heute Abend um 19.05 eine Sendung zu Hans Blumenberg:

19.05 Uhr bei Ö1: "Entlastung vom Absoluten. Zum 100. Geburtstag des Philosophen Hans Blumenberg" von Nikolaus Halmer:

https://oe1.orf.at/programm/20200713/60 ... -Absoluten




Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 02:18

Bei einem Denker, dessen Wirkung in die Kunst hineinragt, ist es nicht verwunderlich, daß es zu seinem Werk auch eine Ausstellung gibt:

"Hans Blumenberg - Denken in Metaphern"
11. Juli - 04. Oktober 2020
LWL-Museum für Kunst und Kultur

https://www.lwl.org/LWL/Kultur/museumku ... -Metaphern

Warum habe ich das Gefühl, daß Ursula Frohne, die erste der drei Frauen vom Kuratorenteam, bei ihrer Präsentation in dem kleinen Videoclip einem Lachanfall nahe ist? :lol:

Auch der Schriftsteller Burkard Spinnen hat sich im WDR zu dieser Ausstellung geäußert:

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr ... r-102.html




Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 02:36

Nun meldet sich auch ein Enkel von Hans Blumenberg zu Wort. Er hat das erste Hörbuch über seinen Großvater produziert. Es handelt sich um den Text von Löwen, eine Sammlung von 32 Miniaturen aus der Feder seines Opas. Daniel Blumenberg hat seinen Großvater nur "ein- oder zweimal" gesehen. (Warum wundert uns das nicht?) - Immerhin weiß er zu berichten:

"Weil selbst die großen, bis zu 300 Personen fassenden Hörsäle oft nicht ausreichten, sollen immer wieder Studenten auf dem Flur der Universität übernachtet haben, um garantiert einen Sitzplatz bei der Vorlesung meines Großvaters zu ergattern."

Na ;)

https://www.google.com/amp/s/www.mittel ... g_21931855




Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 03:48

Ein Film, ein Roman, zwei Biographien, ein Erinnerungsbuch, eine Ausstellung, ein Hörbuch, Radiofeatures, Erstveröffentlichung seiner Dissertation und anderer Schriften aus dem Nachlaß, in Kürze ein Blumenberg-Handbuch und die Feuilletons bestückt mit Besprechungen und Berichten - Gesetzt den nicht völlig unrealistischen Fall, Blumenberg (darin Hans Georg Gadamer, Ernst Jünger oder Fontenelle folgend) hätte seinen heutigen 100. Geburtstag noch in geistiger Frische erlebt: Was hätte er zu all diesen Ehren und Glückwünschen gesagt? -

Goethes Geburtstag am 28. August feierte er; seinen eigenen nicht. - Vermutlich wäre er geschmeichelt gewesen, wegen der Anerkennung. Und vermutlich wäre er zu keinem Empfang gegangen, hätte keine Gratulationen entgegengenommen, hätte keine Interview-Anfragen beantwortet und hätte der Welt den Rücken gekehrt. Die Ehrenbürgerschaft Lübecks hatte er schon zu Lebzeiten ausgeschlagen, aus den bekannten Gründen.

Daß er keine 100 Jahre alt geworden ist, bringt uns um das Vergnügen, noch auf Jahrzehnte mit Lesestoff aus seinem Nachlaß versorgt zu werden und erspart uns den Aufwand, ihn zu bewältigen. - Es ist eine feine, wenn auch unbedeutende Ironie, daß der 100. Geburtstag des hier Bewunderten und Geschmähten fast auf den Tag genau mit dem 3. Geburtstag von "Dialogos" zusammenfällt. Was sich die Zeitläufte dabei wohl gedacht haben!

Und nun? - Am 28. März des kommenden Jahres ist der 25. Todestag Blumenbergs. :roll:




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Friederike
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Mo 13. Jul 2020, 09:42

Nauplios hat geschrieben : Im FAZ-Fragebogen hat Blumenberg mal auf die Frage, was für ihn das Glück sei, geantwortet: "Sagen zu können, was ich sehe". Die Klasse des Unsagbaren ist der direkte Bezug auf Wittgenstein: "Denn alles, was der Fall ist, hat einen eindeutigen Grad der sprachlichen Verfügbarkeit, deren Umfang sich allerdings nicht mit dem deckt, was erfahren werden kann. Sonst stände nicht unmittelbar vor dem dem abschließenden Verbot ["Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."]: Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Es ist die beiläufige Feststellung eines Relikts, das, als nicht unter die Definition der Wirklichkeit fallend, gleichsam heimatlos ist. Diese Exotik teilt es mit dem ˋSinn der Welt´, der außerhalb ihrer liegen muß, und sogar mit der Bestimmung des Mystischen, daß im Gegensatz dazu, wie die Welt ist, darin lokalisiert wird, daß sie ist. [...] Die Grenzwerte von Sagbarkeit und Unsagbarkeit sind noch weiter gespannt als die von definitorischer Bestimmtheit und imaginativer Vorzeichnung. Nicht die Existenz von Korrelaten behaupteter Sprachlosigkeit steht deskriptiv zur Diskussion, sondern die der Geschichte unseres Bewußtseins zugehörige Anstrengung, die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen." (S. 84) -
Ich suche nach einem passenden Wort für mich als Leserin - weder "absolut" noch "relativ"- vielleicht ist "permanent verzögert" nicht schlecht. Natürlich 8-) ist mir später, nach meinem Schreiben, eingefallen, daß Blumenberg im Interview, das ich nun lieber vollständig zitiere, anfangs, Wittgenstein zitierend, auf die Unterscheidung zwischen dem Unsagbaren und dem Unaussprechlichen hinweist. Man darf also Beides nicht ineins setzen, so wie ich es getan hatte. Das macht die Aussage zwar nur noch verworrenener ... bzw. verwirrender, weil man doch meinen möchte, daß "sagen" und "sprechen" dasselbe bedeuten, aber egal, die Unterscheidung dürfte bedeutungsvoll bei Auslegungsversuchen der Blumenberg-Antwort sein, und ich hatte sie übersehen. Ganz sicher ist es nicht das Ende meines Lesens ...




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