Allgemeiner Austausch und Smalltalk zu Blumenberg

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Alethos
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Mo 15. Jun 2020, 22:27

H. Blumenberg hat geschrieben : Ohne weiteres ist klar, dass sich solche Metaphern wie die von Macht und Ohnmacht der Wahrheit nicht verifizieren lassen und dass die in ihnen entschiedene Alternative theoretisch gar nicht entscheidbar ist. Sofern also >Wahrheit< das Ergebnis eines methodisch gesicherten Verfahrens der Bewahrheitung ist bzw. ex definitione zu sein hat, kann die Metaphorik diesem Anspruch nicht genügen, sagt also nicht nur nicht die >strenge Wahrheit<, sondern überhaupt nicht die Wahrheit. Absolute Metaphern >beantworten< jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, dass sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte der vorfinden. Wir müssen uns hier vor Augen halten, dass eine Metaphorologie ja nicht für den Gebrauch von Metaphern oder für den Umgang mit den in ihnen sich kundgebenden Fragen führen kann. Im Gegenteil: als Metaphorologie Betreibende haben wir uns schon der Möglichkeit beraubt, in Metaphern >Antworten< auf jene unbeantwortbaren Fragen zu finden. Die Metapher als Thema einer Metaphorologie in dem uns hier beschäftigenden Sinne ist ein wesentlich historischer Gegenstand, so dass ihr Zeugniswert zur Voraussetzung hat, dass der Aussagende selbst keine Metaphorologie besass, ja nicht einmal besitzen konnte. Unsere Situation ist daher gekennzeichnet durch das positivistische Programm einer entschlossenen Kritik der Sprache in ihrer >Leitfunktion< für unser Denken, wobei ein Ausdruck wie >wahr< im Nu ganz überflüssig wird (Ayer), oder (bzw. und) durch die Überweisung jener einst in Metaphern sich niederschlagenden Leistung an die (...)Kunst, wobei die Insistenz jener Fragen sich als unübergehbar erweist.



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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 05:47

Danke :)




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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 06:21

Hans Blumenberg hat geschrieben : verifizieren
Hans Blumenberg hat geschrieben : (Ayer)
Wikipedia hat geschrieben : Sprache, Wahrheit und Logik, Buch von Alfred Ayer

„Auf eine einfache Formel gebracht würde es besagen, dass ein Satz wissenschaftlich nur dann sinnvoll sei, wenn die durch ihn ausgedrückte Proposition entweder analytisch oder empirisch verifizierbar ist“
Wikipedia hat geschrieben : Die Redundanztheorie der Wahrheit besagt, dass Sätze, in denen das Wort „wahr“ vorkommt, in der Regel redundant sind. Dieser Begriff kann danach ohne Informationsverlust aus der Sprache eliminiert werden; es ist in einem gewissen Sinne überflüssig. Als Hauptvertreter der Redundanztheorie werden gewöhnlich Frank Plumpton Ramsey, Alfred Jules Ayer und Quine genannt. Dieser Ansatz kann gemäß Dummett bis auf Gottlob Frege zurückgeführt werden, der in seinem Werk Über Sinn und Bedeutung 1892 den Grundgedanken der Redundanztheorie formulierte:

„Man kann ja geradezu sagen: ‚Der Gedanke, dass 5 eine Primzahl ist, ist wahr.‘ Wenn man aber genauer zusieht, so bemerkt man, dass damit eigentlich nicht mehr gesagt ist als in dem einfachen Satz ‚5 ist eine Primzahl‘. […] Daraus ist zu entnehmen, dass das Verhältnis des Gedankens zum Wahren doch mit dem des Subjekts zum Prädikate nicht verglichen werden darf.[31]“
In dem Text finden sich in Klammern zwei Stichworte, die ein Licht auf den "negativen Teil" des Absatzes werfen: bestimmte Philosophien, die zurzeit von Blumenberg von Bedeutung waren, scheinen hier der philosophische Gegner zu sein:

"Ohne weiteres ist klar, dass sich solche Metaphern wie die von Macht und Ohnmacht der Wahrheit nicht verifizieren lassen und dass die in ihnen entschiedene Alternative theoretisch gar nicht entscheidbar ist."

"wobei ein Ausdruck wie >wahr< im Nu ganz überflüssig wird (Ayer)"

Hier noch ein weiterer, damit zusammenhängender Hintergrund, der mir sehr wichtig erscheint.
Josef Wetz über Hans Blumenberg hat geschrieben : Hans Blumenberg war ein Schriftgelehrter, der Bücher über Bücher schrieb. Als illusionsloser Aufklärer mit nüchterner Verlustempfindlichkeit nimmt er in der Reihe der nachmetaphysischen Denker der Gegenwart eine herausragende Stellung ein, in der Philosophen mit sehr gegensätzlichen Standpunkten ihren Platz gefunden haben. Nach Graden der Übereinstimmung abgestuft, sei Blumenbergs Position mit drei nachmetaphysischen Tendenzen der Gegenwart in Verbindung gebracht. Weit davon entfernt, Anhänger und Befürworter eines szientistischen Naturalismus oder analytischen Materialismus zu sein, wie er etwa von D.M. Armstrong, Jack Smart und Willard Van Orman Quine vertreten wird, bewegt sich Blumenberg in einer gewissen Nähe zu diesen Standpunkten. Was ihn mit diesen Philosophen verbindet, ist die teils erschrockene, teils klarsichtige Erkenntnis, dass vermutlich mit den Tatsachen und Sachverhalten der Welt alles abgetan ist. [Das ist eine wichtige Stelle, weil hier die Metaphysik angegeben wird, auf welcher der Text aufsitzt.] Denn über alles Trennende hinweg kommen diese Denker darin überein, dass das physikalische All schon alles ist. Zugleich distanziert sich Blumenberg aber nachdrücklich vom reinen szientistischen Naturalismus und analytischen Materialismus. Diese Positionen neigen dazu, sich vollständig der Wissenschaft unterzuordnen; dabei streben sie in ihren wissenschaftstheoretischen Analysen ein Höchstmaß an begrifflicher Klarheit und Exaktheit an. Alle darüber hinaus liegenden Sinn- und Orientierungsfragen werden als irrelevant, sogar als sinnlos abgetan. Hier erübrigt sich der Trost, der über den Tod Gottes hinweghelfen möchte, weil die Trauer darüber fehlt. Was verloren wurde, wird nicht als Verlust bewertet; die Vorgänge, welche die Menschen zu atheistischen Lebensformen veranlassen, werden nicht mehr als verhängnisvoll oder bestürzend erfahren. Im Gegensatz dazu widersetzt sich der Hermeneutiker Blumenberg der szientistischen Einebnung von lebensweltlichen Daseinsbewältigungsproblemen, Orientierungsbedürfnissen und Sinnfragen; er betont sowohl deren Erheblichkeit als auch ihren Eigenwert. Möge der Physikalismus auch immer mehr tragen und weiter vordringen, solche Fragen würden selbst dann noch gestellt, wenn alle wissenschaftlichen gelöst wären.

["Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, dass sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte der vorfinden"]
Wenn man sich nicht klar vor Augen führt, wer hier "die Gegner" sind, dann muss einem der Text über weite Teile natürlich wie ein Schattenboxen vorkommen. Und man sollte sich daher nicht dazu hinreißen lassen, so zu tun, als würden "die Gegner" (bzw die damit verbundene "Gegnerschaft") Blumenbergs überhaupt noch in dieser Art und Weise existieren.
Markus Gabriel, Sinn und Existenz hat geschrieben : Die internationale Debatte um den Neuen Realismus nimmt ihren Ausgangspunkt von der Einsicht, dass die Unterscheidung der Philosophie in analytische und kontinentale (europäische, hermeneutische usw.) Philosophie sachlich längst obsolet ist. Sie dient heute allenfalls zur Zementierung von Gruppenidentitäten ...
[Hervorhebungen jeweils von mir]




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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 07:44

Hier noch ein weiteres Beispiel für den relevanten Diskussions-Zusammenhang.
H. Blumenberg hat geschrieben : durch die Überweisung jener einst in Metaphern sich niederschlagenden Leistung an die (...)Kunst ...
Gabriel, Schlotter, in 'Frege und die kontinentalen Ursprünge der analytischen Philosophie' hat geschrieben : Unter dem Begriff der Färbung fasst Frege subjektive rhetorische und poetische Elemente der Sprache zusammen: "diese Färbungen und Beleuchtungen sind nicht objektiv, sondern jeder Hörer und Leser muss sie sich selbst nach dem Winken des Dichters oder Redners hin zu schaffen". ... Nietzsche spricht von der Bildung entfärbter Begriffe durch Abstraktion und Absehen von deren metaphorischen Ursprung
Wenn man es in dieser Hinsicht betrachtet, dann fällt es einem natürlich leicht, sich auf die Seite von Blumenberg zu schlagen. Denn schließlich sollen Dinge, die von uns von größter Bedeutung sind, so mir nichts dir nichts ins "bloß subjektive" entsorgt werden.




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Friederike
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Di 16. Jun 2020, 11:40

Auf Seite 5 dieses Threads zu lesen, aus dem Beitrag von @Nauplios vom 11. Oktober:
N hat geschrieben : Nicht nur, daß dieser Text überholt ist - nach einem Vierteljahrhundert! - , er ist auch schlecht." (Hans Blumenberg an Robert Wallace, 2. Mai 1985 - DLA Marbach, A. Blumenberg bzw. Nachwort zu Die nackte Wahrheit; S. 189) -
Möglicherweise -in der Möglichkeitsform, weil nur die Chronologie, mit der ich nicht vertraut bin, eine sichere Antwort zuliesse- hatte Blumenberg, als er 25 Jahre nach der Erstveröffentlichung die "Paradigmen" für "überholt" erklärte, Folgendes im Blick:
Jörn hat geschrieben : Wenn man sich nicht klar vor Augen führt, wer hier "die Gegner" sind, dann muss einem der Text über weite Teile natürlich wie ein Schattenboxen vorkommen. Und man sollte sich daher nicht dazu hinreißen lassen, so zu tun, als würden "die Gegner" (bzw die damit verbundene "Gegnerschaft") Blumenbergs überhaupt noch in dieser Art und Weise existieren.




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Di 16. Jun 2020, 12:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 15. Jun 2020, 20:36
Was soll es heißen, die Wahrheit für seine Wirkung offenzuhalten? Ich kann die Wahrheit meiner Gedanken nicht offen halten, weil die Wahrheit meiner Gedanken gar nicht von mir abhängt. Die Wahrheit der Gedanken hängt davon ab, ob sie ihren Gegenstand treffen oder verfehlen.
Auf das etwas, wie ich finde, schrullige Zitat von Haverkamp möchte ich nicht eingehen; ich lese nur Deinen letzten Satz @Jörn und zitiere dazu, exemplarisch, einen einzigen Satz aus dem Aufsatz "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans":
Blumenberg hat geschrieben : Die moderne Kunst ist von dem Zwang zur ständigen Widerlegung ihrer Abhängigkeit von der vorgegebenen Natur nicht freigeworden;
Das ist eine Behauptung über die Heteronomie der Kunst, über die man streiten kann [Behauptung und Heteronomie]. Aber wie soll denn hier der Gegenstand (Sachverhalt) den Gedanken verifizieren? Ich würde in diesem Fall -und das betrifft so gut wie alle Thesen und Behauptungen von Blumenberg- sagen, man kann die Behauptung "plausibel machen".




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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 12:56

Ich kann dir nicht wirklich folgen :-(

Ein Beispiel: Wenn jemand behauptet, eine bestimmte Metapher ließe sich nicht "rückübertragen" also nicht in die "Wortwörtlichkeit" zurückführen, dann ist das wahr, wenn es so ist und falsch, wenn es nicht so ist. Was soll es - an diesem Beispiel betrachtet - heißen, es offenzuhalten?




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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 15:27

Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 12:37
Blumenberg hat geschrieben : Die moderne Kunst ist von dem Zwang zur ständigen Widerlegung ihrer Abhängigkeit von der vorgegebenen Natur nicht freigeworden;
Damit erhebt Blumenberg doch einen Wahrheitsanspruch, nämlich dass es sich mit der modernen Kunst eben so und so verhält. Und der ist wahr, wenn es sich so und so verhält. Und wenn nicht, dann nicht.




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Friederike
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Di 16. Jun 2020, 15:43

@Jörn, ich sagte bzw. schrieb doch ausdrücklich, daß ich Haverkamp außer acht lasse. Für die Wahrheit "offen halten" gehört nun aber zur der Haverkamp'schen Bemerkung über Blumenberg. Ich bezog mich mit meinem Einwand ausschließlich auf Deine Äußerung, die Wahrheit eines Gedankens würde sich daran bemessen, ob sie auf den Gegenstand zuträfe oder nicht.

Aber da Du nun indirekt auf Haverkamp verweist, das Zitat läßt mich sowieso nicht in Ruhe, hier in zweiter Auflage:
Haverkamp hat geschrieben : "Blumenbergs Werk ist darin ganz eigentümlich und allein Derrida verwandt, daß es die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes nicht als eigene Wahrheit propagiert, sondern dessen Wahrheit für seine Wirkung offen hält und weiter zu tragen anhält. Mit der an seinem Fall immer neu aufbrechenden, immer wieder skandalösen Konsequenz, daß sich über Blumenberg nicht in Positionen handeln läßt, sondern nur im Weiterdenken des in sich - der transzendentalen Unfertigkeit der Zeit entsprechend - übergängig Kristallisierten." (S. 57f.) -
Ob das, was im Buch steht, wahr ist oder nicht, das entscheiden die Leser*innen (die Wirkungsgeschichte) immer wieder neu. Das ist der einfachere Teil, in meiner simplen Paraphrasierung. Wo ich abdrehe, das ist die "Verantwortung des abgeschlossenen Werkes nicht als eigene Wahrheit zu propagieren" - das Werk ["es"] ist das Subjekt des Satzes? und das Wort "Verantwortung", ob es sich nun auf die Person oder das Werk bezieht, spielt keine Rolle, ist für mich sinnlos. Blumenberg will gar keine Wahrheit aussagen. So meine Übersetzung der "schrulligen" Formulierung. Blumenberg ist es an der Wahrheit nicht gelegen; dennoch kommt er ja nicht umhin, sich auf irgendetwas festzulegen (das "übergängig Kristallisierte" = die vorläufige Festlegung?) einfach deswegen, weil er bedeutungsvolle und nicht unsinnsvolle Sätze schreibt.




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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 16:41

Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 15:43
Ich bezog mich mit meinem Einwand ausschließlich auf Deine Äußerung, die Wahrheit eines Gedankens würde sich daran bemessen, ob sie auf den Gegenstand zuträfe oder nicht.
Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 12:37
Aber wie soll denn hier der Gegenstand (Sachverhalt) den Gedanken verifizieren?
Aber hier fragst du nicht, ob der Gedanke zutrifft, sondern wie man herausfindet, ob er zutrifft, soweit ich sehe.




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Di 16. Jun 2020, 16:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 15. Jun 2020, 20:36
"Blumenbergs Werk ist darin ganz eigentümlich und allein Derrida verwandt, daß es die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes nicht als eigene Wahrheit propagiert, sondern dessen Wahrheit für seine Wirkung offen hält und weiter zu tragen anhält."

Blumenbergs Werk propagiert nicht die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes als eigene Wahrheit. Was heißt das? Insbesondere was ist "die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes" Vielleicht habe ich den Satz auch grammatikalisch falsch rekonstruiert, auf jeden Fall kann ich ihn nicht verstehen.
Von der Grammatik her ist das Bezugswort zu "Verantwortung" "eigene Wahrheit". Die Verantwortung wird nicht als Wahrheit propagiert. Das lese ich genau so wie Du. Das kann Haverkamp nicht meinen. :roll: Wir müssen aber einen Sinn reinkriegen. :lol:




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Di 16. Jun 2020, 16:54

Die Verantwortung dafür, die Wahrheit gesagt zu haben, wird nicht übernommen. So ergäbe es einen Sinn.




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Di 16. Jun 2020, 17:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 15:27
Damit erhebt Blumenberg doch einen Wahrheitsanspruch, nämlich dass es sich mit der modernen Kunst eben so und so verhält. Und der ist wahr, wenn es sich so und so verhält. Und wenn nicht, dann nicht.
Wenn Du oder wenn man den Aufsatz "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans" liest, dann beginnt nahezu jeder neue Abschnitt mit einem Konditional "wenn diese Annahme zutrifft", "falls es sich so und so verhält", "unter dieser Voraussetzung", "geht man davon aus" (ich habe diese Beispiele eben frei erfunden) usw. usf., und all diese Konditionale bedeuten, daß es Blumenberg um die Herstellung eines in sich stimmigen Zusammenhanges geht (Wirklichkeitsbegriff der Konsistenz, das ist allerdings nicht ernst gemeint).




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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 17:53

Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 16:54
Die Verantwortung dafür, die Wahrheit gesagt zu haben, wird nicht übernommen. So ergäbe es einen Sinn.
Das entspricht ja auch der üblichen Strategie, auf Einwände nicht zu antworten :) ich finde allerdings ein Autor sollte die Verantwortung für seinen Text durchaus übernehmen. Auch wenn die Thesen noch provisorisch und unfertig sind.

Die Wahrheit garantieren kann man ohnehin nur in den wenigsten Fällen, aber die Verantwortung dafür übernehmen sollte man immer.




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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 18:11

Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 17:41
die Herstellung eines in sich stimmigen Zusammenhanges
In sich stimmig können jedoch auch völlige Wahnvorstellungen sein. Das ist einer der Haupteinwände gegen das Kohärenzprinzip.




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Di 16. Jun 2020, 18:44

Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 17:41
Wenn Du oder wenn man den Aufsatz "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans" liest, dann beginnt nahezu jeder neue Abschnitt mit einem Konditional "wenn diese Annahme zutrifft"
Ich habe da mal kurz durchgescrollt und ein paar Absätze raus kopiert ... mag sein dass es solche Formulierung irgendwo gibt, aber ganz bestimmt nicht bei nahezu jedem neuen Abschnitt.
Ganz unzweifelhaft ist die Theorie der Nachahmung als die beherrschende Konzeption in unserer ästhetischen Tradition fundiert in dem Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz .

In der Geschichte unserer ästhetischen Theorie ist diese Disposition, das ästhetische Gebilde aus seinem Verhältnis zu ‚Wirklichkeit‘ zu legitimieren, niemals ernstlich verlassen worden.

Die platonischen Ideen fixieren einen Kanon dessen, was der Abbildlichkeit zugleich fordernd und lizenzierend vorgegeben ist.

Ein zweiter Wirklichkeitsbegriff, der für das Mittelalter und die als sein Resultat ansetzende Neuzeit fundierend ist, läßt sich bezeichnen als die garantierte Realität.




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Di 16. Jun 2020, 18:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 17:53
Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 16:54
Die Verantwortung dafür, die Wahrheit gesagt zu haben, wird nicht übernommen. So ergäbe es einen Sinn.
Das entspricht ja auch der üblichen Strategie, auf Einwände nicht zu antworten :) [...]
Oja, und der Einsatz der obigen Strategie ist sicher auch davon abhängig, welch eine Strategie hinter den Einwänden man am Werke zu sehen vermeint.




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Alethos
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Di 16. Jun 2020, 21:03

Was sagt denn Haverkamp genau? Er behauptet ja nicht, dass Blumenberg die Verantwortung für die Wahrheit seines Werkes nicht übernähme, es ihm sozusagen gleichgültig gewesen ist, ob es wahr oder falsch ist, was er sagte. Die Formulierung bei Haverkamp lautet, dass das Werk Blumenbergs die "Verantwortung des nicht abgeschlossenen Werks nicht als eigene Wahrheit propagiert".

Was bedeutet das nun genau - die Verantwortung des nicht abgeschlossenen Werks (Akkusativobjekt) nicht als Wahrheit zu propagieren? Es heisst doch, dass dem Werk eine Verantwortung zugesprochen wird, eine Verantwortung als nicht abgeschlossenes Werk. Seine Verantwortung könnte darin liegen, dass es beim Leser oder der Leserin viele Fragen offen lässt. Es beantwortet viele Fragen eben nicht, sondern wirft sie lediglich auf. Es könnte auch heissen, dass es keine letztgültigen Aussagen darüber macht, was Wahrheit ist oder was sie nicht ist, was Wirklichkeit ist oder das Gute. Seine Offenheit hat Programm und ist dem historiographischen Charakter im
Duktus einer offenen Erzählung geschuldet. Wie wollte es denn (das Werk) hier die Wahrheit seiner Verantwortung der Offenheit resp. Nichtangeschlossenheit propagieren? Welche Verantwortung kann es denn überhaupt haben und welche Verantwortung könnte Blumenberg übernehmen für die Nichtangeschlossenheit?

Man könnte auch, Haverkamp interpretierend, meinen, er wolle sagen, dass es Blumenberg egal gewesen sei, dass er ein nicht abgeschlossenes Werk verfasste. Blumenberg hätte sich um die Wahrheit der Verantwortung seines Werks foutiert. Das, wenn es denn stimmt, was ich unterstelle, schliesst Haverkamp daraus, so vermute ich, dass es im Werk Blumenbergs gerade nicht darum ging, Wahrheit im terminologischen, definitorischen Sinn zu finden, sondern die Vieldeutigkeit der Begriffe in der geschichtlichen Performanz (also in ihrem
Vorkommen in der jeweiligen Zeit) zu beleuchten. Das Werk handelt von der Nichtabgeschlossenheit, d.h. von der pragmatischen, sich in wechselnden Begriffsbedeutungen artikulierenden (und damit offenen) Wahrheit. Die Wahrheit der Verantwortung kann das Werk für seine Nichabgeschlossenheit so gesehen gar nicht übernehmen, weil diese Offenheit der Sache selbst, nämlich der historischen Sprach- und Denkwirklichkeit geschuldet ist, die das Werk zum Gegenstand hat. Das Werk kann gar nichts dafür, lapidar gesagt, dass es nichtabgeschlossen ist, es kann seine Verantwortung also auch nicht propagieren.



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Jörn Budesheim
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Di 16. Jun 2020, 21:26

Haverkamp hat geschrieben : "Blumenbergs Werk ist darin ganz eigentümlich [...] daß es die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes nicht als eigene Wahrheit propagiert, sondern dessen Wahrheit für seine Wirkung offen hält und weiter zu tragen anhält."
Alethos hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 21:03
Was sagt denn Haverkamp genau? Er behauptet ja nicht, dass Blumenberg die Verantwortung für die Wahrheit seines Werkes nicht übernähme, es ihm sozusagen gleichgültig gewesen ist, ob es wahr oder falsch ist, was er sagte. Die Formulierung bei Haverkamp lautet, dass das Werk Blumenbergs die "Verantwortung des nicht abgeschlossenen Werks nicht als eigene Wahrheit propagiert".

Was bedeutet das nun genau - die Verantwortung des nicht abgeschlossenen Werks (Akkusativobjekt) nicht als Wahrheit zu propagieren? Es heisst doch, dass dem Werk eine Verantwortung zugesprochen wird, eine Verantwortung als nicht abgeschlossenes Werk. Seine Verantwortung könnte darin liegen, dass es beim Leser oder der Leserin viele Fragen offen lässt. Es beantwortet viele Fragen eben nicht, sondern wirft sie lediglich auf. Es könnte auch heissen, dass es keine letztgültigen Aussagen darüber macht, was Wahrheit ist oder was sie nicht ist, was Wirklichkeit ist oder das Gute.
Friederike hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 16:54
Die Verantwortung dafür, die Wahrheit gesagt zu haben, wird nicht übernommen. So ergäbe es einen Sinn.
Friederike lässt das Subjekt einfach weg :)

Eine Verantwortung hat jemand für etwas. Mir scheint es relativ sicher zu sein, dass das grammatikalisch das abgeschlossene Werk die Verantwortung hat. Aber wofür?

Haferkamp spricht (wenn man einen logisch syntaktischen Umbau vornimmt) von der "Wahrheit des Werkes". Was könnte das heißen? (Uns fehlt schließlich der Kontext.) In der Kunst Theorie spricht man gelegentlich von der "Wahrheit des Werkes". Und zur Wahrheit des Werkes kann seine Rezeptionsgeschichte gehören, je nachdem wie man den Begriff von der "Wahrheit des Werkes interpretieren möchte. Das würde zusammengehen mit den Begriffen der Offenheit und es Weitertragens.

Allerdings darf man diese Offenheit nicht als Beliebigkeit missverstehen. In der Regel heißt das, dass es eine ganze Reihe von wahren Interpretationen gibt, die vom Werk gedeckt sind.

Nimmt man es so, hat es allerdings nicht den geringsten Sinn, auf die Wirkungsgeschichte zu warten. Denn die existiert ja in ihrem Vollzug, es gibt dort schlechterdings nichts, worauf man warten könnte.




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Alethos
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Di 16. Jun 2020, 22:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 16. Jun 2020, 21:26

Haferkamp spricht (wenn man einen logisch syntaktischen Umbau vornimmt) von der "Wahrheit des Werkes".
Diesen Umbau kann ich nicht nachvollziehen, tut mir leid. Ich will Haverkamp weder verteidigen noch anklagen, aber er spricht eindeutig von der "Wahrheit der Verantwortung des nicht abgeschlossenen Werks" und nicht von der "Wahrheit des nicht abgeschlossenen Werks".

Gegenstand der Wahrheit ist die Verantwortung, nicht das Werk. Und die Frage ist schon, welche Verantwortung ein Werk mit Bezug auf seine Abgeschlossenheit haben kann. Je mehr ich darüber nachdenke, desto absurder erscheint mit dieser Satz. Was soll die Wahrheit der Verantwortung eines nicht abgeschlossenen Werks resp. die Propagierung dieser Wahrheit sein?

Ein Philosoph, der ein Werk verfasst, hat eine Verantwortung, die Wahrheit zu sagen. Er kann zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er die Unwahrheit sagt, z.B. wird er sanktioniert, diskreditiert etc.
Aber ein Werk kann doch nicht propagieren, dass seine Verantwortung als nicht abgeschlossenes Werk wahr sei? Das ist entweder ein grammatischer Fehler oder aber ein meine Intelligenz übersteigende Formulierung (letzteres ist nicht unwahrscheinlich)



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