"Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans"

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Nauplios
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Eine Welt - nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans
(H. Blumenberg; Ästhetische und metaphorologische Schriften; S. 61)


Hans Blumenberg hat sich bei der Verwendung seiner Darstellungsmittel nicht auf eine Form festgelegt. Bekannt, das heißt, nicht auch schon gelesen, sind seine großen Werke wie Höhlenausgänge oder Arbeit am Mythos. Doch Blumenberg war auch ein Meister der kleinen Form. Für die FAZ und die Neue Zürcher Zeitung schrieb er Glossen und Artikel, für die Düsseldorfer Nachrichten Anfang der 50er Jahre Feuilletons unter dem Pseudonym "Axel Colly". Daneben gibt es eine Reihe von gelehrten Abhandlungen und Aufsätzen, die u.a. in den Ästhetischen und metaphorologischen Schriften gesammelt wurden. - Ein kurzer Aufsatz trägt den Titel Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans (1964). -

Ihm liegt ein Vortrag zugrunde, den Blumenberg bereits ein Jahr zuvor gehalten hatte. Im Juni 1963 fand in Gießen die erste Tagung der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" statt. Ihr Thema war "Nachahmung und Illusion". Die Gründer von "Poetik und Hermeneutik" waren neben Blumenberg der Romanist Hans Robert Jauß und der Germanist Clemens Heselhaus; wenig später kam der Anglist Wolfgang Iser hinzu. - Der Anfangsbesetzung bestand also aus drei Literaturwissenschaftlern und einem Philosophen. Blumenberg hatte bereits in den 50er Jahren in der Zeitschrift Hochland einiges zu Kafka, Evelyn Waugh, Hemingway und Faulkner veröffentlicht und einer seiner Schwerpunkte lag auf der Theorie der Literatur.

Der Text des Aufsatzes ist hier einzusehen:

http://gams.uni-graz.at/archive/get/o:r ... ef:TEI/get




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Nauplios
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Nietzsche ist der erste namentlich genannte Philosoph in dem kleinen Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. Bereits im zweiten Satz fällt sein Name. Das ist kein Zufall, war es doch Nietzsche, der die von Goethe und Schiller festgestellte Heiterkeit der Griechen korrigierte zu einem tragischen Lebensgefühl. Der hellen Götterwelt stellte Nietzsche die Düsternis des menschlichen Daseins entgegen und verifizierte beides an den Göttern Apollon und Dionysos. - Rausch, Verzückung und Ekstase stehen für das Spiel des dionysischen Künstlertums. In der Geburt der Tragödie ist die Kunst die "eigentlich metaphysische Thätigkeit dieses Lebens". - Nietzsche arbeitet an der Rehabilitierung der Kunst, die seit dem Verdikt Platons, daß die Dichter lügen, im Verdacht der Unwahrheit stand. Am inszenierten Drama "reißt die Differenz von Wirklichkeit und Kunst auf".

Mimesis, Nachahmung der Natur - das ist die Aufgabe der Dichtung und der Kunst in der Antike. Bei Platon bezieht sich diese Mimesis jedoch nicht auf die Ideen, sondern auf die Erscheinungen; und damit kommen Dichtung und Kunst in Verruf. Nietzsche kehrt dann dieses Verhältnis um: "Wahrhaftigkeit der Kunst" / "lügenhafte Natur".

"Fragen wir nun, wie sich die Bestreitung des antiken Axioms von der Lügenhaftigkeit der Dichtung denken läßt. Oder: was kann es heißen, in Antithese von den Dichtern zu behaupten, daß sie ˋdie Wahrheit sagen´? Zweierlei, wie ich meine: erstens, indem der Dichtung ein Bezug zu einer vorgegebenen Wirklichkeit - welcher Art auch immer - zugesprochen wird; zweitens, indem für die Dichtung die Erzeugung einer eigenen Wirklichkeit in Anspruch genommen wird." (Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans; S. 48) -




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Fr 5. Jun 2020, 18:19

Die Kunst hat ein Verhältnis zur Wirklichkeit. Was banal klingt, ist durchaus nicht ganz selbstverständlich. Die Antithese von Wahrheit und Lüge hätte "rein logisch" ja auch zur Disposition stehen können. Aber: "In der Geschichte unserer ästhetischen Theorie ist diese Disposition, das ästhetische Gebilde aus seinem Verhältnis zu ˋWirklichkeit´ zu legitimieren, niemals ernstlich verlassen worden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der traditionellen Ästhetik erfordert also eine Klärung, in welchem Sinne hier jeweils von ˋWirklichkeit´ gesprochen wird. Diese Klärung ist deshalb schwierig, weil wir gerade im Umgang mit dem, was uns als wirklich gilt, zumeist gar nicht bis zur prädikativen Stufe der ausdrücklichen Feststellung des Wirklichkeitscharakters vordringen." (S. 48) -

Das Wirkliche ist das, was sich von selbst versteht. Es bedarf keiner expliziten Ausformulierung. Es ist im Nachhinein erschließbar. Blumenberg spricht auch von einer "präformierten Implikation", d.h. es wird - koordiniert zu einer Epoche - als wirklich nicht durch eine gesonderte Feststellung, sondern durch die Abwesenheit seiner Ausdrücklichkeit. "Im Grunde geht es dabei um das, was einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint und was auszusprechen ihr nicht der Mühe wert wird, was also gerade deshalb die Stufe der überlegten Formulierung kaum je erreicht." (S. 49) -

Mir scheint dies eine aus der Schule der Phänomenologie entsprungene Denkfigur zu sein. Etwas wird sichtbar, wird "freigelegt", was bis dahin die Schwelle der Aufmerksamkeit nicht überschritten hatte. Was einer Epoche als wirklich gilt, bleibt ihr selbst verborgen bis zu dem Punkt, wo ein Realitätsbezug bestritten wird und das Theorem von den lügenden Dichtern ist so ein Fall, in dem der Wirklichkeitsbegriff gleichsam von sich reden macht.




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"Eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der traditionellen Ästhetik erfordert also eine Klärung, in welchem Sinne hier jeweils von ˋWirklichkeit´ gesprochen wird." (S. 48) - Ich habe das "jeweils" mal hervorgehoben, weil es ja vor allem eines zur Folge hat: von der Wirklichkeit wird "jeweils" in einem anderen Sinn gesprochen. "Jeweils" bezieht sich dabei auf unterschiedliche Epochen. -




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Sa 6. Jun 2020, 16:10

Wirkliche Realität ist immer unrealistisch.
(Kafka)


Blumenberg ordnet den Wirklichkeitsbegriffen geschichtlichen Epochen zu. "Die erste historische Gestalt eines Wirklichkeitsbegriffes, von der ich sprechen möchte, läßt sich vielleicht bezeichnen als die Realität der momentanen Evidenz. Er ist nicht behauptet, aber vorausgesetzt, wenn z.B. Plato ohne Zögern davon ausgehen kann, daß der menschliche Geist beim Anblick der Ideen sofort und ohne Zweifel erfährt, daß er hier die letztgültige und unüberschreitbare Wirklichkeit vor sich habe, und zugleich ohne weiteres zu erkennen vermag, daß die Sphäre des empirisch-sinnlich Gegebenen eine solche Wirklichkeit nicht war und nicht sein kann. [...] Der antike Wirklichkeitsbegriff, wie er Platos Ideenlehre die Möglichkeit bietet, ohne mit ihr identisch zu sein, setzt voraus, daß das Wirkliche sich als solches von sich selbst her präsentiert und im Augenblick der Präsenz in seiner Überzeugungskraft unwidersprechlich da ist. [...] Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz ist eben ein solcher, der augenblickliches Erkennen und Anerkennen von letztgültiger Wirklichkeit einschließt und gerade an dieser Implikation identifizierbar wird." (Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans; S. 49f.) -

"Augenblickliches Erkennen" - in diesem Augenblick steckt nicht nur der zeitliche Bezug des Sofort, sondern die für die Griechen charakteristische Vorstellung, daß das Sehen eine Präferenz hat gegenüber anderen Sinnen, wenn es um die Erfassung des Wirklichen geht. Im horan (s. Fußnote 3) ist es vor allem das "ruhende Sehen und das Sehen des ruhenden Gegebenen", welches für die momentane Evidenz den Vorzug hat. "Im Jetzt ist das Sehen ohne jede genesis ein Ganzes. Das hat seine unmittelbare Konsequenz im Begriff des Schönen als gleichsam einer Spezifität der momentanen Evidenz jeder aisthesis." (Blumenberg bezieht sich dabei auf Aristoteles, Nikomachische Ethik; 1174a/b.) -

Ich verstehe diese Stelle so, daß im Falle des Wirklichkeitsbegriffs der momentanen Evidenz - wie überhaupt beim Wirklichkeitsbegriff - an ein implikatives Wirklichkeitsverständnis (s.o.) gedacht werden muß, d.h. daß den Konstrukteur der Hierarchisierung von letztgültiger und vorletztgültiger, von unüberschreitbarer und überschreitbarer Wirklichkeit ein Verständnis von Wirklichkeit geleitet hat, welches grundsätzlich erst als terminus a quo jenseits der Epochenschwelle zur Disposition steht und nicht bereits als terminus ad quem diesseits. Es bietet eben nur die "Möglichkeit" der Ideenlehre, "ohne mit ihr identisch zu sein".

Ganz anders Kurt Flasch:

"Ich bedauere, Blumenberg schon gleich zu Anfang seiner schönen Abhandlung ins Wort fallen zu müssen, aber Platon präsentiert selbst in deren schlichtester Fassung die Ideen weder alsˋsofort´ erfaßbar noch alsˋunübersteigbar´. Schon der Platon des Staats warnt: Niemand solle sich einbilden, er erkenne die Idee, ohne sich bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr um diese Erkenntnis bemüht zu haben. Blumenberg beschreibt die Ideen Platons, als stünden sie wie Statuen in seinem Vorgarten herum. [...] Platons Ideen sind auch nicht alsˋunübersteigbar´ konzipiert; das Denken soll gerade lernen, sie zu überschreiten. [...] Platons Höhle wäre abgeschafft, wenn gälte, daßˋdas Wirkliche sich als solches von sich selbst her präsentiert und im Augenblick der Präsenz in seiner Überzeugungskraft unwidersprechlich da ist´". (Kurt Flasch; Hans Blumenberg; Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966; S. 444f.) -

Für Platons Höhle gilt, daß ihre Bewohner Abbilder von Urbildern sehen. Platon geht es um die Defizienz dieser Abkünftigkeit. Blumenberg hingegen geht es um den Wirklichkeitsbegriff einer Epoche. Hinzu kommt: die gefesselten Höhlenbewohner sind gar nicht fähig den Blick (!) zu wenden. Was sie sehen, halten sie für das Wirkliche. Warum sonst sollten sie annehmen, der von draußen zurückgekehrte Mitbewohner habe sich die Augen verdorben? -

Vgl. dazu auch Wirklichkeitsbegriff und Potential des Mythos, wo es explizit heißt: "Damit behaupte ich nicht, daß Plato den Wirklichkeitsbegriff der <momentanen Evidenz> im Zusammenhang der Ideenlehre gefunden oder auch nur zuerst definiert hätte." (Hans Blumenberg; Ästhetische und metaphorologische Schriften; S. 363). -




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So 7. Jun 2020, 15:16

Einen zweiten Wirklichkeitsbegriff nennt Blumenberg den der "garantierten Realität". Er bezieht sich damit auf das Mittelalter und - Descartes. Die Wirklichkeit verliert an unmittelbarer Erkennbarkeit; es braucht eine "dritte Instanz". Nur Gott erschaut die Dinge "unmittelbar in ihrem Wesen", der Mensch hingegen kann die Dinge nur "symbolisch repräsentieren".

"Das späte Mittelalter hat die Vorstellung von der Erkenntnis durch Ähnlichkeit und Abbildung vor allem deshalb aufgeben müssen, weil sie ihm den menschlichen Geist zu nahe an den göttlichen heranzurücken schien. Der neue Erkenntnisbegriff dagegen trennt den die Dinge unmittelbar und in ihrem Wesen erschauenden göttlichen Geist und den sie nur symbolisch repräsentierenden menschlichen Geist radikal, indem der menschliche Geist seine rezeptive Offenheit gegenüber den Dingen verliert und zu einem schöpferischen Prinzip seines eigenen symbolischen Instrumentariums wird. Die verschärfte Transzendenz des göttlichen Umgangs mit den Dingen erzwingt die Immanenz des neuen Begriffs menschlicher Bewältigung der Dinge. Die Entsprechung der Erkenntnis zu ihren Gegenständen ist nicht mehr material, sondern funktional. Die immanente Konsistenz des Zeichensystems der Begriffe bleibt die einzige, aber auch die zureichendeˋAdäquation´ zu der gegebenen Wirklichkeit. Der Begriff des Bildes ist herausgenommen aus der bis dahin unlösbaren Verklammerung von Urbild und Abbild. Wahrheit im strengen Sinne von adaequatio bleibt nur noch möglich für das, was der Mensch selbst geschaffen hat und was ihm dadurch vollkommen und ohne symbolische Vermittlung präsent sein kann: dazu gehören die Strukturgesetze seines symbolischen Erkenntnisinstruments selbst, die in der Logik erfaßt werden, die mathematischen Gegenstände, die Sprache und schließlich und nicht zuletzt die Kunst. Nicht mehr zwischen dem darstellenden Kunstwerk und der Natur kann also jetzt ein Wahrheitsbezug absoluten Ranges gesehen werden, sondern zwischen dem verstehenden, mit Kunst umgehenden Subjekt und dem künstlerischen Gebilde, das es als ein von ihm wenigstens der Möglichkeit nach hervorgebrachtes Stück Wirklichkeit ansieht. Nicht mehr im Verhältnis zur Natur als einer ihm entfremdeten Schöpfung, sondern in seinen Kulturwerken konkurriert der Mensch mit der Unmittelbarkeit, in der Gott mit seinen Werken als Urheber und Betrachter umzugehen vermag. Die nie zuvor gekannte metaphysische Dignität des Kunstwerkes hat in dieser, Einschränkung und Intensivierung zugleich bedeutenden, Wandlung und Spaltung des Wahrheitsbegriffes ihr Fundament." (Hans Blumenberg; Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans; S. 63f.) -

Das Kunstwerk verläßt damit die Funktion, die durch den göttlichen Willen geschaffene Schöpfung zu idealisieren; es wird seinerseits zu einer Schöpfung. Der mittelalterliche Wirklichkeitsbegriff der "garantierten Realität" verändert sich erneut, indem der Künstler nun nicht mehr die vorgefundene Welt imitiert, sondern gleichsam mit ihr konkurriert. Es bildet sich eine dritte Art von Wirklichkeitsauffassung aus: "Realisierung eines in sich stimmigen Kontexts". Der verborgene Gott (s. den deus absconditus des spätmittelalterlichen Nominalismus) ist nicht länger die "dritte Instanz" als absoluter Zeuge für die Wirklichkeit.

"Die Konsequenzen dieser neuen Formulierung der geistigen Leistung des Menschen sind weitreichend. Wirklichkeit kann nicht mehr eine den gegebenen Dingen gleichsam anhaftende Qualität sein, sondern der Inbegriff des einstimmigen Sichdurchhaltens einer Syntax von Elementen. Wirklichkeit stellt sich immer schon und immer nur als eine Art von Text dar, der dadurch als solcher konstitutiert wird, daß er bestimmten Regeln der inneren Konsistenz gehorcht. Wirklichkeit ist für die Neuzeit ein Kontext; und ein so wesentliches geistesgeschichtliches Phänomen, wie die Kritik der theologischen Vorstellung von den Wundern als Bezeugung des Göttlichen, steht ganz unter der Dringlichkeit, diesen Wirklichkeitsbegriff durchzuhalten." (S. 64) -
Zuletzt geändert von Nauplios am So 7. Jun 2020, 15:59, insgesamt 1-mal geändert.




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So 7. Jun 2020, 15:58

Blumenberg führt noch einen vierten Wirklichkeitsbegriff ein: "Das dem Subjekt nicht Gefügige, als das, was Widerstand leistet". -

Grob skizziert finden sich in Blumenbergs Aufsatz damit vier Wirklichkeitsbegriffe:

- Realität der momentanen Evidenz

- Garantierte Realität

- Realisierung des in sich einstimmigen Kontextes

- Das dem Subjekt nicht Gefügige, als das, was Widerstand leistet

Dabei ist der Wirklichkeitsbegriff die "versteckteste Implikation einer Epoche", Kurt Flasch nennt sie ihren "verborgenen schöpferischen Kern, der erst expliziert werden kann, wenn die Epoche vorbei ist." (Kurt Flasch; Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland; S. 449)

"Gewöhnlich - also außerhalb theoretisch hochentwickelter philosophischer Systeme, dieˋWirklichkeit´ als durch Denken konstituiert betrachten - geht man davon aus, Wirklichkeitsbegriff undˋWirklichkeit´ seien nicht dasselbe. Dann markiert der Wirklichkeitsbegriff den Gesichtspunkt der Wirklichkeit, der sie für jemanden oder eine Gruppe als solche hervorhebt und bestätigt. Er benennt den Zugang zur oder das Kriterium für Wirklichkeit. Künstler werden je einen eigenen Wirklichkeitsbegriff haben, wie man von Don Quijote auch sagen kann, er lebe in seiner eigenen Welt. [...] Husserls Konzept von Wirklichkeit und Wirklichkeitsbegriff darzustellen, würde den Rahmen dieser Studie sprengen. Denn wenn der Wirklichkeitsbegriff eingeführt wird, um ein Wirkliches als wirklich zu stabilisieren und zu bestätigen, kann es nicht dabei bleiben, daß sie (Wirklichkeit und Wirklichkeitsbegriff) verschieden sind. Gegen die realistische Auffassung von der Wirklichkeit als einer in sich stehenden Realität gibt es zu viele Einwendungen. Blumenberg geht in der Abhandlung von 1963 auf diese Hintergrundfragen nicht ein; er zeigt kein Interesse, Überlegungen Husserls über Intentionalität fortzuführen; ihn interessieren allein der dritte und vierte seiner Wirklichkeitsbegriffe, die er braucht, um zur Theorie des Romans als der charakteristisch modernen Erzählkunst zu kommen." (Kurt Flasch; Hans Blumenberg; Philosoph in Deutschland; S. 449f) -




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So 7. Jun 2020, 16:09

Eva Geulen, die dem Vorstand der Blumenberg-Gesellschaft angehört, hat unter besonderer Bezugnahme auf den Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans einen kurzen Aufsatz ins Netz gestellt: REALISMUS REVISITED:

https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/201 ... va-geulen/




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So 7. Jun 2020, 16:47

"Daß mehr als eine Welt sei, war eine Formel, die seit Fontenelle die Aufklärung erregte. [...] Als Kant durch seinen frühen Geniestreich einerˋNaturgeschichte des Himmels´ die Einheit des Universums wiederherstellte, gab er auch die vermittelnde Formel einer Welt von Welten.

Daß wir in mehr als einer Welt leben, ist die Formel für Entdeckungen, die die philosophische Erregung dieses Jahrhunderts ausmachen." (Hans Blumenberg; Wirklichkeiten in denen wir leben; S. 3) -

Wirklichkeit-en

"Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, selektiv und vor allem metaphorisch." (Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik; in: Ästhetische und metaphorologische Schriften; S. 415) -




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So 7. Jun 2020, 17:34

Zwischendurch: wenn hier von der "Düsternis des menschlichen Daseins" (Nietzsche) die Rede ist, von den "Höhlenbewohnern" im platonischen Gleichnis, vom "menschlichen Geist", von der "menschlichen Bewältigung der Dinge", vom "menschlichen Wirklichkeitsbezug" ... dann ist vor allem ja von einem die Rede: vom Menschen!

Der Verlust "des Menschen", der ja vor kurzem noch beklagt wurde - hier wird der verlustig Gegangene wiedergefunden, zumindest sind wir ihm auf der Spur. ;)




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So 7. Jun 2020, 17:51

"Wenn der Gedanke das eine, die Wirklichkeit aber das andere sagt, muß doch der Gedanke falsch gewesen sein. Wie kann das ausgerechnet Ihnen mit Ihrer humanistischen Ausbildung nicht einsichtig sein?"
(Reepschäger Olof Roselius in: 1793 von Niklas Natt och Dag; S. 23f.)




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Jörn Budesheim
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So 7. Jun 2020, 20:34

Nauplios hat geschrieben :
So 7. Jun 2020, 17:51
"Wenn der Gedanke das eine, die Wirklichkeit aber das andere sagt, muß doch der Gedanke falsch gewesen sein. Wie kann das ausgerechnet Ihnen mit Ihrer humanistischen Ausbildung nicht einsichtig sein?"
(Reepschäger Olof Roselius in: 1793 von Niklas Natt och Dag; S. 23f.)
Nehmen wir ein Beispiel: wenn der Gedanke das eine sagt, nämlich das alle Menschen gleiche Rechte haben sollten. Die Wirklichkeit aber das andere sagt, dass es nicht so ist. Dann sagt einem die humanistische Bildung doch, dass der Gedanke im Recht ist und die Wirklichkeit falsch liegt.




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Nauplios
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So 7. Jun 2020, 22:35

Nehmen wir das Beispiel aus 1793: Wenn der Gedanke Cecil Winges das eine sagt, daß er seine Frau verlassen soll, die Wirklichkeit aber das andere sagt, das seine Frau schwanger ist und er sie immer noch liebt, dann sagt einem die humanistische Bildung doch, daß der Gedanke falsch ist und die Wirklichkeit richtig liegt. -

1793 ist ein Kriminalroman. Wie die Handlung so sind auch die Dialoge fiktiv. Wir können das, was Olof Roselius seinem Mitbewohner Cecil Winge beim Abendessen an Ratschlägen und Lebensweisheiten hinsichtlich einer Ehekrise zuteil werden läßt, nicht haftbar machen als "Aussage", der es an logischer Stringenz mangelt. - Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und stellt fest, daß er zu einem "ungeheuren Ungeziefer" verwandelt wurde.




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Jörn Budesheim
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Di 9. Jun 2020, 06:52

Kafka, die Verwandlung hat geschrieben : Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
Es ist Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte her, dass ich den Text gelesen habe. Gestern Abend habe ich ihn noch mal gelesen. Es ist unglaublich, was Kafka hier auf wenigen Seiten gelingt.

Der Anfang ist sicherlich einer der berühmtesten und beeindruckendsten Anfänge der Literaturgeschichte. Da Blumenberg in seinem Aufsatz praktisch völlig auf Beipiele verzichtet, könnte man das, worum es geht, ja mal an einem Beispiel durchspielen.

Der Beginn, wie auch der übrige Teil des Textes, besteht aus Sätzen, die die logische Form von Beschreibung haben. Samsa wacht auf, er ist in einen Käfer verwandelt, er liegt auf dem Rücken, die Decke droht herunter zu rutschen, die Beine sind dünn, er hat verschlafen, der Zug ist abgefahren, der Prokurist kommt ...

Würde man den Text in eine solche Kurzform bringen, würde er natürlich nahezu alles verlieren. Das ändert aber nichts daran, dass die Sätze durchgängig Beschreibungen sind. Denn etwas, was möglicherweise nicht nur eine Beschreibung ist, sondern mehr ... ist immerhin eine Beschreibung. Weiter: Etwas kann keine Beschreibung sein, ohne unter die Gesetze der Logik zu fallen. Der Text ist schließlich keine Höhensonne, die uns einfach kausal anstrahlt. Wir selbst müssen kontextorientiert eine Aufführung hinlegen. Und ohne Prädikation, Logik und ein Verständnis für Wahrheit könnten wir das nicht. Nur weil wir uns darauf verstehen, eröffnet sich die Wirklichkeit, die dieser Text ist, für uns überhaupt erst. Nur deswegen können wir z.b. auch die Brüche in dem Text erspüren, die es ohne all das gar nicht gäbe. Denn ohne Logik gäbe es natürlich auch keine Verstöße gegen die Logik. Nichts könnte uns dann auffallen!




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Di 9. Jun 2020, 12:25

Warum lügen die Dichter? - Platon hat damit natürlich keine Charakterschwäche der Dichter im Sinn. Dichtung ist Abbildung, aber sie ist nicht Abbild der Idee, also des Urbilds, sondern Nachbildung eines Abbilds. - "Das Kunstwerk ist als Nachahmung zweiter Stufe bestimmt. Wenn also das Abbild des Abbildes ganz anders bewertet werden muß als das Abbild des Urbildes, so hängt auch das mit dem Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz zusammen: in der unübersteigbaren Evidenz des Urbildes ist Wirklichkeit als Verbindlichkeit zu erfahren, und das Abbild erster Stufe - also das Abbild des Urbildes - ist legitimiert dadurch, daß es sein soll, nicht nur dadurch, was es sein soll (eine Bestimmung, die nur dem Urbilde zukommt). [...] Das Abbild erster Stufe wird hier also von dem geleistet, der handwerklich den Tisch oder das Bett herstellt. Der Maler aber, der solche Dinge seinerseits darstellt, hält sich an das handwerklich schon produzierte Zeug, bildet also das Abbild nochmals ab." (Hans Blumenberg; Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans; S. 55f.) -

Es ist also nicht die Nachahmung per se, die Platon die Dichter in Verdacht nehmen läßt, sondern die Nachahmung eines Abbildes. Die "Lügen" der Dichter bestehen aus diesem Wirklichkeitsverständnis (der momentanen Evidenz) heraus darin, daß sie sich dem "gebietenden Charakter" der Ideen widersetzen, indem sie auf die abkünftigen Vorlagen dieser Ideen schauen. "Der darstellende Künstler bildet also nur das ab, was seinerseits schon Abbild ist und nur Abbild sein kann und erhebt es dadurch in die ihm nicht zukommende Funktion der Urbildlichkeit." (S. 57) -

Aristoteles hingegen begreift zwar ebenso die künstlerische Tätigkeit als Nachahmung der Natur, begründet sie aber "fast ausschließlich von den Bedürfnissen des menschlichen Gemüts und von der Wirkung auf dieses Gemüt." - "In einer aristotelisierenden Kunsttheorie ist daher der fundierende Begriff des Menschen wichtiger als der Wirklichkeitsbegriff; [...] Der ursprünglich böse Satz, daß die Künstler, insbesondere die Dichter, Lügner seien verliert in diesem systematischen Rahmen seinen negativen, kritisch relevanten Gehalt, und dies schon deshalb, weil die aristotelische Definition des Künstlichen als Nachahmung nicht eine Bestimmung dessen ist, was getan werden soll, sondern dessen, was überhaupt nur getan werden kann." (S. 59) -




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Nauplios
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Di 9. Jun 2020, 12:52

Die bei Aristoteles schon anklingende Frage nach dem Menschen und der Wirkungsgeschichte der Kunst auf den Menschen verschärft sich weiter in der Renaissance. "Mit dem Ausgang des Mittelalters gewann die Frage des Menschen nach sich selbst und nach seiner Stellung in der Welt und gegenüber der Welt Vorrang, und bei der Beantwortung dieser Frage gaben Leistung und Werk des Menschen den Ausschlag." (S. 59) - Mit der Renaissance gewinnt die "Dignität des Kunstwerkes" an Gewicht. - Was mit dem antiken Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz und dem mittelalterlichen einer garantierten Realität nicht möglich war, konnte nun gedacht werden: die Vergleichbarkeit des menschlichen Werkes mit dem göttlichen Schöpfungswerk. Der Künstler wird zum Schöpfer, nämlich zum Schöpfer "weltebenbürtiger Werke" (S. 60) -

"Erst ein neu sich durchsetzender Begriff von Wirklichkeit, der nichts anderes als die Konsistenz des Gegebenen im Raume und in der Zeit für die Intersubjektivität als den einzig möglichen Rechtstitel auf Anerkennung durch ein Wirklichkeitsbewußtsein bestimmte, ließ den Anspruch auf Totalität künstlerischer Setzungen neben dem Faktum Welt überhaupt tragbar, wenn nicht allererst verstehbar werden." (S. 60) -

Am Rande, jedoch für Blumenbergs Legitimität der Neuzeit wichtige Erkenntnis: "Die Tatsache, daß aus den Voraussetzungen und Zusammenhängen der cartesischen Philosophie keine Ästhetik hervorgegangen ist, wird jetzt gerade daraus verständlich, daß diese Philosophie hinsichtlich ihres Wirklichkeitsbegriffsˋmittelalterlich´ gewesen ist und an das Bürgschaftsschema der Realität gebunden blieb. [...] Dieses historische Phänomen darf uns weder verblüffen noch irremachen; es ist ganz selbstverständlich, daß die versteckteste Implikation einer Epoche, nämlich ihr Wirklichkeitsbegriff, erst zur Explikation kommt, wenn jenes Wirklichkeitsbewußtsein bereits gebrochen ist." (S. 61)

Deshalb wird in der Legitimität der Neuzeit die Epochenschwelle und alles, was mit den "Umbesetzungen" im Zuge solcher Schwellen zu tun hat, von besonderer Bedeutung. Aus den Beschreibungen solcher Umbrüche kann dann verständlich werden, was einer Epoche als wirklich galt, kann jene "versteckteste Implikation einer Epoche, nämlich ihr Wirklichkeitsbegriff" freigelegt werden. -




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Friederike
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Di 9. Jun 2020, 14:21

Nauplios hat geschrieben :
Di 9. Jun 2020, 12:52
Die bei Aristoteles schon anklingende Frage nach dem Menschen und der Wirkungsgeschichte der Kunst auf den Menschen verschärft sich weiter in der Renaissance. "Mit dem Ausgang des Mittelalters gewann die Frage des Menschen nach sich selbst und nach seiner Stellung in der Welt und gegenüber der Welt Vorrang, und bei der Beantwortung dieser Frage gaben Leistung und Werk des Menschen den Ausschlag." (S. 59) - Mit der Renaissance gewinnt die "Dignität des Kunstwerkes" an Gewicht. - Was mit dem antiken Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz und dem mittelalterlichen einer garantierten Realität nicht möglich war, konnte nun gedacht werden: die Vergleichbarkeit des menschlichen Werkes mit dem göttlichen Schöpfungswerk. Der Künstler wird zum Schöpfer, nämlich zum Schöpfer "weltebenbürtiger Werke" (S. 60) -
Die Möglichkeit der Portrait*malerei ! In Erweiterung des Titels. Wie es in der antiken Welt darum bestellt war, das weiß ich nicht. Das ganze Mittelalter hindurch gab es jedoch ausschließlich stilisierte Bildnisse der Herrscher (seltener einer Herrscherin, bei den Ottonen gelegentlich), der Heiligen, der Frommen oder auch der Kämpfer. Portraits, also Bilder, die die individuellen Züge und die Lebendigkeit eines Menschen zeigen, sind, so meine ich, tatsächlich erst in der Renaissance zu malen möglich geworden.

*"Portrait" gilt inzwischen als fehlerhafte Schreibweise, aber mir gefällt es besser als "Porträt".




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Nauplios
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Di 9. Jun 2020, 18:39

Ja, man kann hier etwa an Albrecht Dürer denken und seinen Vier Büchern von menschlicher Proportion und den darin festgehaltenen Maßangaben und Kommentierungen. Die Physiognomie des Menschen löst die überirdischen Bildmotive ab. - (Gottftied Boehm hat darüber einiges geschrieben.)




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Nauplios
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Fr 12. Jun 2020, 19:05

"Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam 'im Rücken'; noch zwingender sind wir durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt, 'kanalisiert' in dem, was überhaupt sich zu zeigen vermag und was wir in die Erfahrung bringen können." (Hans Blumenberg; Paradigmen zu einer Metaphorologie; S. 92) -

Nicht nur, daß Blumenberg Denk-Bilder benutzt ("im Rücken" ... "kanalisiert"), unsere Weltsicht steht unter dem Zwang, daß sie auf Bildervorrat und Bilderwahl angewiesen ist.

Das, "was überhaupt sich zu zeigen vermag" und was wir "in die Erfahrung bringen können", ist "bestimmt" von etwas, das wir "im Rücken" haben. Bezogen auf die Wirklichkeit heißt das: was uns als Wirklichkeit erscheint, wird bestimmt von einem Wirklichkeitsbegriff, der auch Index einer Epoche ist und im Moment seiner Verwendung "im Rücken" der Epoche liegt. Für den antiken Betrachter des nächtlichen Sternenhimmels war momentan evident, daß das Licht eines Sterns zur Wirklichkeit gehört wie der Stern selbst. Ein moderner Astronom sieht auch das Licht, doch zur Stimmigkeit seiner Wirklichkeit zieht er in "Betracht" (!), daß er zwar ein Leuchten sieht, der Stern selbst jedoch längst erloschen ist. Wir sehen noch sein Licht, aber "in Wirklichkeit" gibt es den Stern gar nicht mehr.

Natürlich ist das noch kein erkenntnistheoretischer Relativismus. Es ist aber der Hinweis, daß das Wirkliche eben nicht ausschließlich ein Produkt erkenntnistheoretischer Faktoren ist. Die Alternative Konstruktivismus vs. Realismus erweist dort ihre mangelnde Reichweite, wo es um die historische Bedingtheit von Wirklichkeitsbegriffen geht. - Der menschliche Weltbezug ist indirekt und umständlich, doch ist diese Umständlichkeit nicht das Ergebnis einer erkenntnistheoretischen Disposition, sondern einer anthropologischen Position, nämlich der Verstrickung des Menschen in Geschichten, gerade auch in solchen, die in seinem Rücken liegen.




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Jörn Budesheim
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So 14. Jun 2020, 08:58

Nauplios hat geschrieben :
Fr 12. Jun 2020, 19:05
"Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam 'im Rücken'; noch zwingender sind wir durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt, 'kanalisiert' in dem, was überhaupt sich zu zeigen vermag und was wir in die Erfahrung bringen können." (Hans Blumenberg; Paradigmen zu einer Metaphorologie; S. 92)
Nun kann man das natürlich nicht beurteilen und sachgerecht diskutieren, ohne den textlichen Zusammenhang zu kennen. Blumenberg wirft einen Blick auf unsere eigene Situation. Hier ist man natürlich auf die nächsten Reflexionsstufen gespannt, also auf das, was im Zitat nicht steht: Denn es fragt sich, was der Befund für den Befund selbst besagt. Was also liegt im Rücken dieses Befundes und was hat dieses Rückwärtige für einen auf Einfluss auf die Wahrheit des Befundes?

Welcher Wirklichkeitsbegriff ist hier am Werk? Wir haben in dieser Sicht etwas, was gleichsam vor uns liegt, sich uns zeigt. Wir haben etwas, was hinter uns liegt, sich uns nicht zeigt, aber bestimmt, was sich zeigen kann. Und schließlich: "dazwischen" stehen wir selbst. Oder vielmehr: wir sitzen und sind ganz und gar gefesselt von der Darbietung. Wo in diesem Bild bringt die Sicht auf das Bild sich selbst unter?

Könnte es nicht sein, dass dieses ältere Bild von einem neueren Bild bestimmt ist, nämlich das, was der amerikanische Philosoph Donald Davidson den Mythos Schema und Inhalt genannt hat? Die Grundform dieses Mythos ist natürlich paradigmatisch bei Kant ausgearbeitet. Ein zeitloses Schema wurde dann schnell von anderen Philosophen ersetzt durch historische variable Schemata. Und auch das, was das Schema ausmacht, wurde zunehmend von den verschiedenen Philosophen variiert: statt universeller Vernunftstrukturen, ein historisch sich entwickelnder Geist, gesellschaftliche Verhältnisse, Sprache, Strukturen, Bilder, Mythen, Narrative, Metaphern und so weiter und so fort...




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