Aspekte der Unbegrifflichkeit

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
Nauplios
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So 12. Jul 2020, 19:49

Wie sehr übrigens die Wissenschaft und ihre Prosa "mythenpflichtig und metaphernpflichtig" (Odo Marquard) sind, läßt sich an der Diskussion über Künstliche Intelligenz vom Tage beobachten. Der Mensch als der Schöpfer seiner eigenen Werke (s. Vico), einer Schöpfung 2.0 ... der Automaten-Diskurs von E.T.A. Hoffmann bis zurück zur Frühaufklärung von Fontenelle ... bis hin zum Zorn des Zeus über Deukalion und Pyrrha ... Der Entwickler einer Künstlichen Intelligenz als titanischer Prometheus ... Hier bietet die Arbeit am Mythos quasi einen Tag der offenen Tür. ;) (Sobald die Künstliche Intelligenz zur Serienreife gebracht worden ist, bestelle ich mir bei Spalanzani eine Olympia. Brillen von Coppelius sind ja inzwischen wieder im Sortiment.) -




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Jörn Budesheim
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So 12. Jul 2020, 20:17

Und was sagt die Metaphern-Pflicht zur Sache? Wird strenge KI möglich sein?




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Friederike
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Mo 13. Jul 2020, 10:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 12. Jul 2020, 20:17
Und was sagt die Metaphern-Pflicht zur Sache? Wird strenge KI möglich sein?
Versuchshalber eine launige Antwort: Warum wollen wir das wissen? Wie kommt es zu dieser Frage? Was interessiert uns an der Antwort? Welche "geschichtlichen Sinnhorizonte und Sichtweisen" stehen im Hintergrund dieser Frage?




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Jörn Budesheim
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Mo 13. Jul 2020, 12:19

Das ist eine der Kantianischen Fragen: Was ist der Mensch? Sind wir im Grunde nichts als ein Computerprogramm?




Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 13:13

Versuchshalber eine noch launigere Antwort: Die Metaphern-Pflicht ist die Sache. ;)

Da die Metaphorologie keine eigene Abteilung für Prognostik hat, hat sie natürlich nichts Belastbares, was die Möglichkeit einer strengen KI angeht, allerdings auch nichts Belastendes, was die Möglichkeit einer starken KI angeht. Jedoch gibt es einen Fingerzeig Blumenbergs in Form eines Soliloquiums über das Visionäre schlechthin, zu dem die starke KI vom heutigen Zeitpunkt noch gehört:

"Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können.

Nein, wir müssen es nicht.

Aber?

Aber wir werden es machen.

Und weshalb?

Weil wir es nicht ertragen, wenn der leiseste Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können."

(aus: Ein mögliches Selbstverständnis; S. 29)

Wie nah sich die Künstliche Intelligenz und die Metapher inzwischen gekommen sind, verdeutlicht Roland Hausser in seinem Aufsatz "Zur Modellierung der Metapher in der KI" in: "Metapher, Kognition, Künstliche Intelligenz", hrsg. v. Hans Julius Schneider, S. 115. Vielleicht als Reminiszenz an die Blumenberg' sche curiositas nennt Hausser seinen Roboter "Curious". ;)

Man muß sich bei all dem vor Augen halten, daß die Philosophie Blumenbergs - darin ist sie das gerade Gegenteil des Heidegger' schen Technik-Argwohns - eine technikaffine Philosophie ist, die in der Technik eine Reichweiten-Erweiterung anthropologischer Begrenztheiten gesehen hat. - Vermutlich hätte es Blumenberg da mit einem ehemaligen Bundesminister gehalten: "Künstliche Intelligenz ist allemal besser als natürliche Dummheit." ;)




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Alethos
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Mo 13. Jul 2020, 15:08

:mrgreen:



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Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 19:45

Im Text der Theorie der Unbegrifflichkeit findet sich ein Satz, der in der Sekundärliteratur immer wieder zitiert wird:

"Der Begriff ist zwar kein Surrogat, aber er ist zur Enttäuschung der auf ihn gesetzten philosophischen Erwartungen nicht die Erfüllung der Intentionen der Vernunft, sondern nur deren Durchgang, deren Richtungsnahme." (S. 10) -

Es folgt der Satz: "Ich versuche, das anthropologisch, genetisch zu verstehen." - Hier sieht man schon an einer ganz frühen Stelle der Theorie der Unbegrifflichkeit die Richtungsnahme, die Blumenberg selbst wählt. Es geht ihm demnach keineswegs nur um eine Vertiefung der in den Paradigmen angesprochenen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Potentiale der Metapher als erkenntnisermöglichendes Mittel. In den Paradigmen hatte er die von Ritter und Rothacker anvisierte Begriffsgeschichte im Blick. Das Archiv für Begriffsgeschichte, welches Rothacker betrieb, war eine Art Vorarbeit zu dem, was Ritter dann im Historischen Wörterbuch der Philosophie über viele Bände und in Zusammenarbeit mit einer ganzen Generation von Philosophen und Ideengeschichtlern vorlegte. Die Herausgabe dieses Wörterbuchs zog sich über beinahe vier Jahrzehnte hin. Damals gab es eine Diskussion darüber, ob in dieses Historische Wörterbuch der Philosophie auch philosophische Metaphern aufgenommen werden sollten, was Ritter jedoch ablehnte aus Sorge, das Projekt könne aus den Fugen geraten. Blumenberg hat seine Metaphorologie dann in den Paradigmen als eine Art Zuarbeit - er spricht ja von der Dienstbarkeit der Metaphorologie gegenüber der Begriffsgeschichte - verstanden, als separierte Abteilung, die aber gleichwohl der Begriffsgeschichte zuarbeitet. -

Rothacker gründete sein Archiv für Begriffsgeschichte 1955. Blumenberg veröffentlichte die Paradigmen darin 1960. Und 1971 wurde von Ritter das Historische Wörterbuch der Philosophie ins Leben gerufen, das erst 2007 abgeschlossen wurde. - 37 Jahre Arbeit an der Begriffsgeschichte, der 16 Jahre Vorarbeit im "Archiv" vorausgingen. Ralf Konersmann hat dann im Jahr des Abschlußes des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, 2007 das Wörterbuch der philosophischen Metaphern herausgegeben. Mit der Lebensarbeit von Blumenberg hatte man nun einerseits eine Begriffsgeschichte (Rothacker, Ritter u.a.), andererseits eine Metaphorologie (Blumenberg und später viele andere wie Konersmann ...) -

Das ist in etwa das wissenschaftspolitische Umfeld, in dem die Paradigmen zur Metaphorologie entstehen, immer als eine Art Parallelaktion zur sich formierenden Begriffsgeschichte.

Jetzt - in der Theorie der Unbegrifflichkeit hat die Sache der Metaphern (das schließt die "absolute Metapher" mit ein) eine Wendung genommen, die zwar im Keim auch schon in den Paradigmen angelegt ist, jetzt aber erst zur Entfaltung kommt: "Ich versuche, das anthropologisch, genetisch zu verstehen". -




Nauplios
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Mo 13. Jul 2020, 20:10

Der Mensch ist das Wesen der actio per distans. Das heißt, er "handelt an Gegenständen, die er nicht wahrnimmt". - "Der Begriff entsteht im Leben von Wesen, die Jäger und Nomaden sind." (S. 10) -

Es folgt eine Erläuterung am Beispiel der Falle. "Sie ist in allem zugerichtet auf die Figur und die Maße, die Verhaltensweise und Bewegungsart eines erst erwarteten, nicht gegenwärtigen, erst in Besitz und Zugriff zu bringenden Gegenstandes. Dieser Gegenstand wiederum ist bezogen auf Bedürfnisse, die nicht die des heutigen Tages sind, die eine Dimension der Zeit haben. Eine anthropologische Theorie des Begriffs ist ein dringendes Desiderat ..." -

"Der Begriff vermag nicht alles, was die Vernunft verlangt. [...] Die Ausdrücke ˋklar´ und ˋdeutlich´ gehören zur für die Neuzeit maßgebenden cartesianischen Qualifikation zunächst der Vorstellung, dann des Begriffs nach der ersten Regel des ˋDiscours de la Methode´. Es ist das Ideal der vollen Vergegenständlichung, auf dieser beruhend der Vollendung der Terminologie. Bei Erreichung dieses Ideals wäre der Endzustand einer philosophischen Sprache als ein rein begrifflicher im strengen Sinne gegeben. So wie es die provisorische Moral nicht mehr gäbe, wäre auch nichts Vorläufiges in der Begrifflichkeit mehr möglich." - Schon Husserl hatte diesen "Endzustand" in seiner Formalen und transzendentalen Logik als "Universalität der Deckung von Sprache und Denken" (S. 22) bezeichnet.

"Der Begriff ist aus der actio per distans, aus dem Handeln auf räumliche und zeitliche Entfernung entstanden. [...] Der Begriff muß genügend Unbestimmtheit besitzen, um herankommende Erfahrungen noch so erfassen zu können, daß entsprechend zweckmäßige Einstellungen auf sie auch dann bezogen werden können, wenn im Detail in der vollen Konkretion Abweichungen von vergangenen Erfahrungen bestehen. Der Begriff benötigt einen Spielraum für all das Konkrete, was seiner Klassifikation unterliegen soll.Er muß zwar Deutlichkeit genug besitzen, um Unterscheidungen von dem ganz und gar nicht Einschlägigen treffen zu können, aber seine Ausschließlichkeit darf nicht die Enge besitzen, die der Name für den Bezug auf das Individuum und seine Identität, seine Identifizierbarkeit haben muß. [...] Insofern ist, anthropologisch-genetisch betrachtet, das Ideal der Deutlichkeit des Begriffs das seiner Beziehung auf die Elastizität des Spielraums, in welchem ein konkret wahrgenommenes oder vorgestelltes Wesen noch zu all dem zugelassen werden soll, was an Einstellungen und Vorkehrungen handlungstypisch aus der Erfahrung angelegt, präpariert, präfiguriert ist." (S. 12) -




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Jörn Budesheim
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Mo 13. Jul 2020, 21:59

Wolfgang Wahlster hat geschrieben : Künstliche Intelligenz ist besser als natürliche Dummheit, aber natürliche Intelligenz ist bei sehr vielen Aufgabenstellungen besser als künstliche Intelligenz. Wenn Unsicherheit, Vagheit und wenig Erfahrungswerte eine Problemstellung dominieren oder soziale und emotionale Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Problemlösung spielen, haben heutige KI-Systeme kaum Chancen.
Habe das Zitat eben gerade beim Surfen zufällig gefunden und es passt auch ansonsten in diesen Thread.




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 13:39

In dem Philosophischen Portrait Blumenbergs von Jürgen Goldstein gibt es ein Kapitel über die Metaphorologie, welches einige Punkte beleuchtet, die uns hier auch schon beschäftigt haben.

"Schon der Titel ist bemerkenswert. Blumenberg legt keine Metaphorologie vor, auch keine Paradigmen einer Metaphorologie. Noch vorsichtiger und zurückhaltender sollen es Paradigmen sein, die zu einer Metaphorologie führen sollen - wohlgemerkt: zu einer, nicht zur Metaphorologie. [...] Auch die späteren Publikationen zur Begründung des Bedarfs einer Metaphorologie behalten die Vorsicht in Bezug auf das Geleistete bei." (176) - Den Status, den Blumenberg den Paradigmen zubilligt, hat er ja mit "Halbzeug" umschrieben, worin sich jene Zurückhaltung in Bezug auf das Neue der Paradigmen ausdrückt. - Ein anderer Aspekt ist der Zustand des Unabgeschlossenen, den die Rezeption der Metaphorologie inzwischen in einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen zum Anlaß der Erweiterung des Programms der Metaphorologie genommen hat. So ist die Metaphorologie ihrerseits zu einem Paradigma des philosophischen Denkens geworden, ein Effekt mit dem 1960 natürlich nicht zu rechnen war.

"Dabei käme es einem groben Mißverständnis gleich, eine vermeintlich schöngeistige Philosophie der Metapher als ein Ausweichen vor der harten Begriffsarbeit zu verstehen. Denn am Anfang der Metaphorologie steht die Leistung des Begriffs. Blumenberg läßt keinen Zweifel daran, daß er nicht gewillt ist, den Begriff zugunsten einer Aufwertung der Metapher einer vorschnellen Geringschätzung anheimzugeben. [...] Es käme einem groben Mißverständnis gleich, wollte man meinen, eine Philosophie der Metapher stifte ein scharfes Konkurrenzverhältnis zwischen definitorischer und übertragener Redeweise. Die Möglichkeit des Gebrauchs von Metaphern wird überhaupt erst vor dem Hintergrund eines Wirklichkeitsverhältnisses eröffnet, das durch die Leistung von Begriffen als formelhafte Definitionen abgesichert ist." (177f) -

Hier erinnert Goldstein an das, was Blumenberg gleich zu Beginn der Theorie der Unbegrifflichkeit schreibt und das ja auch am Anfang dieses Threads steht. Begriff und Metapher unterscheiden sich. Sie unterscheiden sich in der Bedeutungsdichte, die sie erzeugen, in der Tradition ihrer Beheimatung (Logos - Mythos), im Grad ihrer Veranschaulichung, ihrer semantischen Reichweite, in der auf Klarheit und Deutlichkeit ausgerichteten Anforderungen der Strenge u.ä., aber die Metaphorologie steht keineswegs im Dienst einer Abwertung des Begriffs. Die Metapher tritt dort in Aktion, wo der Begriff "versagt", womit jedoch keine Hierarchisierung zwischen Begriff und Metapher eingezogen ist. -




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 14:05

"Nun sind Begriffe und Metaphern offensichtlich voneinander zu unterscheiden. Die Leistung des Begriffs besteht vornehmlich in der Vergegenwärtigung von etwas Abwesendem." (177) - Hier setzt in der Theorie der Unbegrifflichkeit der paläo-anthropologische Entwurf der Begriffsgenese am Muster der Falle ein. (s.o.) Mit dem aufrechten Gang, dem Austritt ins Freie wird der Bereich des Sichtbaren erweitert und die eigene Sichtbarkeit zur Verwundbarkeit. Der Mensch wird zum Wesen der actio per distans, das sich auf Entferntes zu beziehen lernt. Diese actio per distans ermöglicht und erfordert den Bezug auf Abwesendes zur Selbsterhaltung. Das Paradebeispiel einer gelungenen Vergegenwärtigung des Abwesenden ist die Falle: "Sie zu bauen setzt voraus, sich das in ihr zu fangende Tier vorzustellen, um die passenden Ausmaße der Falle berücksichtigen zu können. Die Falle ist auf etwas ausgelegt, was im Begriff vorgestellt wird, ohne in dem Moment auch präsent zu sein." (Goldstein; S. 178) -

Wäre die Falle für ein Einzelexemplar eines Mammuts ausgelegt, wäre es analog so, als hätte man es nicht mit einem Begriff, sondern mit einem individuellen Namen zu tun. Wollte man dagegen mit dieser Falle auch Mäuse fangen, wäre die Falle zu groß. Analog dazu darf also ein Begriff nicht zu "eng" gefaßt sein; dann paßt das Mammut nicht rein. Sie darf aber auch nicht zu individuell zugeschnitten sein; dann hat man einen Namen und die Maus entschlüpft. Vom genus proximum et differentia specifica wird man später sprechen, was in der Redewendung "Wir müssen diesen Begriff noch spezifizieren" aufscheint. Spezifizieren heißt hier: die "Falle", mit Hilfe derer die Gegenstände, die der Begriff "fangen" will, "erbeutet" werden sollen, muß "angepaßt" sein. Ist der Begriff zu "schwammig" kann man sich darunter nichts "Konkretes" vorstellen. Ist der Begriff zu "eng", gerät das, was er bezeichnen soll nicht "artgerecht" in den Blick. -




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 14:20

"Die mit Begriffen operierende Vernunft ist das wesentliche Lebensmittel des Menschen. [...] Für Blumenberg ist die Erfindung des Begriffs, wenn man es so sagen darf, ein bedeutsames Initialmoment der Humanisierung." (Goldstein; S. 179)

"Wir müssen uns daran gewöhnen, daß der Begriff nicht das Selbstverständliche ist." (Blumenberg; Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 76) -

"Der Umgang mit Begriffen verlangt nach Regeln. Die Rationalität des Begriffs, der mehr sein will als der Name für eine individuelle Sache, beglaubigt sich in der gelungenen Definition - so schwer das im Einzelfall auch sein mag." (Goldstein; S. 179)

"Ein Begriff muß im Prinzip definierbar sein, auch dann, wenn in einer gegebenen Situation niemand imstande ist, die Forderung nach der Definition zu erfüllen. Rationalität beginnt nicht mit der Erfüllung bestimmter Forderungen, sondern damit, daß sie anerkannt werden." (Blumenberg; Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 34) -

"Die alltägliche Lebenswelt des Menschen, in der der Begriff eine zentrale Stellung eingenommen hat, ist somit auf rationale Standards der Wortverwendung verpflichtet. Eine Definition ist daher eine Wortanwendungsregel: Nur dann, wenn ein Gegenstand unter die Definition fällt, darf der Begriff auf ihn angewendet werden." (Goldstein; S. 179f.) - In diesem Fallen eines Gegenstandes unter die Definition, schaut uns die "Falle" gleichsam an.




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 14:40

"Läßt sich nun alles, was in der Welt vorkommt, klar und deutlich definieren und somit auf Begriffe bringen? [...] Kant ist es [..], den Blumenberg als Kronzeugen heranzieht, um das Ideal kristalliner Klarheit im begrifflichen Denken der Philosophie als Grenzwert, nicht aber als Standard auszuweisen. Für Kant sei ein Begriff ein ˋBauzeug, ein Werkzeug´ (Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 50), dem das Vorläufige oftmals anhafte."

"Die Philosophie wimmelt von fehlerhaften Definitionen, vornehmlich solchen, die zwar wirklich Elemente zur Definition, aber noch nicht vollständig enthalten. Würde man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können als bis man ihn definiert hätte, so würde es gar schlecht mit allem Philosophieren stehen." (Kant; Kritik der reinen Vernunft; B 759) - In der Philosophie gelte, daß "die Definition als abgemessene Deutlichkeit das Werk eher schließen als anfangen müsse."

"Wenn der Begriff nicht am Anfang des Denkens steht, sondern eher das Ende eines Rationalisierungsprozesses markiert, lassen sich zwei Möglichkeiten für den Umgang mit dem Unbegrifflichen herausstellen: Das Unbegriffliche kann das noch nicht Begriffene sein, das diesem aber als Ausgangspunkt oder gleichsam als Reservoir der Begriffsbildung dient. Es kann aber auch der Fall eintreten, ˋdaß die Arbeit im Vorfeld des Begriffs nicht zu ihrem Ziel gelangt.´ Das Unbegriffene bliebe unbegriffen, ohne daß wir auf einen Umgang mit ihm verzichten könnten. (Goldstein, S. 181, dabei Blumenberg zitierend) -

Kant spricht an dieser Stelle bekanntlich vom "Symbol", durch das einem Begriff, durch das einem Begriff, "der nur durch die Vernunft gedacht werden und dem keine sinnliche Anschauung entsprechen kann, eine solche ˋunterlegt wird." (Goldstein; S. 181)




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Friederike
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Di 14. Jul 2020, 16:47

Nauplios hat geschrieben :
Mo 13. Jul 2020, 20:10
Der Mensch ist das Wesen der actio per distans. Das heißt, er "handelt an Gegenständen, die er nicht wahrnimmt". - "Der Begriff entsteht im Leben von Wesen, die Jäger und Nomaden sind." (S. 10) -

Es folgt eine Erläuterung am Beispiel der Falle. "Sie ist in allem zugerichtet auf die Figur und die Maße, die Verhaltensweise und Bewegungsart eines erst erwarteten, nicht gegenwärtigen, erst in Besitz und Zugriff zu bringenden Gegenstandes. Dieser Gegenstand wiederum ist bezogen auf Bedürfnisse, die nicht die des heutigen Tages sind, die eine Dimension der Zeit haben. Eine anthropologische Theorie des Begriffs ist ein dringendes Desiderat ..." - [...] "Der Begriff ist aus der actio per distans, aus dem Handeln auf räumliche und zeitliche Entfernung entstanden. [...]
Wie der Begriff beschaffen sein muß, um seinen Zweck zu erfüllen, wird mit einem Bild, einer Metapher erklärt, der "Begriff ist wie" oder besser "hat die Beschaffenheit einer Falle". Zugleich ist das Bild der -wie Blumenberg sie imaginiert- Lebenspraxis der jagenden und herumwandernden Menschen entnommen. Das heißt, mit dem zur Verdeutlichung herangezogenen Bild wird außerdem die Entstehung des Begriffs, also des Gegenstandes, den das Bild veranschaulicht, erklärt.

Find' ich beeindruckend. Auf so einen Einfall muß man/n erst einmal kommen.




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 17:38

Ja, hier hat Blumenberg wohl auf den schon erwähnten Paul Alsberg zurückgegriffen und dessen Prinzip der "Körperausschaltung", was Alsberg nicht nur beim Mensch/Tier-Vergleich heranzieht, sondern auch bei der Begriffsbildung:

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Paul_Alsberg

Überhaupt verbleibt Blumenberg an dieser Stelle weitgehend in der Nachbarschaft der Philosophischen Anthropologie (Gehlen, Plessner, Scheler). -




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Friederike
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Di 14. Jul 2020, 17:41

Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 14:40
[...] "Das Unbegriffliche kann das noch nicht Begriffene sein, das diesem aber als Ausgangspunkt oder gleichsam als Reservoir der Begriffsbildung dient. Es kann aber auch der Fall eintreten, ˋdaß die Arbeit im Vorfeld des Begriffs nicht zu ihrem Ziel gelangt.´ Das Unbegriffene bliebe unbegriffen, ohne daß wir auf einen Umgang mit ihm verzichten könnten". (Goldstein, S. 181, dabei Blumenberg zitierend) -
Was vom Begriff "unbegriffen" bleibt, das sind auch, so wie ich Blumenbergs Beispiel verstehe, alle Tiere, die haarscharf an der Falle vorbeigehen (können). Minimal zu groß oder zu klein. Also die Ränder des Begriffs. Mir ist nicht klar, ob die beiden oben zitierten Möglichkeiten meine Möglichkeit enthalten. Hm, vielleicht schon, weil die Ränder ihrerseits in Begriffsfassung münden können.




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 18:16

Du hast eine Art Ausfransung dieser Ränder im Sinn, Friederike, eine Unschärfe des Begriffs?

Ja, das ist durchaus möglich, daß Begriffe "Fallen" sind, die nicht die robuste Statik einer völlig eindeutigen Definition haben. Was als finis des Bereichs angesetzt wird, den eine Definition umgrenzt, ist nicht immer so scharf umrissen wie in diesem Beispiel: "Gelb ist eine Farbe, die wahrgenommen wird, wenn Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der Wellenlängen zwischen 565 und 575 Nanometer dominieren." - Das ist schon eine recht exakte Eingrenzung mit stabilen numerischen Grenzen und man kann dann noch genauer eingrenzen und von Zitronengelb und Goldgelb u.ä. sprechen ... und auch das "Dominieren" noch näher bestimmen. -




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Di 14. Jul 2020, 18:30

Die Anbindung an Kants Ausführungen zum Symbol sind dem Viertel-Kantianer Blumenberg durchaus von Bedeutung beim Programm seiner Metaphorologie. Goldstein schreibt:

"Diese Einfädelung des Bedarfs einer Metaphorologie in das Denkgewebe eines Klassikers vom Format Immanuel Kants, der nicht unter Verdacht steht, die logische Pünktlichkeit des Begriffs leichtfertig preisgegeben zu haben, stellt ein Bravourstück dar.[...] Die Metapher als rhetorisches Mittel steht unter dem Verdacht, als ˋBlendwerk der sanften Verführung´ [Blumenberg] dienstbar zu sein. Sich daher im Windschatten Kants bewegen zu können, verleiht dem Projekt einer Metaphorologie eine philosophische Seriosität." (S. 182) (Ich lese gerade einen zeitgenössischen Philosophen, der an dieser Stelle sagen würde: im Gegenteil.) ;) - Was Goldstein mit der "Einfädelung des Bedarfs einer Metaphorologie" meint, wird deutlich an jener Kant-Stelle aus der Kritik der Urteilskraft, wo es von den "indirekten Darstellungen" heißt, derlei sei aber bislang "noch wenig auseinander gesetzt worden, so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdient." (B 257) - Dieses Desiderat einer "tieferen Untersuchung" der "indirekten Darstellungen" schickt sich Blumenberg in seiner Metaphorologie an, zu erfüllen. -




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 19:04

Die Metapher hat etwas "Suggestives" (Blumenberg) und damit wird sie zum bevorzugten Element der Rhetorik als der Einstimmung bei nicht erreichter oder nicht erreichbarer Eindeutigkeit". (Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit; a.a.O., S. 81) - Mit Blick auf "Phänomene des Ausdrucks" bestehe die Gefahr, "sich durch allzu subtile und auf systematische Passung gearbeitete Definitionen die Basis der erfüllenden Anschauung von vornherein zu verengen." (Paradigmen; S. 123) - Ins Ironische gewendet: "Diskutiert man mit Leuten, die sich sehr vernunftgemäß verhalten zu sollen und zu können glauben, stößt man auf Schritt und Tritt auf Definitionsforderungen." (Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 37) -

Goldstein kommentiert: "Das Programm [der Metaphorologie] ist anspruchsvoll formuliert, und der Titel einer ˋMetaphorologie´ suggeriert Definitionen, Thesen, Methodik und Systematik. Blumenberg bietet von all dem kaum etwas." (S. 183) -

Blumenberg bleibt der Linie der "Dienstbarkeit" der Metaphorologie treu. Goldstein weist auf die "Zaghaftigkeit der im Konjeunktiv erwogenen Möglichkeit absoluter Metaphern" hin. Kurt Flasch geht sogar noch einen Schritt weiter und spricht von einem "unterwürfigen Gestus" (Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland; S. 367). -

"Eine Metaphorologie, die nicht gleich mit starken Thesen und straffen Definitionen das unübersichtliche Feld vorstrukturiert, wird von einer kognitiven Haltung der Behutsamkeit bestimmt." (S. 184) - Jedem wohlmeinenden Leser der Schriften Blumenbergs fällt diese Behutsamkeit und Zurückhaltung auf, welche die Diktion der Blumenberg´schen Sprache leitet. Ohne den modus coniunctivus wäre die Philosophie Blumenbergs in ihrem Inhalt nicht möglich gewesen. -




Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 19:17

Auch Kant hat ja in der Kritik der reinen Vernunft die "Transzendentale Methodenlehre" nach der "Transzendentalen Elementarlehre" gesetzt. Blumenberg dazu:

"Indem Kant die Methodenlehre an das Ende seines Hauptwerkes stellte, gab er ein deutliches Zeichen gegen die Sucht in der deutschen Schulphilosophie der Prägung Christian Wolffs und wieder der heutigen, mit dem Philosophieren nicht eher zu beginnen, ehe nicht alle Methodenfragen geklärt und alle Begriffe definiert wären. Das bestechende Vorbild der Mathematik hat hier immer wieder zwar nicht die philosophischen Sitten verdorben (denn in der Tat wäre nichts dringender zu wünschen, als alle Vorfragen geklärt zu haben, wenn es an die Hauptsache geht) als vielmehr dem philosophischen Denken die Atemluft genommen." (Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 49) -




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