Aspekte der Unbegrifflichkeit

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
Nauplios
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"Die Verweigerung definitorischer Aussagen ist bei Hans Blumenberg aber nichts Ungewöhnliches, sondern - vor allem in seinen späteren Jahren - Programm. Wenn er 1979 die Notwendigkeit konstatiert, seine seit Ende der 1950er Jahre entwickelte Metaphorologie in den ˋweiteren Horizont einer Theorie der Unbegrifflichkeit´ (Schiffbruch mit Zuschauer; S. 83) einzubetten, bleibt daher generell offen, welche anderen Kandidaten für solch eine Theorie zentral wären. Offensichtlich denkt er dabei jedoch nicht an die traditionellen rhetorischen Figuren wie Metonymie, Synekdoche oder Ironie, sondern an narrative Grundstrukturen. Für den zweiten wichtigen Kandidaten, den Mythos, gibt es eine indirekte Verifikation. Der Titel der Vorlesung, die Blumenberg im Sommersemester 1975 gehalten hat, ˋTheorie der Unbegrifflichkeit´, wird im Vorlesungsverzeichnis durch den Untertitel ˋMetaphorologie und Mythologie´ ergänzt. Die Prominenz des Mythos als zweites Beispiel der Unbegrifflichkeit paßt zu Blumenbergs intensiver Beschäftigung mit dem Manuskript von Arbeit am Mythos, die in diese Zeit fällt. Zugleich beginnt er aber auch, sich mit der Anekdote zu beschäftigen. Sie wird in den folgenden Jahren immer wichtiger für seine Philosophie und nimmt dann im Spätwerk breiten Raum ein." (Rüdiger Zill; Artikel Anekdote, in: Blumenberg lesen; S. 26) -

Es ergibt sich also als ein erster Umriß der Theorie der Unbegrifflichkeit, daß es darin um "narrative Grundstrukturen" geht, also um solche, die etwas erzählen. Bei der Anekdote versteht sich das von selbst; ebenso beim Mythos. Hier ist es vor allem der Prometheus-Mythos, der für Blumenberg von Bedeutung ist. Vico bestimmt die Metapher als "picciola favoletta" - als kleinen Mythos. Beschreibt man etwa das Leben als gewagte Seefahrt, dann ist in dieser Metapher ein kleiner Mythos (Mythos = Erzählung) beschlossen: die Fahrt auf den Wogen des Lebens, bei der wir Schiffbruch erleiden können, bei der wir untergehen können, in den Hafen der Ehe einlaufen können usw. - In "Leben als Seefahrt" steckt diese Miniatur-Erzählung, dieser "kleine Mythos". Stellen wir uns die Gesellschaft als einen Organismus vor, evoziert das das Bild eines Lebewesens, das krank werden kann ("Unsere Gesellschaft ist krank") u.ä. - Der rechte Diskurs greift solche organische Metaphern gerne auf, um am "Volkskörper" alsbald "Parasiten", "Volksschädlinge" u.ä. zu diagnostizieren. - So steckt am Ende dann auch in der Metapher eine "narrative Struktur".

Metapher, Mythos, Anekdote - das sind bis auf weiteres die drei Kandidaten, die zum Gegenstand einer Theorie der Unbegrifflichkeit werden. Unbegrifflich heißt nicht, daß beispielsweise in einer Anekdote überhaupt kein Begriff mehr vorkommt. Die Anekdote vom Brunnensturz des Thales erzählt vom Philosophen Thales, der nachts bei der Betrachtung des Sternenhimmels in einen Brunnen fällt. Die thrakische Magd, die das beobachtet lacht. In dieser Anekdote kommt also ein Brunnen vor, ein Philosoph, eine Magd, ein Lachen ... aber: Die Anekdote erzählt. In dieser Erzählung kommen Begriffe vor. Aber deswegen ist die Anekdote keine theoretische Ausführung rein aus Begriffen. Daß in ihr Begriffe vorkommen, ändert nichts daran, daß sie ein Erzählung ist. Eben dies gilt auch vom Mythos. Auch im Mythos gibt es Schiffe, Riesen, Feuer, Helden ... Der Mythos erzählt davon. Wovon die Metapher (des Lebens als gewagte Seefahrt zum Beispiel) erzählt habe ich oben beschrieben. Die Erzählung der Metapher mag auf den ersten Blick nicht sofort einleuchten; sie ist eingekapselt, appräsentiert, wird im Bedeutungsfeld der Metapher mitgeführt.

"Narrative Strukturen" - d.h. Metapher, Mythos und Anekdote sind verfaßt als Erzählungen. Es geht nicht darum, daß das Wort "Metapher" ein Begriff ist, der bei Blumenberg auftaucht und nicht darum, daß der Mythos ein Begriff ist, den man in einem Lexikon nachschlagen kann und auch nicht darum, daß der Begriff "Anekdote" etwas Vergnügliches meint, daß man in einer Anekdotensammlung findet. Wenn ich sage: "Ich besitze ein Auto", dann besitze ich nicht die vier Buchstaben "A", "u", "t" und "o", sondern einen Personenkraftwagen mit meistens vier Rädern, einem Lenkrad und einer Hupe. So sind auch Metapher, Mythos und Anekdote wesentlich Erzählungen. Sie sind keine Formeln. Sie sind auch nicht Begriffe wie Funktion, Substanz, Kategorie ...

Um solche "narrativen Strukturen" geht es Blumenberg. Kommen Metaphern in theoretischen Kontexten vor (Auf das Beispiel der "Ungesättigtheit" bei Frege hab ich schon hingewiesen) und das kommen sie, dann verweisen sie aufgrund ihrer "narrativen Struktur" über das Begriffliche hinaus. Um im Beispiel zu bleiben: Frege hat das Problem, daß der Begriff der Funktion als Grundbegriff nicht erklärt werden kann, ohne auf "bildliche Ausdrücke" zurückzugreifen. Das sag´ nicht ich. Das sagt Frege selbst. Die Metapher ist ein bildlicher Ausdruck. "Ungesättigtheit" ist eine chemische Metapher. Eine chemische Substanz hat aber keinen Hunger, den sie stillt und danach satt wird. Hier liegt also eine Metapher vor. Metaphern weisen über das Begriffliche hinaus. - Die Metapher gehört zur Lehre der sogenannten Tropen in der Rhetorik. Andere Tropen sind etwa die Allegorie, die Metonymie, das Symbol ... usw. Der Begriff gehört in die Logik. Der Begriff hat in der Regel einen Bedeutungsspielraum, der enger begrenzt ist als der einer Metapher. Da wo man "mit den Begriffen ans Ende kommt" (Gottfried Gabriel), können Metaphern den Vorstellungsspielraum erweitern, können das Begriffliche transzendieren. Wo also die Begriffe Leerstellen hinterlassen, können Metaphern diese Leerstellen besetzen. -

"Ungesättigtheit" - das ist zunächst mal keine Angelegenheit von chemischen Prozessen. Ungesättigt ist man, wenn man Hunger hat. Gesättigt ist man, wenn man seinen Hunger gestillt hat. Das ist eine Erfahrung, die wir in unserer Lebenswelt täglich machen. Dazu bedürfen wir keiner chemischen Versuchsanordnung. Wir haben es demnach mit einer Metapher zu tun, die ihre Herkunft in der Lebenswelt hat. In einem abstrakten theoretischen Zusammenhang kommt sie zwar vor, aber ursprünglich kommt sie aus ganz lebensweltlichen Situationen; man könnte auch sagen: sie verweist auf die Lebenswelt. In die Lücke, die das Begriffliche nicht abdeckt, springt sie ein und erweitert damit die Aussagenreichweite. All diese Formen vom Typus "narrative Struktur" setzt Blumenberg ab von der reinen Begrifflichkeit (Substanz, Funktion, Kategorie, Modalität, Schema ...) und summiert sie unter dem Sammelbegriff der Unbegrifflichkeit.

"Der Sammelbegriff Unbegrifflichkeit bezeichnet, was in Anschauung und Erfahrung außerhalb der Verweisungsfähigkeit von Begriffen bleibt und bleiben muß: theoretische Redeformen, ˋdie in die begreiflich-begrifflich nicht erfüllbare Lücke und Leerstelle´ einspringen, um ˋauf ihre Art auszusagen´. H. Blumenberg, der das Konzept 1979 ausformuliert hat, spricht von Metaphern, von Mythen und Symbolen - von Darstellungsmitteln, die aus dem theoretischen Diskurs heraus auf ˋLebenswelt´ verweisen." (Historisches Wörterbuch der Philosophie)




Nauplios
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Do 9. Jul 2020, 02:54

Stand die Metaphorologie 1960 zur Begriffsgeschichte noch im Verhältnis der "Dienstbarkeit", heißt es im Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit 1979:

"Nicht mehr vorzugsweise als Leitsphäre abtastender theoretischer Konzeptionen, als Vorfeld der Begriffsbildung, als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen wird die Metaphorik gesehen, sondern als eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen, die nicht auf den engen Kern der ˋabsoluten Metapher´ einzugrenzen ist. [...] Man könnte sagen, die Blickrichtung habe sich umgekehrt: sie ist nicht mehr vor allem auf die Konstitution von Begrifflichkeit bezogen, sondern auch auf die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt als dem ständigen - obwohl nicht ständig präsent zu haltenden - Motivierungsrückhalt aller Theorie. Wenn wir schon einsehen müssen, daß wir nicht die Wahrheit von der Wissenschaft erwarten dürfen, so wollen wir doch wenigstens wissen, weshalb wir wissen wollten, was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist. Metaphern sind in diesem Sinne Leitfossilien einer archaischen Schicht des Prozesses der theoretischen Neugierde, die nicht deshalb anachronistisch sein muß, weil es zu der Fülle ihrer Stimulationen und Wahrheitserwartungen keinen Rückweg gibt.
Das Rätsel der Metapher kann nicht allein aus der Verlegenheit um den Begriff verstanden werden." (Schiffbruch mit Zuschauer; S. 77) -

"Deshalb wird eine Metaphorologie, will sie sich nicht auf die Leistung der Metapher für die Begriffsbildung beschränken, sondern sie zum Leitfaden der Hinblicknahme auf die Lebenswelt nehmen, nicht ohne die Einfügung in den weiteren Horizont einer Theorie der Unbegrifflichkeit auskommen. Daß man von der ˋlachenden Wiese´ sprechen kann, ist poetische Suggestion doch erst dadurch, daß die ästhetische Evidenz darauf zurückgeht, alle hätten es gesehen, ohne es sagen zu können. Die Heimatlosigkeit der Metapher in einer durch disziplinierte Erfahrung bestimmten Welt wird am Unbehagen faßbar, dem alles begegnet, was dem Standard der auf objektive Eindeutigkeit tendierenden Sprache nicht genügt. Es sei denn, es qualifiziere sich in der entgegengesetzten Tendenz als ˋästhetisch´. Dieses Attribut gibt die letzte, darum völlig enthemmende Lizenz für Vieldeutigkeit.
Unter dem Titel der Unbegrifflichkeit muß zumindest damit gerechnet werden, daß auch die Klasse des Unsagbaren nicht leer ist." (S. 83) -

Im FAZ-Fragebogen hat Blumenberg mal auf die Frage, was für ihn das Glück sei, geantwortet: "Sagen zu können, was ich sehe". Die Klasse des Unsagbaren ist der direkte Bezug auf Wittgenstein: "Denn alles, was der Fall ist, hat einen eindeutigen Grad der sprachlichen Verfügbarkeit, deren Umfang sich allerdings nicht mit dem deckt, was erfahren werden kann. Sonst stände nicht unmittelbar vor dem dem abschließenden Verbot ["Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."]: Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Es ist die beiläufige Feststellung eines Relikts, das, als nicht unter die Definition der Wirklichkeit fallend, gleichsam heimatlos ist. Diese Exotik teilt es mit dem ˋSinn der Welt´, der außerhalb ihrer liegen muß, und sogar mit der Bestimmung des Mystischen, daß im Gegensatz dazu, wie die Welt ist, darin lokalisiert wird, daß sie ist. [...] Die Grenzwerte von Sagbarkeit und Unsagbarkeit sind noch weiter gespannt als die von definitorischer Bestimmtheit und imaginativer Vorzeichnung. Nicht die Existenz von Korrelaten behaupteter Sprachlosigkeit steht deskriptiv zur Diskussion, sondern die der Geschichte unseres Bewußtseins zugehörige Anstrengung, die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen." (S. 84) -

Blumenberg verweist an dieser Stelle auf die Denkfigur der coincidentia oppositorum des Nikolaus von Cues, veranschaulicht am Kreis mit unendlichem Radius, wobei die Peripherie eine unendlich kleine Krümmung hat, so daß Bogenlinie und Gerade zusammenfallen. "Der Grenzwert des Mystischen ist in diesem Zusammenhang nur ein Erinnerungsposten an den Sachverhalt, daß Unbegrifflichkeit nicht kongruiert mit Anschaulichkeit." (S. 85)




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Jörn Budesheim
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Do 9. Jul 2020, 11:22

Damit man mal weiß, worum es bei "ungesättigt" wirklich geht, nehme ich das Beispiel von Wiki:
„( ) ist eine Hauptstadt“
Solche Ausdrücke nennt Frege auch „ungesättigt“, womit er sagen will, dass sie einer Komplettierung durch einen Eigennamen bedürfen.
Denn nicht nur Berlin ist eine Hauptstadt, sondern auch Paris und London sind welche. Nicht nur Wiesen sind grün, sondern auch Blätter von Bäumen.




Nauplios
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Do 9. Jul 2020, 16:53

Was sich im Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit in Form des "Leitfadens der Hinblicknahme auf die Lebenswelt" und in den "rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt [...] als Motivierungsrückhalt aller Theorie" schon andeutete, wird in dem Konvolut Theorie der Unbegrifflichkeit, das 2007 von Anselm Haverkamp aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, weiter entfaltet. - Hier kann gleich auf einen Arzt und "genialen Außenseiter" (Arnold Gehlen) der Philosophischen Anthropologie hingewiesen werden, den Blumenberg selten erwähnt, dessen einziges Werk mit dem wenig bescheidenen Titel Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung (1922) aber eine Inspirationsquelle für Blumenberg gewesen sein muß: Paul Alsberg. - Das Buch wurde 1933 Opfer der Bücherverbrennung. Seiner Ehefrau gelang es, Paul Alsberg 1934 aus dem Konzentrationslager Oranienburg herauszubekommen; beide emigrierten nach Großbritannien. Eine Neufassung der Menschheitsrätsel gab es 1937 in Wien, später dann noch mal 1967. - Heute zählt Paul Alsberg zu den vergessenen Autoren.

Blumenberg beginnt die Theorie der Unbegrifflichkeit mit paläoanthropologischen Überlegungen. Es interessieren ihn weniger erkenntnistheoretische oder gar wissenschaftstheoretische Aspekte, sondern die historischen und anthropologischen Konstellationen, welche die Genealogie von Begriff und Metapher begleiten. -

"Der Begriff gilt als ein Produkt der Vernunft, wenn nicht sogar ihr Triumph, und ist es wohl auch. Das läßt aber nicht die Umkehrung zu, Vernunft sei nur dort, wo es gelungen oder wenigstens angestrebt sei, die Wirklichkeit, das Leben oder das Sein - wie immer man die Totalität nennen will - auf den Begriff zu bringen.
Es gibt keine Identität zwischen Vernunft und Begriff. Aber es wäre natürlich Unfug zu sagen, die Intention der Vernunft habe mit der Leistung des Begriffs nichts zu tun. [...]
Der Begriff hat etwas zu tun mit der Abwesenheit seines Gegenstandes. Das kann auch heißen: mit dem Fehlen der abgeschlossenen Vorstellung des Gegenstandes. Dieses Verhältnis ist verglichen worden mit dem zwischen verschiedenen Sinnesorganen: das Sehen vertritt nur die Möglichkeit der Berührung, des Fühlens, damit des Besitzens. Die optische Präsenz nimmt die taktile vorweg, auch wenn sie sich ohne diese begnügt. Die Sichtbarkeit ist der Mangel der Fühlbarkeit wegen der Distanz zum Gegenstand. Stellt man sich vor, die Distanz würde weiter vergrößert - räumlich oder zeitlich - , so bleibt nur noch der Begriff, der seinerseits die ganze Skala der sinnlichen Erreichbarkeit vertritt." - (Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 9) -




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Friederike
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Do 9. Jul 2020, 17:33

Einerseits ist die Metapher in der Lebenswelt (der Menschen) verankert, andererseits aber ist siw "heimatlos", weil die Lebenswelt vom Wunsch zur begrifflichen Eindeutigkeit geprägt ist. Die Unterscheidung von "Fachsprachen" ("Wissenschaftssprachen" übersetze ich) und der durch "disziplinierte Erfahrung bestimmten Welt", die mit Unbehagen auf die Metapher reagiert, überkreuzt sich bei mir noch.

Unabhängig von dem mir fehlenden Entknotungsstück finde ich die These von der Lebenswelt, die es auf Eindeutigkeit abgesehen hat und in der nur die Kunst ("ästhetisch" in der Passage verstehe ich im Sinne von "Kunst") die Lizenz zur Vieldeutigkeit hat, stark. Das bedeutet weder Zustimmung noch Zurückweisung, ich möchte "stark" neutral verstanden wissen.

Wo verortet Blumenberg die Wissenschaftseuphorie, die in Enttäuschung gemündet ist. Am ehesten, so vermute ich, in der Frühen Neuzeit. Aber warum wir wenigstens wissen wollen, "weshalb wir wissen wollten, was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist", da verstehe ich nicht, was eben die Enttäuschung ist. Daß die Wissenschaften, er meint die Naturwissenschaften? uns nicht die Wahrheit gezeigt haben? Aber was könnte das meinen? Daß sie uns nicht erlöst haben - nur wovon erlöst und wozu befreit?

Den dritten Absatz, in dem das Sagbare und das Unsagbare thematisiert werden, den muß ich wegen seiner Kompliziertheit noch öfter lesen.




Nauplios
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Do 9. Jul 2020, 20:08

Blumenberg hat ja eine Konzeption von Lebenswelt vorgelegt (im ersten Teil von Lebenszeit und Weltzeit), die darauf hinausläuft, daß die Lebenswelt eine erschlossene Welt ist, die wir sozusagen verlassen, wenn wir uns ihr zuwenden. (Das Theoriestück ist ca. 60 Seiten lang und trägt den Titel "Das Lebensweltmißverständnis").

Man muß diese Lebenswelt, die wir immer nur im Rücken haben, unterscheiden von der Welt als einem Begriff für die Totalität (aller Tatsachen, des Seins ... was auch immer). Der Zugang zur Lebenswelt über die Begriffssprache macht das Unsagbare heimatlos und damit auch die Metapher, welche dieses Unsagbare gleichsam auf eine spezifische Weise doch sagbar macht. Man hat dann zwei Pole, einerseits Begrifflichkeit, die Bedeutung eingrenzt (de-finiert), andererseits Ästhetik, die mit entgrenzter Vieldeutigkeit operiert. Dazwischen wird die Metapher als pragmatisch orientiertes Mittel kontrollierbarer Mehrdeutigkeit quasi aufgerieben. Es gibt dann nur noch methodisch vorgehende Wissenschaft und/oder entgrenzte Kunst. Die Metapher verliert ihren Ort, wird "heimatlos".

Die Theorie der Unbegrifflichkeit ist nun der Rekonstruktionsversuch jener lebensweltlichen Horizonte, die der (wissenschaftlichen) Begrifflichkeit als Vor- oder Unbegrifflichkeit zugrundeliegen. Bereits Husserl hatte ja schon die Lebenswelt als Urgrund aller Wissenschaften eingesetzt und zu ihrem Recht verholfen. Mir scheint, daß Blumenberg an diese Intention der späten Phänomenologie Husserls anknüpft.

Die Stelle mit "der Wahrheit" (im emphatischen Singular), die wir nicht von der Wissenschaft erwarten dürfen, verstehe ich ähnlich wie Du, Friederike. Wissenschaftliche Wahrheiten (im ernüchternden Plural) sind historisch kontingente Gebilde, welche die Erwartungen, die mit dem Prozeß der theoretischen Neugierde und seiner Kumulation in der humanen Selbstbehauptung verbunden waren, nicht erfüllen können. Entgegen der aristotelischen Verbindung von theoria und eudaimonia macht Wissen nicht (mehr) glücklich. Das Glück kann etwa in der Kunst gefunden werden, mit Glück auch die Wahrheit. ;)




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Jörn Budesheim
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Do 9. Jul 2020, 20:45

Friederike hat geschrieben :
Do 9. Jul 2020, 17:33
Einerseits ist die Metapher in der Lebenswelt (der Menschen) verankert, andererseits aber ist sie "heimatlos", weil die Lebenswelt vom Wunsch zur begrifflichen Eindeutigkeit geprägt ist.
Würdest du vielleicht zugestehen, dass die Kunst zur Lebenswelt gehört?

Mir ist jetzt nicht ganz klar, wieso jetzt plötzlich "die" Lebenswelt vom Wunsch nach begrifflicher Eindeutigkeit geprägt ist?




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Do 9. Jul 2020, 01:22
"Narrative Strukturen" - d.h. Metapher, Mythos und Anekdote sind verfaßt als Erzählungen. Es geht nicht darum, daß das Wort "Metapher" ein Begriff ist, der bei Blumenberg auftaucht und nicht darum, daß der Mythos ein Begriff ist, den man in einem Lexikon nachschlagen kann und auch nicht darum, daß der Begriff "Anekdote" etwas Vergnügliches meint, daß man in einer Anekdotensammlung findet. Wenn ich sage: "Ich besitze ein Auto", dann besitze ich nicht die vier Buchstaben "A", "u", "t" und "o", sondern einen Personenkraftwagen mit meistens vier Rädern, einem Lenkrad und einer Hupe. So sind auch Metapher, Mythos und Anekdote wesentlich Erzählungen. Sie sind keine Formeln. Sie sind auch nicht Begriffe wie Funktion, Substanz, Kategorie ...
Theorien haben in der Regel einen Gegenstand, also das, wovon sie handeln. Die Biologie handelt z.b. vom Leben und nicht vom "Leben". Das Leben ist kein Begriff, Gegenstand der Biologie ist kein Begriff, aber dennoch ist die Biologie keine Theorie der Unbegrifflichkeit. Ich verwechsle nicht das Auto mit seinem Begriff.

Gegenstand der Theorie der Unbegrifflichkeit sind, wie du schreibst z.b. Mythen, Anekdoten und Metaphern, das sind narrative Strukturen, also Erzählungen. Narrativen Strukture sind keine Begriffe. Aber Aussagesätze wie "Schnee ist weiß" sind auch keine Begriffe. Sie werden aus Begriffen gebildet. Das gleiche gilt für Mythen, Anekdoten und Metaphern: sie sind keine Begriffe, aber sie werden aus Begriffen gebildet.

Noch ein Versuch: Manche dieser narrativen Strukturen handeln von Gegenständen, die man auf andere Art und Weise nicht fassen kann. In der Regel großformatiges wie Gott, Welt, Leben et cetera. Aber es sind ja gerade unsere begrifflichen Fähigkeiten, die uns zu solchen ungeheuerlichen Begriffen führen! Ich wette, kein anderes Tier hat solche Begriffe. Wieso also Theorie der Unbegrifflichkeit? Weil wir diese Begriffe nicht definieren können? Wir können etliche Begriffen nicht definieren, daraus folgt nicht, dass sie Unbegriffe sind. Weil wir von diesen Groß-Gegenständen keine Anschauung haben? Es stimmt, dass wir keine Anschauung von der Welt - verstanden als Totalität - haben. Aber mit unseren begrifflichen Fähigkeiten, die bis an den Anfang des Universums reichen, versuchen wir dennoch uns einen Reim darauf zu machen ...

Noch ein Versuch: Gegenstand der Theorie der Unbegrifflichkeit ist der Mensch, insofern er versucht, sich selbst zu verstehen, sich selbst einen Ort in der Welt zu "geben". Der Mensch ist nicht nur einfach vorhanden, wie wir bei Heidegger gelesen haben, sondern er lebt sein Leben immer im Lichte seines Selbstverständnisses. Mythen gehören zu dieser Bestimmung. Dazu werden Bilder und Erzählungen aufgerufen... Solche Erzählungen können z.b. von thrakischen Mägden handeln oder Göttern. Mägde und Götter sind keine Begriffe. Aber das Leben ist auch gar kein Begriff und dennoch ist die Biologie keine Theorie der Unbegrifflichkeit ...

Noch ein Versuch: Gegenstand der Theorie der Unbegrifflichkeit ist dasjenige, wovon wir uns keinen Begriff machen können, z.b. die Welt. Das Problem: wir haben schließlich diesen Begriff!




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Friederike
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Fr 10. Jul 2020, 08:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 9. Jul 2020, 20:45
Friederike hat geschrieben :
Do 9. Jul 2020, 17:33
Einerseits ist die Metapher in der Lebenswelt (der Menschen) verankert, andererseits aber ist sie "heimatlos", weil die Lebenswelt vom Wunsch zur begrifflichen Eindeutigkeit geprägt ist.
Würdest du vielleicht zugestehen, dass die Kunst zur Lebenswelt gehört?

Mir ist jetzt nicht ganz klar, wieso jetzt plötzlich "die" Lebenswelt vom Wunsch nach begrifflicher Eindeutigkeit geprägt ist?
Ich habe es so wiedergegeben, wie ich Blumenberg verstand.




Nauplios
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Fr 10. Jul 2020, 08:55

Noch ein Versuch. - Nein, ich werde meinerseits keinen Versuch mehr unternehmen. Seit Tagen drehen wir nun - wie sagte Friederike - eine Runde nach der anderen. ;) Wir befinden uns in einer Zeitschleife, in der Friederike, Alethos und ich täglich "noch einen Versuch" machen, dich auf dem Wege des Erarbeitens und Verstehens schwieriger philosophischer Gedanken mitzunehmen, nachdem du deinen Unmut darüber, daß deine Einwände zu wenig berücksichtigt werden, lautstark mit der finalen Schließung dieses Ladens verbunden hast. - Nachdem du im Herbst letzten Jahres mehrfach deinen "Ausstieg" aus der Blumenberg-Diskussion bekanntgegeben hast ("Das lese ich nicht" > Die nackte Wahrheit) sind wir nun mit einem Sinneswandel konfrontiert, der uns darauf verpflichten will, gegen ein Urteil Revision zu erbitten, das sich nicht auf Begriffsstutzigkeit gründet, sondern auf Starrsinn. So kommt man nicht weiter. Und so kann man den Laden schließen. ;)

Um den Gedanken der Unbegrifflichkeit halbwegs nachvollziehen (ein "Kauf" ist damit noch nicht verbunden) zu können, ist es erforderlich, daß dieser Nachvollzug mit einem Nachgehen verbunden ist. Gehhilfen stellt die Sekundärliteratur, stellt das Internet zur Verfügung. So läßt sich eine erste Annäherung an die Unbegrifflichkeit mit zwei Mausklicks bewältigen. Man muß sich das nicht hier reinkopieren lassen. Davon abgesehen hilft eine solche Wörterbuch-Erklärung auch nicht recht weiter, weil sie das Erklärte nicht in Aktion zeigen kann. Die Junius-Einführung von Wetz ist eine ganz gelungene Annäherung, reicht aber für das, was jetzt zur Diskussion steht, nicht mehr hin. Man muß an die Quellen ran. Ad fontes! ;)

Wo das Urteil längst gesprochen ist ("Mogelpackung", "Werbung" "Reklame", "ermüdend", "das lese ich nicht" ...) wird es zur unendlichen Aufgabe, jemand auf einen Weg mitzunehmen, der diesen Weg gar nicht sieht. Ich sehe meinerseits keine Verpflichtung, auf "Argumente" einzugehen, deren Nährboden die Verweigerung ist. Was bliebe, wäre einzig, jedem deiner Versuche, welche die Wiederholung vergangener Versuche sind, unsere Versuche, welche eine Wiederholung vergangener Versuche wären, gegenüber zu stellen - ein ermüdendes Verfahren, bei dem am Ende der "siegt", der am längsten wach bleibt. - Ich muß nicht "siegen". Ich "verliere" gern. :) Denn jeder "Sieg" wäre ein Pyrrhussieg.

Ich steige also aus der Versuchsreihe aus und setze der Verweigerung eine Verweigerung gegenüber. Eine begrenzte Anzahl solcher Versuche ist sinnvoll, doch ist deren Grenze nun erreicht, weil ich kein Fortkommen auf dem Weg der Verständigung sehe. Über Blumenberg natürlich demnächst mehr. -




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Jörn Budesheim
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Fr 10. Jul 2020, 09:05

So sollten wir es machen. Wenn es nach ein paar Tagen nichts wird, steigen wir aus. So halten es die Philosophen seit über zweitausend Jahren. Sie fragen nach dem Menschen, nach der Welt, dem Sein, der Zeit ... und wenn die Frage-Runden nicht gleich etwas ergeben, dann wird die Sache schnell zu den Akten gelegt. An anderer Stelle fordert man zwar Geduld, aber nicht hier und jetzt.




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Jörn Budesheim
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Friederike hat geschrieben :
Fr 10. Jul 2020, 08:41
Ich habe es so wiedergegeben, wie ich Blumenberg verstand.
Jetzt fragt sich, wie viele verschiedene Verständnisse und Unverständnisse hier im Umlauf sind :-) Das wird man nicht rausfinden, wenn man nicht etwas bohrt.




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Sa 11. Jul 2020, 18:38

"Die folgenden Ausführungen [...] widmen sich der Frage, wie das Unsichtbare mit pikturalen Mitteln ins Bild gehoben werden kann. Die Arbeitshypothese lautet: Um das Unbegriffene zur Sprache zu bringen, bedarf es der Technik der Eloquenz, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, kommt die produktive Technik der Malerei zur Anwendung. Was dort mit rhetorisch-semiotischen Mitteln berechnend und/oder konjektural realisiert wird, wird hier mit Farb- und Raumkompositionen gestaltet. Vergleich und Verschränkung beider Verfahren versprechen einen kognitiven Gewinn. Ihr gemeinsamer Sockel ist Techne. Sie führt das Unbegriffene ins eloquenzvermittelte Begreifen, verbirgt und enthüllt das Unsichtbare im piktural vermittelten Sichtbaren. [...] Theologisch kodiert: Das fleischgewordene Wort (logos, verbum) macht das Unbegriffene, den leidenden Gott, 'begreiflich, macht das Unsichtbare, was 'kein Auge gesehen hat, kein Ohr gehört hat' (1 Kor. 3, 10) sichtbar. Vokalisch-konsonantisches Zur-Sprache-Bringen ist verschwiegen-eröffnende Eloquenz, pikturales Sichtbarmachen ist schweigendes Sichtbarmachen: muta eloquentia. Trotz Eloquenz und bildlicher Darstellung hält sich der Geheimnischarakter des Unsichtbaren durch, bleibt die Verrätselung des Unsichtbaren im Sichtbaren gewahrt." (Gonsalv K. Mainberger; Stumme Eloquenz und tropische Interaktion. Vergegenwärtigen des Abwesenden, Sichtbarmachen des Unsichtbaren: Hans Blumenberg vs. Philippe de Champaigne in: Unbegrifflichkeit: ein Paradigma der Moderne; S. 207) -

An vier Gemälden von Philippe de Champaigne entfaltet Mainburger seinen Vergleich. Es handelt sich um die beiden Portraits Ludwig des XIII. und des Kardinal Richelieus sowie um zwei Kreuzigungsszenen. - Ob Blumenberg diese Applikation seiner Theorie der Unbegrifflichkeit gutgeheißen hätte, sei dahingestellt. Jedenfalls hat sie Impulse für die Kunststheorie hinterlassen. -




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Sa 11. Jul 2020, 19:19

"Nehme ich an, Prosa sei die Sprachform, die der Musik am fernsten steht, so bemerke ich schon in dem oratorischen Vortrag [...] einen Anklang des Musikalischen, der durch verschiedene Stufen [...] immer stärker hervortritt, bis schließlich das Musikalische sich so stark entwickelt hat, daß die Sprache aufhört und alles Musik wird. Andererseits ist es so, daß ich bei einer Bewegung in entgegengesetzter Richtung wiederum auf Musik stoße, wenn ich nämlich von der vom Begriff durchdrungenen Prosa abwärts gehe, bis ich bei den Interjektionen lande, die wiederum musikalisch sind, so wie ja auch das erste Lallen des Kindes wiederum musikalisch ist. Was aber folgt nun daraus: daß ich überall, wo die Sprache aufhört, dem Musikalischen begegne. Dies ist wohl der vollkommenste Ausdruck dafür, daß die Musik überall die Sprache begrenzt." (Sören Kierkegaard, Entweder - Oder; S. 85ff) -

Stefan Metzger sieht in seinem Aufsatz Lebensklangwelten (in: Unbegrifflichkeit: ein Paradigma der Moderne; S. 225ff) in diesen Grenzüberschreitungen Kierkegaards einen "kardinalen Fall von Unbegrifflichkeit". "Sie wird zum Paradigma der Sinnlichkeit schlechthin, zum Medium des Sinnlich-Erotischen, das Kierkegaard dem Geist und seinem begrifflichen Denken der prosaischen Sprache entgegensetzt. [...] Daß der Musikdiskurs nicht zuletzt ein metaphorisches Modell für Unbegrifflichkeit ist, ist intuitiv ebenso klar wie als Leitfaden für eine Explikation des Begriffs der Unbegrifflichkeit ergiebig." (a.a.O. S. 226) -




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Sa 11. Jul 2020, 19:58

Noemi Kiss hat für die Aufsatzsammlung Unbegrifflichkeit: ein Paradigma der Moderne einen Beitrag beigesteuert, der sich mit Walter Benjamins Aufgabe des Übersetzers befaßt. Unter anderem geht es dabei auch um Benjamins Abhandlung Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, die wir vor einem Jahr gemeinsam besprochen haben: Sprache als Palimsest, hinter dem sich etwas verbirgt ... Sprachmagie ... Noemi Kiss rekonstruiert nun die Übersetzungstheorie als "reflexives Modell mit metaphorischer Funktion". (S. 15) -

Malerei - Musik - Poesie. An den drei Aufsätzen läßt sich exemplarisch zeigen, welches Anregungspotential die Theorie der Unbegrifflichkeit seit ihrem Erscheinen entwickelt hat. Gerade für die Ästhetik und Kunsttheorie und ihr Selbstverständnis ist dieses Potential noch nicht ausgeschöpft.




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Jörn Budesheim
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So 12. Jul 2020, 06:56

Stefan Metzger hat geschrieben : Sie wird zum Paradigma der Sinnlichkeit schlechthin, zum Medium des Sinnlich-Erotischen, das Kierkegaard dem Geist und seinem begrifflichen Denken der prosaischen Sprache entgegensetzt. [...] Daß der Musikdiskurs nicht zuletzt ein metaphorisches Modell für Unbegrifflichkeit ist, ist intuitiv ebenso klar wie als Leitfaden für eine Explikation des Begriffs der Unbegrifflichkeit ergiebig. [Hervorhebung von mir]
Das begriffliche Denken wird, soweit ich es verstanden habe, in der gesamten Einleitung mehr oder weniger der "prosaische Sprache" zugeschrieben. Und dann zeigt sich natürlich, das einiges, vielleicht fast alles, fehlt. Und das wird dann wohl unter dem Titel "der Unbegrifflichkeit" verhandelt. Damit ist jedoch die Entgegensetzung von Geist und Sinnlichkeit schon definitorisch akzeptiert.

Aber nicht nur unsere Sinne, sondern auch Gefühle und Emotionen sind ihrerseits begrifflich strukturiert. Wenn man das begriffliche Denken jedoch paradigmatisch an der "Klarheit" der formalen Logik oder der Mathematik misst, müssen einem natürlich diese Felder zwangsläufig als unklar und ihre Begriffe als "verworrene" erscheinen. Aber es gibt keinen Grund diese Voreinstellung zu akzeptieren. Und daher gibt es auch keinen Grund, Bereiche des Unbegreiflichen zu postulieren, um den unbestreitbar großen Wert des dort Betrachteten zu "retten" und in den Blick zu bekommen.




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Friederike
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So 12. Jul 2020, 14:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 12. Jul 2020, 06:56
Stefan Metzger hat geschrieben : Sie wird zum Paradigma der Sinnlichkeit schlechthin, zum Medium des Sinnlich-Erotischen, das Kierkegaard dem Geist und seinem begrifflichen Denken der prosaischen Sprache entgegensetzt. [...] Daß der Musikdiskurs nicht zuletzt ein metaphorisches Modell für Unbegrifflichkeit ist, ist intuitiv ebenso klar wie als Leitfaden für eine Explikation des Begriffs der Unbegrifflichkeit ergiebig. [Hervorhebung von mir]
Das begriffliche Denken wird, soweit ich es verstanden habe, in der gesamten Einleitung mehr oder weniger der "prosaische Sprache" zugeschrieben. Und dann zeigt sich natürlich, das einiges, vielleicht fast alles, fehlt. Und das wird dann wohl unter dem Titel "der Unbegrifflichkeit" verhandelt. Damit ist jedoch die Entgegensetzung von Geist und Sinnlichkeit schon definitorisch akzeptiert.

Aber nicht nur unsere Sinne, sondern auch Gefühle und Emotionen sind ihrerseits begrifflich strukturiert. Wenn man das begriffliche Denken jedoch paradigmatisch an der "Klarheit" der formalen Logik oder der Mathematik misst, müssen einem natürlich diese Felder zwangsläufig als unklar und ihre Begriffe als "verworrene" erscheinen. Aber es gibt keinen Grund diese Voreinstellung zu akzeptieren. Und daher gibt es auch keinen Grund, Bereiche des Unbegreiflichen zu postulieren, um den unbestreitbar großen Wert des dort Betrachteten zu "retten" und in den Blick zu bekommen.
Nauplios hat geschrieben : "Der Begriff gilt als ein Produkt der Vernunft, wenn nicht sogar ihr Triumph, und ist es wohl auch. Das läßt aber nicht die Umkehrung zu, Vernunft sei nur dort, wo es gelungen oder wenigstens angestrebt sei, die Wirklichkeit, das Leben oder das Sein - wie immer man die Totalität nennen will - auf den Begriff zu bringen. Es gibt keine Identität zwischen Vernunft und Begriff. Aber es wäre natürlich Unfug zu sagen, die Intention der Vernunft habe mit der Leistung des Begriffs nichts zu tun. [...] Der Begriff hat etwas zu tun mit der Abwesenheit seines Gegenstandes. Das kann auch heißen: mit dem Fehlen der abgeschlossenen Vorstellung des Gegenstandes. Dieses Verhältnis ist verglichen worden mit dem zwischen verschiedenen Sinnesorganen: das Sehen vertritt nur die Möglichkeit der Berührung, des Fühlens, damit des Besitzens. Die optische Präsenz nimmt die taktile vorweg, auch wenn sie sich ohne diese begnügt. Die Sichtbarkeit ist der Mangel der Fühlbarkeit wegen der Distanz zum Gegenstand. Stellt man sich vor, die Distanz würde weiter vergrößert - räumlich oder zeitlich - , so bleibt nur noch der Begriff, der seinerseits die ganze Skala der sinnlichen Erreichbarkeit vertritt." - (Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 9) -
Wenn ich die obige Stelle nehme, dann sind für Blumenberg Vernunft und Begriff zwar nicht identisch (soweit mit Metzger d'accord), entgegengesetzt sind sie allerdings nicht (entgegen Metzger). "Vernunft" bei Blumenberg lese ich synonym für "Geist" bei Metzger (und bei Dir @Jörn).

Außerdem finde ich, daß Blumenberg im zweiten Absatz die Beziehung des Begriffs zur Sinnlichkeit anschaulich erläutert. Der Begriff kompensiert die abwesende Sinnlichkeit. Wenn aber der Begriff das Produkt des Vernunft- oder des Geistesvermögens ist, so bestünde hier doch keine "Entgegensetzung des Geistes zur Sinnlichkeit". Das würde ich Dir einwenden @Jörn bzw. Deiner Antwort auf Metzger (wir hatten die Schwierigkeit schon einmal: X legt Blumenberg aus und wir legen Blumenberg durch X aus).

Wo sich nun allerdings die Metapher in dem Konzept von Vernunft, Begriff, Sinnlichkeit einordnet ... :lol:
Wie schriebst Du @Nauplios? Der Grenzfall zwischen Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit? Sagbarkeit und Unsagbarkeit? Also die Metapher als Übergang zur Ver-Sinnlichung?




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Friederike
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So 12. Jul 2020, 14:53

Nauplios hat geschrieben :
Do 9. Jul 2020, 20:08
Man muß diese Lebenswelt, die wir immer nur im Rücken haben, unterscheiden von der Welt als einem Begriff für die Totalität (aller Tatsachen, des Seins ... was auch immer). Der Zugang zur Lebenswelt über die Begriffssprache macht das Unsagbare heimatlos und damit auch die Metapher, welche dieses Unsagbare gleichsam auf eine spezifische Weise doch sagbar macht. Man hat dann zwei Pole, einerseits Begrifflichkeit, die Bedeutung eingrenzt (de-finiert), andererseits Ästhetik, die mit entgrenzter Vieldeutigkeit operiert. Dazwischen wird die Metapher als pragmatisch orientiertes Mittel kontrollierbarer Mehrdeutigkeit quasi aufgerieben. Es gibt dann nur noch methodisch vorgehende Wissenschaft und/oder entgrenzte Kunst. Die Metapher verliert ihren Ort, wird "heimatlos". Die Theorie der Unbegrifflichkeit ist nun der Rekonstruktionsversuch jener lebensweltlichen Horizonte, die der (wissenschaftlichen) Begrifflichkeit als Vor- oder Unbegrifflichkeit zugrundeliegen.
Gerade eben befiel mich die Erleuchtung ... ich glaube, für Blumenberg hat die Metapher (als Unbegriffliches) einen so hohen Stellenwert, weil er -befangen im wissenschaftlichen Diskurs- selbstverständlich und hauptsächlich die Verachtung, die Ablehnung der Metapher durch die Wissenschaftssprachen im Blick hat. Die Metapher gilt darin nichts. Aus diesem Grunde vor allem sortiert er die Metapher in einen Bereich, den er "Unbegrifflichkeit" nennt.

Zudem fällt mir beim Lesen auf -obwohl es Deine Zusammenfassung ist @Nauplios und kein Zitat von Blumenberg- daß Blumenberg, kann man das sagen? extremisiert (es sind ja nicht nur die 2 Pole, sondern die 2 Pole haben eine Mitte, deswegen finde ich "polarisiert" zu sagen nicht richtig). Und ich meine, es ist eine für ihn typische Schreibweise.




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Friederike hat geschrieben :
So 12. Jul 2020, 14:31

Wo sich nun allerdings die Metapher in dem Konzept von Vernunft, Begriff, Sinnlichkeit einordnet ... :lol:
Wie schriebst Du @Nauplios? Der Grenzfall zwischen Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit? Sagbarkeit und Unsagbarkeit? Also die Metapher als Übergang zur Ver-Sinnlichung?
In den Paradigmen differenziert Blumenberg den Mythos und die absolute Metapher: "Der Unterschied zwischen Mythos undˋabsoluter Metapher´ wäre hier nur ein genetischer: der Mythos trägt die Sanktion seiner uralt-unergründbaren Herkunft, seiner göttlichen oder inspierativen Verbürgtheit, während die Metapher durchaus als Fiktion auftreten darf und sich nur dadurch auszuweisen hat, daß sie eine Möglichkeit des Verstehens ablesbar macht." (S. 112) - In ihrer Funktion allerdings unterscheiden sich Mythos und Metapher nicht. Diese Funktion besteht darin, Fragen aufzugreifen, die sich der diskursiven Behandlung entziehen, Fragen die nicht beantwortet werden können, denen wir uns aber auch nicht verschließen können; also jenen Fragen, die wir als "im Daseinsgrund gestellte" vorfinden. Man sieht hier schon das anthropologische Interesse Blumenbergs, das die alten Fragen der Metaphysik in der Metaphorik erkennt. Vor allem in der Theorie der Unbegrifflichkeit findet sich diese anthropologische Imprägnierung von Blumenbergs Philosophie verstärkt. Es geht also nicht mehr - wie noch in den Paradigmen - schwerpunktmäßig um eine Betrachtung des Verhältnisses von Begriffsgeschichte und Metaphorologie, sondern der Schwerpunkt hat sich jetzt zugunsten anthropologischer Dispositionen verschoben: Wie bewältigt der Mensch sein Weltverhältnis, innerhalb dessen ihm Letztbegründungen verweigert und Einsicht in die Totalitäten wie Welt, Geschichte, Leben, Sein ... verwehrt sind? - Die neuzeitlichen Wissenschaften haben ihm die Wahrheit (s.o.), diesbezüglich nicht geliefert. Auch in den Wissenschaften sind Mythos und Metapher "am Werk". Der Mythos ist ja keineswegs eine durch den Logos überwundene Vorform (nach der Nestle´schen Formel Vom Mythos zum Logos) der Vernunft. Es gibt "keine Identität zwischen Vernunft und Begriff":

Denn der Mythos ist selbst "ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos", die "Grenzlinie zwischen Mythos und Logos" ist "imaginär". (Arbeit am Mythos; S. 18) -

Was sich dem Anspruch auf Letztbegründung nicht fügt, wird in Mythen und Metaphern dargestellt als Figurationen des Unbegrifflichen. Der Mensch bleibt in seinem Verstehen seiner Weltbeziehung auf die Arbeit am Mythos (und damit auch auf die Arbeit an den Metaphern) angewiesen, weil beide eine größere Reichweite in diesem Verstehensprozeß haben als Begriff und Theorie. -




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Friederike hat geschrieben :
So 12. Jul 2020, 14:53

Zudem fällt mir beim Lesen auf -obwohl es Deine Zusammenfassung ist @Nauplios und kein Zitat von Blumenberg- daß Blumenberg, kann man das sagen? extremisiert (es sind ja nicht nur die 2 Pole, sondern die 2 Pole haben eine Mitte, deswegen finde ich "polarisiert" zu sagen nicht richtig). Und ich meine, es ist eine für ihn typische Schreibweise.
Die Polarisierung, Friederike, die Du ansprichst, läßt sich als eine zwischen Philosophie und Rhetorik bis zu Platon zurückverfolgen. Man hat einerseits die Philosophie als ein Denken, das der Wahrheit verpflichtet ist und andererseits die Rhetorik, die aus dem Grunde beargwöhnt wird, weil sie sich in den Dienst der Sophistik stellt. Die Philosophie hat edle Motive, die Rhetorik hingegen stellt sich in den Dienst des meist Bietenden, unter Umständen auch der Lüge. Denn bei der Rhetorik kommt es ja nicht darauf an, daß sie Wahres vermittelt, sondern daß sie überredet, zu was auch immer.

Die Metapher ist so gesehen eine Frau mit Vergangenheit. Sie kommt aus einem Haus mit schlechtem Leumund. Während sich die Rhetorik als Zuhälterdienst erweist, leistet die Metapher als ihr bestes Pferd im Stall mit ihren herausgeputzten Reizen Liebesdienste an der Strenge des Begriffs. Wo dieser nicht mehr hinreicht, macht sich die Metapher mit kundigen Händen zu schaffen. Aber zur Wahrheit kann sie nichts beitragen. Sie kann die Präsentation des Wahren verschönern und Erfrischungen reichen ("Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand", schreibt Wittgenstein), ist zuständig für´s Dekor und Ornament. Sie kann die Wahrheit einkleiden, aber die "nackte" Wahrheit ist Sache der Philosophie, respektive der Wissenschaften. -

Es gibt also in der Philosophie eine Tradition, welche die Metapher verachtet. Philosophie soll ein Gewerbe sein, das ausschließlich mit Begriffen handelt (s. Descartes). Aber wie im ältesten Gewerbe auch ist dabei auf seiten der Verächter oft Scheinheiligkeit dabei. Platon und Descartes etwa gehen im Haus der Metapher ein und aus. Nie wieder hat ein Philosoph so viele Mythen benutzt wie Platon. Und der Metaphernkönig unter den Philosophen ist Descartes. Mit anderen Worten: hier stimmt was nicht. -

Diesen Unstimmigkeiten geht Blumenberg nach. Figurationen der Unbegrifflichkeit wie Mythos, Metapher, Anekdote ... finden sich in den Werken der Philosophen. Auch in den Wissenschaften. Den "hypothetischen Endzustand" der Philosophie rein aus Begriffen kann es nicht geben aus den oben angedeuteten anthropologischen Gründen. Philosophie und Rhetorik bilden ein Infizierungsgeschehen, bei dem eine "metaphernfreie" Herdenimmunität eine Illusion bleibt. Was damit auf gar keinen Fall gemeint ist, ist eine Abwertung bisheriger Philosophie oder Wissenschaft, auch keine Abwertung des daraus resultierenden technischen Wissens und seines Fortschritts. Es muß auch andererseits nichts vor einer "bösen" Begrifflichkeit "gerettet" werden. Solche Vorstellungen halten zur Blumenberg´schen Philosophie bestenfalls Wackelkontakte. Worum es wohl geht, sind die "großen" Fragen der Philosophie und wie sie behandelt werden, wie der Mensch überlebensfähig wird in einer Welt, in der theologisch ausgestaltete Instanzen nicht mehr die Wirklichkeit und die Wahrheit verbürgen, sondern in welcher der Mensch sich behaupten muß ohne Heilsgewißheiten, aber auch ohne, daß die Wissenschaften "die Wahrheit" ihm zuführen konnten. Das ist die historische Dimension dieser Philosophie. Das Weltverhältnis ist die anthropologische Dimension. - Es geht also in keiner Weise darum, irgendetwas gegen irgendetwas anderes auszuspielen, wohl aber, um Unterscheidungen und ihre Geschichte, wie etwa jene von Begriff und Metapher, Philosophie und Rhetorik usw. - Insofern ist mit "Polarisierung" jetzt nicht "Kampf der Kulturen" o.ä. gemeint. -




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