Aspekte der Unbegrifflichkeit

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 19:37

Goldstein berichtet nun von einer Tagung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Juni 1958. Auf dieser Tagung stellt Blumenberg auf Einladung von Hans-Georg Gadamer seine Überlegungen zur Metaphorologie vor. Hier fällt ein Satz, der für unsere Diskussion der absoluten Metapher wichtig ist: "Die deutsche Entsprechung zu Metapher ist Übertragung, nicht Bild." (Blumenberg)

"Jede übertragene Redeweise stellt für Blumenberg eine Metapher dar, auch wenn sie sich keines Bildes bedient. Daher untersucht er auch Metaphern, die das landläufige Verständnis nicht als solche versteht. ˋDie Geschichte´ im Singular ist eine solche Metapher: ˋWir wissen, was eine erzählte Geschichte ist. Aber wir wissen nicht, was es bedeutet, daß wir eine Gesamtheit möglicher Geschichten unter einem schwer bestimmbaren Auswahlprinzip ˋdie Geschichte´ nennen können ... Der Singular von Geschichte ist selbst eine absolute Metapher´ führt Blumenberg als ein Beispiel aus. Die Rede von ˋder Wahrheit´ fährt er fort, ˋist selbst schon metaphorische Redeweise, nämlich translatio vom Prädikat ins Subjekt´. [...] Derartige Totalitäten wie ˋdas Leben´, ˋdie Welt´, ˋdas Sein´ stellen für Blumenberg übertragene Redeweisen dar, die rational nicht adäquat einholbar sind. Sie sind metaphorisch, ohne im herkömmlichen Sinne ein rhetorisches Ornament in der Rede mit Hilfe bildlicher Veranschaulichung zu sein. Zwar kann eine Metapher bildhaft sein, sie muß es aber nicht." (S. 186) -

Blumenberg fragt vorrangig nach der verborgenen Metaphorik. "Auch die Metapher ist vernünftig, so wie der Mythos ˋein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos´ ist." (Goldstein; S. 187) "Metaphorische Verhältnisse können sogar ˋkaschiert´ werden, wenn ihre Unentdecktheit erwünscht ist." (S. 187) - Diese Verborgenheit der Metapher nennt Blumenberg auch den "impliziten Gebrauch einer Metapher" bzw. "Hintergrundmetaphorik". -




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Alethos
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Di 14. Jul 2020, 19:40

Ich geniesse diesen Thread. Die Lektüre ist enorm lehrreich. Vielen Dank, Nauplios, für das Zitieren und Exemplifizieren!

Und wisse, auch wenn es so scheinen mag, als wäre ich unbeteiligt: Du betreibst einen Monolog, aber kein Soliloquium. 🙂



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Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 19:43

Ich sehe gerade Deine Salve von "Likes", Alethos. ;) Vielen Dank für dieses Wohlwollen.




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Jörn Budesheim
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Di 14. Jul 2020, 19:50

Dann ist jetzt also, falls dieser Autor Recht hat, die Frage nach der Metapher "Sein" beantwortet. (Erstaunlich, dass sie nicht für Wert befunden wurde, beantwortet zu werden.) Damit ist allerdings ein Ergebnis eines früheren Threads in Frage gestellt, dort hieß es nämlich vereinfacht, dass die Leistung der Metapher darin bestünde, Anschaulichkeit zu liefern, wo sie fehlt. Was leisten dann Metaphern wie Sein oder Wahrheit?




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Jörn Budesheim
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Di 14. Jul 2020, 19:56

"Auch die Metapher ist vernünftig, so wie der Mythos ˋein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos´ ist."
Damit wird die Rede von der Unbegrifflichkeit natürlich noch mysteriöser ...




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Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 20:35

Die Frage nach der Metapher "Sein" wurde von Friederike, Alethos und mir gleich mehrfach beantwortet, u.a. mit dem Hinweis auf jene "Hintergrundmetaphorik", die auch Jürgen Goldstein aufführt. Diese Antworten wurden nur nicht als Antworten akzeptiert. Das Leben, die Welt, das Sein ... "stellen für Blumenberg übertragene Redeweisen dar, die rational nicht adäquat einholbar sind. [...] Zwar kann eine Metapher bildhaft sein, sie muß es aber nicht ..." (Goldstein) - Die Anschaulichkeit der Metaphorik ist auf subtile Weise gegeben, indem diese Totalitäten sich vor einem Hintergrund bewegen (Stichwort: Metakinetik) wie Licht, Organismus, Bühne, Theater, Fortschritt ... Diese Hinweise wurden mehrfach unter Hinweis auf die "Hintergrundmetaphorik" gegeben.

"Metaphorische Verhältnisse (!) können sogar ˋkaschiert´ werden, wenn ihre Unentdecktheit gewünscht ist. Ging es bei der klassischen Rhetorik um die Vordergründigkeit der Metapher, steht bei einer Metaphorologie oftmals der ˋimplizite Gebrauch einer Metapher´ im Zentrum der Aufmerksamkeit: Blumenberg sucht über die ˋHintergrundmetaphorik´ aufzuklären." (Goldstein; S. 187)

Daß Metaphern Anschaulichkeit liefern ist kein Widerspruch zu ihrer Hintergrundfunktion, bei deren Erfüllung ihre Anschaulichkeit "verborgen" bleibt. Das eine ist die Vordergründigkeit der Metapher, ihr expliziter Gebrauch; das andere ist die Hintergründigkeit der Metapher, ihr impliziter Gebrauch.

Was fängst Du nun mit dieser Erläuterung an, Jörn, wo es sich doch hier um eine "Mogelpackung" handelt? Sie hilft dann so wenig weiter wie frühere Erläuterungen. Wir könnten wieder an den Anfang zurückgehen und nach der Klarheit und Deutlichkeit des Begriffs fragen: Stimmt das überhaupt, daß Descartes das so gemeint hat? - Wir können den kompletten Weg erneut gehen. Alles wieder auf Anfang. Aus diesem Karussellfahren bin ich - wie gesagt - ausgestiegen. Wenn man keinen Unterschied zwischen Begriff und Metapher in ihrer "Struktur" machen will, wird man die Grundgedanken der Metaphorologie nicht erfassen können. - (Würde ich den Gedanken eines "Sinnfeldes" in dem Moment ablehnen, in dem das Wort zum ersten Mal auftaucht, würde mir der Klappentext von Fiktionen reichen zu einem abschließenden Urteil.) -




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Jörn Budesheim
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Di 14. Jul 2020, 20:50

Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 20:35
Wir können den kompletten Weg erneut gehen.
Das wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit. Wobei wir es diesmal so machen müssten, dass grundsätzlich alle Fragen und Einwände erlaubt sind und man ernsthaft versucht, sie zu beantworten. Und wenn wir dann für zwei Seiten ein halbes Jahr brauchen, dann ist es eben so.




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Alethos
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Di 14. Jul 2020, 21:33

Dann fangen wir an, aber nicht bei Descartes, sondern beim Mythos.

Als die Welt noch keine deutlichen Begriffe hatte, als wir es nicht vermochten, die Wirklichkeit in ihrer Differenziertheit deutlich zu machen, haben wir sie uns mit Mythen erklärt. Götter standen für Affektionen, Triebe, die göttliche Ordnung bot ein Gefüge, in das sich die Menschen sinnhaft verorten konnten. Die Welt war zu dieser Zeit im Grunde nur durch die Optik eines grossen kosmischen Schauspiels, also vor der Folie von Bildnissen und Gleichnissen, denk- und erklärbar. Das Welträtsel war nicht minder ein Bilderrätsel, das eidos stand vor dem einai resp. hatte das Seiende eine ausgeprägt eidetische Dimension. Das Seiende war repräsentiert nicht durch Begriffe, sondern durch die Dramaturgie der die Wirklichkeit darstellenden Figuren, Bilder, Vorstellungen.

Von den klaren Begriffen, wie sie sich Descartes als distinkte und klare vorstellte, waren wir noch weit weg und doch war mit den Eleaten der Weg vom Mythos zum Logos vorgezeichnet, denn sie warfen die Frage nach dem Sein und dem Nichts auf. Das Nichts vom Sein zu unterscheiden, das müssen wir als erste Bilderkritik deuten, als erste Regung hin zu einer Hinterfragung der Bilder auf ihre Scheinhaftigkeit. Die Eleaten befragten die Natur, das Wesen des Seins und des Nichts, und versuchten damit, die Ontologie vor den Schein zu stellen, der durch die Bilder und Gleichnisse immer schon durchschien.

Am Anfang der Philosophie, wie wir
sie kennen, standen demnach Bilder und keine Begriffe. Erst durch die Naturbefragung bildeten wir Begriffe aus, mit denen wir die Welt, wie sie ist, zu begreifen versuchten. Diese Begriffe, die wir entwickelten, entstanden also im
Dunstkreis unseres Unvermögens zur reinen Begrifflichkeit resp. unseres Vermögens, das Unsagbare irgendwie, wenn auch in übertragenem Sinn, zu sagen.

Erst vor diesem historischen Hintergrund können wir die Begriffsgeschichte deuten als den Versuch, den Schleier der Wahrheit zu lüften, was so viel bedeuten muss, wie die Begriffe von ihrem Schein zu befreien. Klare und distinkte Begriffe sind nun eben keine scheinenden Begriffe.

Und die Metaphorologie sagt im Grunde, zugespitzt formuliert, dass die Begriffe ihren Schein gar nie verloren haben. Dass die in ihnen festgelegten Definitionen, die fines, ihre Bedeutungsgrenzen keine klaren und distinkten sind, sondern dass auf dem Grund unseres begrifflich strukturierten Weltverständnisses immer noch ein unbegriffliches Moment wirksam ist.



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Nauplios
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Di 14. Jul 2020, 23:37

In der Sache selbst spricht nichts gegen einen Reset. Jedoch spricht alles gegen meine erneute Teilnahme daran. Das mehrmalige Befassen mit den Blumenberg´schen Paradigmen vertieft zweifellos das Textverständnis, es sei denn, dieses Befassen geschähe dauerhaft unbeschwert von eigener Lektüre. - Was den Halbjahresplan angeht, so gebe ich im Hinblick auf das Thema "Mythos" nur zu bedenken, daß sich die Arbeit am Mythos auf 700 Seiten erstreckt, mithin bei zwei Seiten pro Halbjahr 175 Jahre dauert. Das kann Blumenberg mit Arbeit am Mythos nicht gemeint haben! Und nach einem Neuen Realismus hört sich das auch nicht an. Eher nach einer Fiktion. -

Kurzum: Jörn sollte den Reset-Knopf drücken und dann in eigener Regie die Sache der Metaphorologie, des Mythos oder was auch immer voranbringen, verbunden mit einem Hygiene-Konzept, das vor der Infektion mit Doubletten und Piaffen schützt. Mich wandelt eh die Lust zu einem Geländeritt durch die Literatur an, verlockt durch Friederikes Ausflug zu den "Literaturwissenschaftler*innen".




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Friederike
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Mi 15. Jul 2020, 18:11

Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 18:16
Du hast eine Art Ausfransung dieser Ränder im Sinn, Friederike, eine Unschärfe des Begriffs?
Ich werde darauf zurückkommen @Nauplios, nur heute nicht mehr.




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Friederike
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Do 16. Jul 2020, 13:50

Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 18:16
Du hast eine Art Ausfransung dieser Ränder im Sinn, Friederike, eine Unschärfe des Begriffs?

Ja, das ist durchaus möglich, daß Begriffe "Fallen" sind, die nicht die robuste Statik einer völlig eindeutigen Definition haben. Was als finis des Bereichs angesetzt wird, den eine Definition umgrenzt, ist nicht immer so scharf umrissen wie in diesem Beispiel: "Gelb ist eine Farbe, die wahrgenommen wird, wenn Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der Wellenlängen zwischen 565 und 575 Nanometer dominieren." - Das ist schon eine recht exakte Eingrenzung mit stabilen numerischen Grenzen und man kann dann noch genauer eingrenzen und von Zitronengelb und Goldgelb u.ä. sprechen ... und auch das "Dominieren" noch näher bestimmen. -
Der Ausgangspunkt sind diese 2 Aussagen von Blumenberg gewesen:
Blumenberg hat geschrieben : [...] "Das Unbegriffliche kann das noch nicht Begriffene sein, das diesem aber als Ausgangspunkt oder gleichsam als Reservoir der Begriffsbildung dient. Es kann aber auch der Fall eintreten, ˋdaß die Arbeit im Vorfeld des Begriffs nicht zu ihrem Ziel gelangt.´ Das Unbegriffene bliebe unbegriffen, ohne daß wir auf einen Umgang mit ihm verzichten könnten". (Goldstein, S. 181, dabei Blumenberg zitierend) -
Weil ich mir unter dem "Unbegrifflichen" keine konkrekte Situation habe vorstellen können, wie ich mir dieses "noch nicht" oder die "Vorfeld-Arbeit" im/am Unbegrifflichen anschaulich verständlich machen könnte, habe ich den Weg über den Begriff genommen. Der Begriff muß einen "Spielraum" (diesen Ausdruck hattest Du oder Blumenberg öfter benutzt) haben, sofern er seinen Zweck erfüllen können soll. Wenn ich Dich richtig verstehe, dann demonstriert Dein Beispiel die Verengung eines Begriffes zur Definition.

Meine Idee bezog hingegen bezog sich auf die äußere Grenze. "Unschärfe", "Ausfransung", ja, schon, aber das ist auch, so wie Dich verstehe, die Unterscheidung des Begriffs von der Definition. Ich denke zudem statischer, sehe die Grenze eher als scharfen Rand. An einer bestimmten Stelle faßt der Begriff nicht mehr. Haus, kleines Haus, Häuschen usw. und dann die Hütte. Eine Hütte ist aber kein Haus und auch kein Häuschen (die unterschiedlichen Baumaterialien, vielleicht das fehlende Fundament, die Stabilität). Der Bereich zwischen dem Haus und der Hütte bleibt unbegriffen, unbegrifflich. Das heißt, mit jedem Begriff wird eigentlich zwangsläufig ein Bereich des Unbegrifflichen geschaffen, nämlich das, was nicht unter den Begriff fällt. Bezogen auf Blumenberg, kann ich mir nun besser vorstellen, was er meinen könnte mit dem "noch nicht Begriffenen".




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Friederike
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Do 16. Jul 2020, 15:14

Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 18:16
Was als finis des Bereichs angesetzt wird, den eine Definition umgrenzt, ist nicht immer so scharf umrissen wie in diesem Beispiel: "Gelb ist eine Farbe, die wahrgenommen wird, wenn Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der Wellenlängen zwischen 565 und 575 Nanometer dominieren." - Das ist schon eine recht exakte Eingrenzung mit stabilen numerischen Grenzen und man kann dann noch genauer eingrenzen und von Zitronengelb und Goldgelb u.ä. sprechen ... und auch das "Dominieren" noch näher bestimmen. -
Was die "Arbeit im Vorfeld eines Begriffs, die nicht zum Ziele gelangt" (Blumenberg) angeht, so tappe ich immer noch im Dustern. Wenn ich Deine Annäherung zu einer Definitionsbildung einfach durch Annäherung an eine Begriffsbildung ersetze, dann wäre dies immerhin ein mir vorstellbares Beispiel. Aber so vollzieht sich der Begriffsbildungprozeß in der Regel doch nicht (ausgenommen der wissenschaftliche Bereich). Eher habe ich ein Bild der Art "und die Erde war wüst und leer" (das Unbegriffliche) und dann fängt der Mensch an, ein bißchen Ordnung zu schaffen, indem er Begriffe bildet. Warum sollte das einmal nicht zum Ziele führen?!




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Nauplios
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Do 16. Jul 2020, 23:44

Friederike hat geschrieben :
Do 16. Jul 2020, 15:14
Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 18:16
Was als finis des Bereichs angesetzt wird, den eine Definition umgrenzt, ist nicht immer so scharf umrissen wie in diesem Beispiel: "Gelb ist eine Farbe, die wahrgenommen wird, wenn Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der Wellenlängen zwischen 565 und 575 Nanometer dominieren." - Das ist schon eine recht exakte Eingrenzung mit stabilen numerischen Grenzen und man kann dann noch genauer eingrenzen und von Zitronengelb und Goldgelb u.ä. sprechen ... und auch das "Dominieren" noch näher bestimmen. -
Was die "Arbeit im Vorfeld eines Begriffs, die nicht zum Ziele gelangt" (Blumenberg) angeht, so tappe ich immer noch im Dustern. Wenn ich Deine Annäherung zu einer Definitionsbildung einfach durch Annäherung an eine Begriffsbildung ersetze, dann wäre dies immerhin ein mir vorstellbares Beispiel. Aber so vollzieht sich der Begriffsbildungprozeß in der Regel doch nicht (ausgenommen der wissenschaftliche Bereich). Eher habe ich ein Bild der Art "und die Erde war wüst und leer" (das Unbegriffliche) und dann fängt der Mensch an, ein bißchen Ordnung zu schaffen, indem er Begriffe bildet. Warum sollte das einmal nicht zum Ziele führen?!
Ich muß gestehen, Friederike, daß mich das jetzt recht ratlos zurückläßt. - "Warum sollte das einmal nicht zum Ziele führen?!" - Hat es denn bei den Begriffen "Welt", "Geschichte", "Sein" ... zum Ziel geführt? - Es geht doch genau darum, daß diese Begriffe eben nicht auf eine Weise definiert werden können wie zum Beispiel die Farbe "Gelb". - "Gelb ist eine Farbe, die wahrgenommen wird, wenn Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der Wellenlängen zwischen 565 und 575 Nanometer dominieren." - Das ist die erstbeste Definition, die man bei "Wikipedia" findet. Und jetzt versuchen wir das mal bei dem Begriff "Sein": "Sein ist ..... ????????" -

DESWEGEN greift Heidegger doch zur Hintergrund-Metaphorik des Lichts.

"Die Erde war wüst und leer" (das Unbegriffliche)????

Metapher, Mythos, Anekdote .... das sind Kandidaten für das Unbegriffliche bei Blumenberg. Eine Metapher kann man nicht definieren. Den Begriff "Metapher" kann man definieren: "Eine Metapher ist eine Übertragung von .... " (Aristoteles) Aber die Metapher selbst (Beispiel: das Leben ist eine Seefahrt) - LEBT ja geradezu davon, daß sie nicht definierbar, d.h. wörtlich: begrenzbar, ist. Spielraum haben beide, Begriff und Metapher. Aber der Begriff "zielt" auf möglichst genaue Eingrenzung, Definition, siehe das Beispiel "Gelb". Blumenberg bringt in dem Zusammenhang kuriose Beispiele, die das Ringen um Definition, um Eingrenzung zeigen:

"Zigaretten sind Tabakerzeugnisse, die aus einem umhüllten Feinschnittstrang bestehen. Tabakerzeugnisse mit einem Strang aus anderem Tabak als Feinschnitt gelten als Zigaretten, wenn 1. die äußere Hülle aus anderen Stoffen als Rohtabak besteht oder 2. das Stückgewicht unter 2,3 gr. liegt und der Tabakstrang mit einer äußeren Hülle aus Tabakfolie so umhüllt ist, daß die Naht der Tabakfolie parallel zur Längsachse des Tabakstrangs verläuft. Zigarren sind Tabakerzeugnisse aus anderem Tabak als Feinschnitt mit einem Umblatt aus einem aus Tabak bestehenden Deckblatt oder nur mit einem solchen Deckblatt. Besteht das Deckblatt aus Tabakfolie, so sind die Erzeugnisse nur dann Zigarren, wenn sie nicht als Zigaretten gelten." (Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes; Art.1, § 2) - (Zit. nach Blumenberg; Theorie der Unbegrifflichkeit; S. 36) -

Das ist nun eine Definition. Eine bemüht genaue Definition. Ihr Spielraum darf in diesem Fall nicht sehr groß sein, weil sie Grundlage eines Gesetzestextes ist. Juristen müssen die Dinge immer möglichst genau wissen, weil es ansonsten Klagen geben könnte, dahingehend, was als Zigaretten, was als Zigarren zu behandeln, zu versteuern, zu verzollen usw. ist. -

Erwartest Du denn jetzt eine solch juristisch wasserdichte Definition vom Sein, Friederike??? -

Letzter Versuch: Stelle Dir einen Baum vor: 100 Jahre alt. Was sieht man dann? - Einen Stamm, viele Äste, nochmehr Zweige, ganz viele Blätter. - Was sieht man nicht? - Die Wurzeln. Das Wurzelwerk ist dem Blick entzogen. Aber es ist denn noch da. Es gehört zum Baum.

Blumenberg spricht ja dezidiert von der "Nährlösung". Das ist das "Vorfeld", der Untergrund, der "Nährboden", die "Nährlösung", die "absolute Metapher", das "Unbegriffliche", das "Narrative" ... hier, im Wurzelwerk des Begriffs, im Vorbegrifflichen, im Unterbegrifflichen, im Unbegrifflichen, im Nicht-Begrifflichen ... bewohnen Metaphern, Mythen, Anekdoten das Wurzelwerk des Begriffs. Hier entstehen die Vorab-Orientierungen, die Leitvorstellungen, die narrativen Anreicherungen, die lebensweltlichen Leitfäden ... all das ist das Unterirdische, das den Begriff formiert, ihn wachsen läßt, so daß eines Tages daraus dann der Begriff geworden ist, ein wunderschöner, stattlicher Begriff (der Baum), herrlich gewachsen und exakt definierbar, so wie die Zigaretten im Tabaksteuergesetz. - Und dann kann man sich doch vielleicht auch vorstellen, daß da ein kümmerliches Bäumchen, kaum als solches zu erkennen gekommen ist, bei dem man kaum erkennen kann, daß es überhaupt ein Baum sein soll. Man sieht zwar was, aber eben nichts Genaues, nichts Handfestes ...Es gibt doch Redewendungen wie: "Nix Genaues weiß man nicht" ... oder: "Was ist das denn für ein undefinierbares Zeug?"

Ein solches "undefinierbares Zeug" ist das Sein. Da gehört dann schon reichlich Vorstellungsvermögen dazu, um das noch als Baum erkennen zu können. Und an der Stelle hat die Metapher ihren großen Auftritt. Indem sie die Bedeutung aus einem Bereich in den anderen überträgt, hilft sie dem Vorstellungsbemühungen auf die Sprünge. Jetzt heißt es auf einmal: "Das Leben ist eine Seefahrt." - "Im Lichte des Seins ... " - Aha, das Sein leuchtet also ... nein, das Sein kann ja nicht leuchten, sonst würde man daraus Lampen machen. Es ist metaphorisch gemeint. Im Übertragenen Sinne. Bildlich. Das Leben ist ja auch nicht wirklich eine Seefahrt. Sonst würden wir ja ganz häufig nasse Füße haben. Man vergleicht das Leben mit einer Seefahrt, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß das Leben eben stürmisch bewegt ist ... man sagt zum Beispiel: "Beruflich ist bei mir gerade eine Flaute" ... oder "Max ist am Wochenende in den Hafen der Ehe eingelaufen". - Max ist aber kein Schiff. Mit der Metapher will man etwas zum Ausdruck bringen.

Nun kann man natürlich sagen: "Man kann doch auch sagen: Max hat am Wochenende geheiratet. Dann ist doch die Metapher futsch, oder nicht?" - Ja, dann ist die Metapher futsch. Aber der Bedeutungsumfang ist auch futsch. Denn "In den Hafen der Ehe auslaufen" beinhaltet doch auch: Max lebt jetzt in soliden Verhältnissen. Er geht nicht mehr jedes Wochenende in die Disco. Er trinkt nicht mehr Unmengen von Alkohol. Er hat jetzt eine Beziehung, die auf Dauer angelegt ist. Er hat keine One-Night-Stands mehr. Er kommt morgens dadurch auch besser aus dem Bett. Sein Chef ist deshalb mit ihm viel zufriedener. Er hat jetzt eine Frau, die sich um ihn kümmert. Er geht früher ins Bett. Er hängt nicht jede freie Stunde mit seinen Kumpels ab. Er trägt jetzt mehr Verantwortung. Er hat sein Leben geändert. Kurzum: ER IST IN DEN HAFEN DER EHE EINGELAUFEN. - Und dennoch ist Max kein immer noch kein Schiff. Wenn man stattdessen sagt: "Max hat geheiratet", dann heißt das: Er war mit seiner Frau auf dem Standesamt. Dort hat er etwas unterschrieben. Jetzt ist er in einer anderen Steuerklasse." - Siehst Du diesen Unterschied, Friederike? -

Und dennoch könnte man sich ja vorstellen, daß die Mutter von Max im Supermarkt an der Kasse eine ehemalige Schulfreundin trifft. Die beiden unterhalten sich. Mütter unterhalten sich gerne über ihre Kinder. Die ehemalige Schulfreundin kennt Max noch aus der wilden Zeit der Discobesuche. Und nun sagt die Max-Mutter: "Soll ich dir mal was, sagen, Elfriede? Du wirst es nicht glauben, aber Max hat am Wochenende GE-HEI-RA-TET!" Dabei schaut sie Elfriede mit hochgezogenen Augenbrauen und einem sehr zufriedenen Lächeln an. - Elfriede kriegt den Mund nicht wieder zu. "NEIN!- WIRKLICH?" - Es ist gut möglich, daß die Metapher vom "Hafen der Ehe" im Hintergrund in diesem Beispiel doch am Werk war! Als Hintergrundmetaphorik, obwohl die Max-Mutter gar keine Metapher benutzt hat!

Hans Blumenberg würde sich bei meinen Erklärungsversuchen im Grabe - so er denn eines hätte - umdrehen. Es ist ein völlig unzureichender Versuch meinerseits, nochmals zu erklären, was mit Metapher IN ETWA gemeint ist.

Wenn man jetzt gar keinen Unterschied machen will zwischen Begriff und Metapher, dann ist das für mich auch völlig in Ordnung. Wenn man sich strikt weigert, diese Unterscheidung nachzuvollziehen, kann man die Metaphorologie vergessen, bevor man überhaupt angefangen hat. Wie gesagt, das ist völlig in Ordnung. Nur bei BLUMENBERG kommt man mit seinem Verständnis dann keinen Deut mehr weiter. -




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Friederike hat geschrieben :
Do 16. Jul 2020, 13:50
Nauplios hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 18:16
Du hast eine Art Ausfransung dieser Ränder im Sinn, Friederike, eine Unschärfe des Begriffs?

Ja, das ist durchaus möglich, daß Begriffe "Fallen" sind, die nicht die robuste Statik einer völlig eindeutigen Definition haben. Was als finis des Bereichs angesetzt wird, den eine Definition umgrenzt, ist nicht immer so scharf umrissen wie in diesem Beispiel: "Gelb ist eine Farbe, die wahrgenommen wird, wenn Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der Wellenlängen zwischen 565 und 575 Nanometer dominieren." - Das ist schon eine recht exakte Eingrenzung mit stabilen numerischen Grenzen und man kann dann noch genauer eingrenzen und von Zitronengelb und Goldgelb u.ä. sprechen ... und auch das "Dominieren" noch näher bestimmen. -
Der Ausgangspunkt sind diese 2 Aussagen von Blumenberg gewesen:
Blumenberg hat geschrieben : [...] "Das Unbegriffliche kann das noch nicht Begriffene sein, das diesem aber als Ausgangspunkt oder gleichsam als Reservoir der Begriffsbildung dient. Es kann aber auch der Fall eintreten, ˋdaß die Arbeit im Vorfeld des Begriffs nicht zu ihrem Ziel gelangt.´ Das Unbegriffene bliebe unbegriffen, ohne daß wir auf einen Umgang mit ihm verzichten könnten". (Goldstein, S. 181, dabei Blumenberg zitierend) -
Weil ich mir unter dem "Unbegrifflichen" keine konkrekte Situation habe vorstellen können, wie ich mir dieses "noch nicht" oder die "Vorfeld-Arbeit" im/am Unbegrifflichen anschaulich verständlich machen könnte, habe ich den Weg über den Begriff genommen. Der Begriff muß einen "Spielraum" (diesen Ausdruck hattest Du oder Blumenberg öfter benutzt) haben, sofern er seinen Zweck erfüllen können soll. Wenn ich Dich richtig verstehe, dann demonstriert Dein Beispiel die Verengung eines Begriffes zur Definition.

Meine Idee bezog hingegen bezog sich auf die äußere Grenze. "Unschärfe", "Ausfransung", ja, schon, aber das ist auch, so wie Dich verstehe, die Unterscheidung des Begriffs von der Definition. Ich denke zudem statischer, sehe die Grenze eher als scharfen Rand. An einer bestimmten Stelle faßt der Begriff nicht mehr. Haus, kleines Haus, Häuschen usw. und dann die Hütte. Eine Hütte ist aber kein Haus und auch kein Häuschen (die unterschiedlichen Baumaterialien, vielleicht das fehlende Fundament, die Stabilität). Der Bereich zwischen dem Haus und der Hütte bleibt unbegriffen, unbegrifflich. Das heißt, mit jedem Begriff wird eigentlich zwangsläufig ein Bereich des Unbegrifflichen geschaffen, nämlich das, was nicht unter den Begriff fällt. Bezogen auf Blumenberg, kann ich mir nun besser vorstellen, was er meinen könnte mit dem "noch nicht Begriffenen".
"Unterscheidung des Begriffs von der Definition"???

Das Unbegriffliche eine "konkrete Situation"???

Die "Verengung eines Begriffs zur Definition"???

"Ich denke statischer"???

"Mit jedem Begriff wird eigentlich zwangsläufig ein Bereich des Unbegrifflichen geschaffen, nämlich das, was nicht unter den Begriff fällt."???

Ich bin nicht nur ratlos bei diesen Sätzen. Ich bin perplex. :lol:




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Jörn Budesheim
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Fr 17. Jul 2020, 05:56

Nauplios hat geschrieben :
Do 16. Jul 2020, 23:44
"Gelb ist eine Farbe, die wahrgenommen wird, wenn Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der Wellenlängen zwischen 565 und 575 Nanometer dominieren."
Nauplios hat geschrieben :
Do 16. Jul 2020, 23:44
"Sein ist ..... ????????"
Wenn man es bei der Definition von Gelb nicht so genau nimmt und einfach das erstbeste nimmt, was bei Wikipedia steht, warum macht man es sich dann nicht auch beim Begriff Sein einfach? "Sein ist einfach die substantivierte Form des Verbes 'ist'. Mehr ist da nicht zu holen." Das ist ganz sicher eine Ansicht, die vertreten wurde. Auch für "Welt" gibt es handliche Definitionen einige davon sind sogar ziemlich berühmt: "die Welt ist alles, was der Fall ist." Man kann es sich z.b. auch bei Wasser einfach machen und behaupten, es sei H2O. Aber auch das stimmt nicht so ohne weiteres, wie die philosophische Forschung erwiesen hat.

Kurz: dass es irgendwo irgendwelche Definitionsangebote gibt, heißt erstmal nicht viel.




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Fr 17. Jul 2020, 07:19

Sein ist die substantivierte Form des Verbums "ist", Friederike. ;)

Oder ist es die substantivierte Form des Verbums "bin"? - Oder ist es nicht doch die substantivierte Form des Verbums "sind"? - Hm ... Oder muß es heißen: "Sein ist die substantivierte Form des Verbums "sein"? - Das kann auf gar keinen Fall sein. Das würde ja bedeuten: Sein ist sein. :o

Ich befürchte, jetzt kann uns nur noch einer weiterhelfen: Heidegger. :lol:

Aber mal abgesehen davon: "Die Welt ist alles, was der Fall ist". Die Geschichte ist alles, was geschehen ist. Das Leben ist alles, was zwischen Geburt und Tod geschieht. Die Gesellschaft ist die Anzahl aller Menschen. Die Wahrheit ist alles, was stimmt. Das Sein ist alles, was ist. Das Sein ist alles, was IST?? Na bitte, dann kommt ja Jörns Definition doch hin! ;)

Ein großer Philosoph hat mal gesagt: Das Leben kann so einfach sein. ;)




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Jörn Budesheim
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Fr 17. Jul 2020, 07:40

Du hast es vielleicht nicht genau verstanden: diese Definition von Sein ist vielleicht ebensolcher Humbug wie die Definition von Gelb. Es hat keinen Sinn kurz bei Wikipedia nachzuschauen und dann zu behaupten, es gäbe eine definite Definition von Gelb. Das etwas behauptet wird, heißt schließlich nicht, dass es angemessen ist.

Die Definition: die Welt ist alles was der Fall ist, ist keineswegs von mir. Der Herr heißt Wittgenstein. Welchen Sinn hat es, so zu tun, als hätte man davon nie gehört? Wenn man behauptet, Begriffe wie "Welt" ließen sich nicht definieren während einer der einflussreichsten Philosophen des letzten Jahrhunderts etwas entsprechendes vorgelegt hat, bietet es sich da nicht an, da mal kurz drüber nachzudenken?

Und die entsprechenden Einwände zu den heideggerschen Versuchen zum Begriff "Sein" gehören eben auch zur Wirkungsgeschichte. Welche Teile der Wirkungsgeschichte möchte man denn in den Blick nehmen? Nur die Genehmen?




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Nauplios
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Fr 17. Jul 2020, 08:30

Gelb ist die Farbe, die eine Ampel zwischen Grün und Rot anzeigt. ;)

Wie gesagt, man muß die Unterscheidung von Begriff und Metapher nicht akzeptieren. Wenn man eine Philosophie allerdings verstehen will, dann gibt es zum Versuch, sie nachzuvollziehen wenig Alternativen. Dieses Nachvollziehen geht - in der Regel - mit "Schmerzen" einher, die damit verbunden sind, bisheriges Verständnis für die Dauer des Nachvollziehens einzuklammern. Dieses "bisherige Verständnis" kann das Alltagsverständnis sein, es kann auch das Verständnis sein, was man bei der Lektüre eines anderen Philosophen gewonnen hat.

Das Ganze hat nur einen Haken: Wenn man beispielsweise sagt: Die Welt ist alles, was der Fall ist und darauf beharrt, dann macht man es sich besonders schwer mit dem Verstehen eines Philosophen wie Gabriel, der uns erklärt, warum es die Welt nicht gibt. Umgekehrt wird man unter der Voraussetzung, daß es die Welt nicht gibt, von der Lektüre von Schopenhauer' s "Welt als Wille und Vorstellung" nicht viel haben. Man wird dann auf Schritt und Tritt einwenden können: "Das ist doch Quatsch! Wie soll denn die Welt irgendetwas sein? Die gibt es doch gar nicht!" - Noch bevor man das Werk Schopenhauers überhaupt aufgeschlagen hat, kann man es wieder ins Regal zurückstellen - unter "Q". Q wie Quatsch.

Vergleicht man diesen (und andere Blumenberg-Threads) mit dem Gabriel-Thread, dann fällt auf, daß der Gabriel-Thread über Fiktionen sehr stark vom Bemühen um Nachvollzug geprägt ist. Das wird er von meiner Seite auch bleiben. Ich möchte verstehen, was Markus Gabriel über Fiktionen zu sagen hat. Zu diesem Zweck gehe ich seinen Gedankengang nach. Ich klammere mein Verständnis von Sein, von Kunst, von Interpretation usw. bis auf weiteres ein. So kann ich ihn mit Gewinn lesen. Bis auf weiteres - das heißt, mein Vorverständnis wird nicht gelöscht, meine Ansicht zu dem Gelesenen wird zunächst mal nicht zur Diskussion gestellt, denn es geht doch nicht darum, daß ich der Welt gegenüber demonstriere, daß ich alles besser weiß als Gabriel, sondern darum, daß ich ihn überhaupt erst mal verstehe. Natürlich könnte ich nach 150 Seiten auch jetzt schon meine Einwände vorbringen. Schon nach 15 Seiten. Aber ich will ja nicht nur 15 oder 150 Seiten verstehen, sondern 500. Meine Einwände kann ich nach Beendigung der Lektüre aller 500 Seiten immer noch vorbringen. Und wenn mir etwas unklar ist, frag' ich einfach Jörn. Der kann auf mehr Leseerfahrung zurückgreifen, hat "Sinn und Existenz" gelesen und kennt sich mit der SFO aus. -

Nicht so in den Blumenberg-Threads. Das ist schade.
Zuletzt geändert von Nauplios am Fr 17. Jul 2020, 08:38, insgesamt 3-mal geändert.




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Fr 17. Jul 2020, 08:34

Dann laß uns über Wittgenstein schreiben oder über Heidegger, Jörn. Dagegen spricht nichts.




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Alethos hat geschrieben :
Di 14. Jul 2020, 19:40
Ich geniesse diesen Thread. Die Lektüre ist enorm lehrreich. Vielen Dank, Nauplios, für das Zitieren und Exemplifizieren!
Nichts zu danken, Alethos. Und Dank ebenso an Friederike für das beipflichtende "Like". ;)




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